VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 11.05.2015 - 2 B 13/15 - asyl.net: M23495
https://www.asyl.net/rsdb/M23495
Leitsatz:

Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Bescheids des Bundesamtes, wenn dieses einen Asylantrag als Zweitantrag ansieht und seine Prüfung auf das Vorliegen der Wiederaufnahmegründe beschränkt, wenn nicht feststeht, ob das zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingeleitete Asylverfahren erfolglos abgeschlossen wurde. Die pauschale und nicht auf tatsächliche Ermittlungsergebnisse gestützte Annahme des Bundesamtes, dass im Falle einer Ausreise aus einem Mitgliedstaat, in dem ein Asyl(Erst)Antrag gestellt wurde, stets ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens im Sinne des § 71a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vorliege, ist mit europarechtlichen Vorgaben nicht zu vereinbaren.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Zweitantrag, Wiederaufnahme, Wiederaufnahmegründe, Asylverfahren, aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt, vorläufiger Rechtsschutz, Rücknahme, Nichtbetreiben des Verfahrens, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylVfG § 71a Abs. 1 S. 1, RL 2013/32/EU Art. 28 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 18, VO 604/2013 Art. 18 UAbs. 2,
Auszüge:

[...]

Der nach § 80 Abs. 5 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylVfG zulässige Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage 2 A 40/15 gegen die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamtes vom 23. Februar 2015 anzuordnen, hat Erfolg.

Gemäß § 71a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG darf die Aussetzung der Abschiebung dann, wenn - wie hier - ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Dies ist hier der Fall.

Die Antragsgegnerin war nicht befugt, den Asylantrag der Antragsteller als Zweitantrag nach § 71a AsylVfG zu werten und die Prüfung auf das Vorliegen von Wiederaufnahmegründen zu beschränken. § 71a Abs. 1 AsylVfG bestimmt, dass für den Fall, dass ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor - liegen. Ausgangspunkt der Prüfung des § 71a AsylVfG ist dabei die Frage, ob überhaupt ein Zeitantrag vorliegt. Eine solche Prüfung beinhaltet auch, dass das Bundesamt Kenntnis von den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedstaat hat (vgl. Marx, AsylVfG, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 71a Rn. 17). [...]

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin kann auch nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass der Asylbewerber durch die Ausreise aus dem ersten für die Prüfung seines Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat seinen ersten Asylantrag konkludent zurückgenommen hat. Es ist eine andere Frage, ob das jeweilige nationale Verfahrensrecht Rechtsfolgen an ein regelmäßiges Nichtbetreiben des Verfahrens knüpft (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.01.2015 – A 11 S 2508/14 –; VG Osnabrück, Beschl. v. 24.04.2015 - 2 B 125/15 - jeweils zit. n. Juris).

Die Antragsgegnerin kann sich in diesem Zusammenhang auch nicht erfolgreich auf den im streitgegenständlichen Bescheid erwähnten Art. 28 der Richtlinie 2013/32/EU des Rates vom 29. Juni 2013 (Verfahrensrichtlinie; VRL) berufen. Nach Art. 28 Abs. 1 VRL stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Asylbehörde die Antragsprüfung entweder einstellt oder den Antrag als unbegründet ablehnt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass ein Antragsteller seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt. Von einer stillschweigenden Rücknahme kann dabei u.a. ausgegangen werden, wenn der Antragsteller untergetaucht ist oder seinen Aufenthaltsort ohne Genehmigung verlassen hat (Art. 28 Abs. 1 UA 2b VRL). Nach Art. 28 Abs. 2 VRL haben die Mitgliedstaaten allerdings sicher zu stellen, dass ein Antragsteller, der sich nach Einstellung der Antragsprüfung nach Absatz 1 wieder bei der zuständigen Behörde meldet, berechtigt ist, um die Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht nach Maßgabe der Art. 40 (Folgeantrag) und 41 geprüft wird. Eine ähnliche Regelung enthält auch Art. 18 der Verordnung 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin III- VO). Nach Art. 18 Absatz 2 UA 2 Dublin III-VO stellt der für den (Erst)Antrag zuständige Mitgliedstaat sicher, dass die Prüfung des Antrages abgeschlossen wird, oder ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt werden kann, der nicht als Folgeantrag im Sinne der Verfahrensrichtlinie behandelt wird, wenn der Antragsteller den Antrag zurückgezogen hat, bevor eine Entscheidung in der Sache in erster Instanz ergangen ist. Gemäß § 18 Abs. 1 c) Dublin III-VO gilt dies auch für den Fall, dass ein Antragsteller sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhält, also - wie vorliegend die Antragsteller - in einen anderen Mitgliedstaat reist, ohne dass das dort anhängige Verfahren abgeschlossen ist.

