BlueSky

VG Ansbach

Merkliste
Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 21.12.2015 - 3 K 15.50498 - asyl.net: M23543
https://www.asyl.net/rsdb/M23543
Leitsatz:

Flüchtig im Sinne der Dublin-Verordnung ist eine Person bereits dann, wenn sie sich ihrer Überstellung durch Nichterscheinen entzieht.

Auch wenn die Inhaftierungsregelungen und -praxis in Ungarn in der Rechtsprechung zur Annahme systemischer Mängel führen, besteht die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bei einer Rücküberstellung nach Ungarn nicht, wenn die Person aus einem anerkennungsträchtigen Herkunftsland kommt, da Menschen aus anerkennungsträchtigen Herkunftsländern deutlich seltener mit der Anwendung von Asylhaft rechnen müssen. Es gibt dennoch keine generelle Regelung in Ungarn, wonach Dublin-Rückkehrer je nach Herkunftsland von der Anwendung von Asylhaft ausgenommen sind.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Ungarn, Kirchenasyl. Überstellungsfrist, flüchtig, systemische Mängel, Inhaftierung, Asylhaft, Dublin-Rückkehrer,
Normen: AsylG § 27a, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 UAbs. 1, 604/2013 Art. 29 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Denn Ungarn ist nach § 27a AsylG, Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig. Dies hat Ungarn mit Schreiben vom 15. Oktober 2015 gegenüber der Beklagten erklärt.

Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Unterabsatz 1 Dublin III-VO ist noch nicht abgelaufen, so dass die Überstellung nach Ungarn noch erfolgen kann. Das Gericht vertritt die Auffassung, dass die Frist im vorliegenden Fall wegen der Inanspruchnahme von Kirchenasyl durch die Klägerin seitens der Beklagten verlängert werden kann, Art. 29 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO.

Denn ein Ausländer ist bereits dann flüchtig, wenn er sich seiner Überstellung durch sein Nichterscheinen entzieht. In einem solchen Fall hat nicht der Mitgliedstaat, sondern der Asylbewerber den Ablauf der Frist zu vertreten (VG Regensburg, U. v. 20.2.2015 - RN 3 K 14.50264, juris Rn. 54; VG Magdeburg, U. v. 11.12.2014 - 1 B 1196/14, juris). [...]

Zum 1. Juli 2013 wurde das Asylsystem Ungarns zwar dahingehend verändert, als erneut weitgehende Inhaftierungsgründe für Asylbewerber geschaffen wurden. Diese Rechtsänderungen wurden hinsichtlich der Unbestimmtheit der Haftgründe sowie hinsichtlich der unzureichenden Rechtsbehelfe gegen die Inhaftierung verschiedentlich kritisiert (vgl. Bericht des Hungarian Hel-sinki Commiittees a.a.O.; Ungarn Länderbericht des AIDA a.a.O.; UNHCR vom 9.5.2014 a.a.O.). Die genannten Berichte beruhen allerdings im Wesentlichen auf einer Auswertung der geänderten Rechtslage selbst, während Erkenntnisse zur konkreten Handhabung nicht verlässlich vorliegen. Es zu konstatieren, dass der UNHCR - abgesehen von seiner Stellungnahme vom 9. Mai 2014 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf - bislang keine generellen Feststellungen zum Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Ungarn getroffen und auch keine generelle Empfehlung ausgesprochen hat, im Rahmen des Dublin-Verfahrens Asylbewerber nicht nach Ungarn zu überstellen (vgl. VG Würzburg, Beschluss vom 25.8.2014 - W 6 S 14.50100 - juris). Unter Berücksichtigung der besonderen Relevanz des durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragenen Amtes des UNHCR für die Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrens (vgl. EuGH, Urteil vom 30.5.2013 - C 528/11 - NVwZ-RR 2013, 660), kommt dem Fehlen einer solchen generellen Empfehlung des UNHCR besondere Bedeutung zu. Der Auffassung, die z. B. das Verwaltungsgericht des Saarlandes im Beschluss vom 7. August 2015 (3 L 672/15, juris Rn. 20) vertritt (so auch VG Köln, U. v. 11.9.2015 - 18 K 3279/15.A, juris und VG Bremen, B. v. 1.4.2015 - 3 V 145/15, juris), wonach Äußerungen der Pressesprecherin des UNHCR zu entnehmen sei, dass der UNHCR über die fremdenfeindliche Gesinnung der ungarischen Regierung besorgt sei und dass diese Äußerungen wegen der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden sei, bei der Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrens besonders zu beachten seien, schließt sich das Gericht nicht an. Abzustellen ist vielmehr auf Empfehlungen des UNHCR zur Beachtung der Aufnahme- und Verfahrensregelungen der Dublin-Verordnungen bei der Umsetzung in nationales Recht (so auch VG Stade, B. v. 4.11.2015 - 1 B 1749/15, juris). Diese gab der UNHCR erst jüngst z.B. zu den Verhältnissen für Asylsuchende in Tschechien ab (siehe hierzu FAZ vom 27.10.2015: UN werfen Tschechien menschenunwürdiges Verhalten vor; Tagesspiegel vom 22.10.2015: UN: Tschechien inhaftiert Flüchtlinge "systematisch"). An einer solchen Empfehlung zu Ungarn fehlt es bislang, wie auch das VG des Saarlandes (a. a. O.) selbst feststellt, obwohl Ungarn in den letzten Monaten in seiner Bedeutung als Transitland stark im Fokus der Öffentlichkeit stand.

Auch wenn die Inhaftierungsregelungen und -praxis in Ungarn in der Rechtsprechung zur Annahme systemischer Mängel führen (vgl. VG München, U. v. 23.9.2014 - M 24 K 13.31329 -; VG Sigmaringen, B. v. 22.4.2014 - A 5 K 972/14 - juris; VG München, B. v. 26.6.2014 - M 24 S 14.50325; VG Düsseldorf, B. v. 27.8.2014 - 14 L 1786/14.A - VG Düsseldorf, B. v. 16.6.2014 - 13 L 141/14.A - jeweils juris; VG Münster, B. v. 7.7.2015 - 2 L 858/15.A; VG München, B. v. 5.3.2015 - M 15 S 15.50160 - juris; VG Berlin, B. v. 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - juris; VG Bremen, B. v. 1.4.2015 - 3 V 145/15 - juris; VG Köln, U.v. 11.9.2015 - 18 K 3279/; VG Oldenburg, U. v. 2.11.2015 - 12 A 2572/15 - juris; VG Augsburg, B. v. 23.10.2015 - Au 5 S 15.50405 - bislang nicht veröffentlicht), ist nach Überzeugung des Gerichts für den hier vorliegenden Einzelfall nicht die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bei einer Rücküberstellung nach Ungarn zu befürchten. Zwar sind Dublin-Rückkehrer häufiger von Asylhaft betroffen als Ersteinreisende. Ausweislich einer Erklärung des Direktors des ungarischen Asyldirektorates gegenüber dem Liaisonmitarbeiter des Bundesamtes in Budapest im September 2013 werden Asylantragsteller aus sogenannten anerkennungsträchtigen Herkunftsländern aber regelmäßig weder in Asylhaft noch in Abschiebehaft genommen (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 2.9.2014 - 6 L 1235/14.A - juris). Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. September 2015 an das Verwaltungsgericht Magdeburg gibt es zwar keine generelle Regelung (mehr), wonach Dublin-Rückkehrer je nach Herkunftsland von der Anwendung von Asylhaft ausgenommen sind. Die Zahlen lassen aber den Rückschluss darauf zu, dass Menschen aus anerkennungsträchtigen Herkunftsländern deutlich seltener mit der Anwendung von Asylhaft rechnen müssen. Im Zeitraum 1. Januar 2015 bis 30. Juni 2015 wurden nach den Angaben des Auswärtigen Amtes 492 Personen in Asylhaft genommen, das sind 0,7% aller Asylantragssteller. Asylhaft wird nur nach Einzelfallprüfung und dann angeordnet, wenn kein milderes Mittel möglich ist.

Die Haftplätze waren im September 2015 nicht alle belegt, was trotz der hohen Flüchtlingszahlen für einen maßvollen Umgang der ungarischen Behörden mit dem Instrument der Asylhaft spricht. Inhaftiert werden nach dieser Auskunft nur Männer. Entgegenstehende Erkenntnisse liegen derzeit nicht vor. Auch der UNHCR kann derzeit keine verlässlichen Angaben über den Umgang mit Asylantragstellern im Dublin-Verfahren in Ungarn machen.

Den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen lässt sich nicht entnehmen, dass die Haftbedingungen an sich menschenunwürdig im oben dargelegten Sinn wären und es dort systematisch zu Menschenrechtsverletzungen kommen würde. Darauf, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-GRCh bzw. des Art. 3 EMRK kommen kann und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war, kommt es im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO nicht an (BVerwG, B. v. 6.6.2014 a.a.O.). [...]