Mit diesen europarechtlichen Vorgaben ist die Annahme der Antragsgegnerin, dass im Falle einer Ausreise aus einem Mitgliedstaat, in dem ein Asyl(Erst)Antrag gestellt wurde, stets ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Sinne des § 71a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vorliege, nicht vereinbar. Denn die dargestellten europarechtlichen Vorschriften verlangen ausdrücklich, dass ein Antragsteller die Möglichkeit hat, sein im ursprünglichen Mitgliedstaat eingeleitetes Verfahren fortzuführen, auch wenn er zwischenzeitlich in einen anderen Mitgliedstaat gereist ist. Darüber hinaus verkennt die Antragsgegnerin, dass Art. 28 Abs. 1 VRL bereits im Ausgangspunkt von einer abschließenden Entscheidung einer mitgliedstaatlichen Behörde ausgeht; das Vorliegen einer solchen Entscheidung lässt sich hier jedoch gerade nicht feststellen. [...]

Auch der Umstand, dass vorliegend ein sog. Eurodac-Treffer der Kategorie 1 im Sinne des Art. 1 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 407/2002 des Rates vom 28. Februar 2002 (Eurodac DurchführungsVO) vorliegt, belegt nur, dass ein Asylantrag in einem bestimmten sicheren Drittstaat gestellt wurde. Ob und wie das Asylverfahren beendet wurde, ergibt sich daraus nicht (vgl. VG München, Urt. v. 16.12.2014 - M 24 K 14.30795 u.a., zit. n. Juris; VG Osnabrück, Beschl. v. 24.04.2015 - 2 B 125/15 - a.a.O.).

Wenn die Antragsgegnerin vorliegend selbst davon ausgeht, dass sie aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls - die Antragsteller haben ihre Asyl(Erst)Anträge in unterschiedlichen Mitgliedstaaten gestellt, können aber aufgrund ihrer gemeinsamen Kinder nicht in verschieden Staaten zurückgeführt werden - für die Prüfung zuständig geworden ist, übernimmt sie das Verfahren in dem Stadium, in dem es sich zum Zeitpunkt der Übernahme befindet. Ist ihr der aktuelle Stand des Verfahrens in dem anderen Mitgliedstaat oder ggf. in anderen Mitgliedstaaten nicht bekannt, muss sie diesbezüglich zunächst weitere Ermittlungen anstellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.02.2015 - 1 B 2/15 -, zit. n. Juris; VG Osnabrück, Beschl. v. 24.04.2015- 2 B 125/15 -, a.a.O.). Kommt sie dabei zu der gesicherten Erkenntnis, dass das Asyl(Erst)verfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde, kann sie den in der Bundesrepublik gestellten Asylantrag als Zweitantrag prüfen und sich dabei inhaltlich auf das Vorliegen von Wiederaufnahmegründen beschränken. Stellt sich demgegenüber im Rahmen der Ermittlungen heraus, dass das Asylbegehren im ersten Mitgliedstaat erfolgreich war, hat sie festzustellen, dass den Antragstellern in der Bundesrepublik kein Asylrecht zusteht (§§ 31 Abs. 4, 26a AsylVfG). Ergeben die Ermittlungen, dass in dem anderen Mitgliedstaat noch keine Entscheidung in der Sache ergangen ist, oder kann die Antragsgegnerin trotz aller ihr möglichen und zumutbaren Ermittlungen keine gesicherten Erkenntnisse über den Ausgang des Erstverfahrens erlangen, muss sie den Antragstellern entsprechend den dargestellten europarechtlichen Vorgaben die Möglichkeit einräumen, das Verfahren fortzuführen, ohne dass es als Folge- bzw. Zweitantrag behandelt wird (vgl. Art. 28 Abs. 2 VRL und Art. 18 UAbs. 2 Dublin III-VO); sie hat den Antrag also als Erstantrag zu prüfen und zu bescheiden (vgl. Marx, AsylVfG, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 71a Rn. 17). Durch diese Vorgehensweise wird auch gewährleistet, dass in jedem Fall die umfassende Prüfung des (Erst)Antrags durchgeführt und beendet wird. Zugleich wird dabei der Vorgabe des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO Rechnung getragen, dass ein (Erst)Antrag nur von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird (vgl. dazu auch EuGH, Urt. v. 06.06.2013, Rs. C-648/11 -, Rn. 65 und BVerwG, Urt. v. 17.06.2014 – 10 C 7/13 –, jeweils zit. n. Juris). [...]