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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 20.10.2015 - 19 C 15.820 (= ASYLMAGAZIN 3/2016, S. 92 ff.) - asyl.net: M23559
https://www.asyl.net/rsdb/M23559
Leitsatz:

Die Vorschrift des § 1600 I Nr. 5 BGB ist durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden und der Gesetzgeber hat die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts auf Möglichkeiten einer verfassungsgemäßen Neuregelung nicht aufgegriffen. Bei dieser Rechtslage verschaffen Vaterschaftsanerkennungen Deutscher auch dann dem ausländischen Kind die deutsche Staatsangehörigkeit und seiner ebenfalls ausländischen Mutter einen Aufenthaltstitel, wenn die Anerkennung ausschließlich zu aufenthaltsrechtlichen Zwecken erfolgt ist. Auch die Bestimmung des § 27 Ia Nr. 1 AufenthG bietet hiergegen keine Handhabe.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: deutsches Kind, Vaterschaftsanerkennung, Aufenthaltstitel, Prozesskostenhilfe, deutsche Staatsangehörigkeit, Bundesverfassungsgericht, Nichtigkeit,
Normen: BGB § 1600 Abs. 1 Nr. 5, AufenthG § 27 Abs. 1a Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung, der Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis an die Klägerin (vietnamesische Staatsangehörige), für deren im Jahr 2006 geborenes Kind ein deutscher Staatsangehöriger die Vaterschaft anerkannt hat, stehe die Bestimmung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG entgegen (Ablehnung des Familiennachzugs, wenn feststeht, dass die Ehe oder das Verwandtschaftsverhältnis ausschließlich zu dem Zweck geschlossen oder begründet worden sind, dem Nachziehenden die Einreise in das und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen). Nach Auffassung des Senats ist die Bestimmung jedoch nicht anwendbar. Angesichts dessen kommt es nicht mehr darauf an, ob die Überzeugungsbildung der Beklagten und des Verwaltungsgerichts dem erhöhten Überzeugungsmaßstab für das Vorliegen des Versagungsgrundes genügt, dessen Beachtung die Bestimmung mit der Formulierung "feststehen" fordert.

Die Anerkennung der Vaterschaft für das Kind einer unverheirateten ausländischen Mutter ohne gesicherten Aufenthalt durch einen Deutschen - mit der Wirkung, dass das Kind deutscher Staatsangehöriger wird - findet in der Bestimmung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG keine Erwähnung. Die Bestimmung befasst sich nach ihrem Wortlaut nicht mit jedwedem aufenthaltsrechtlichen Missbrauch von Familienrechtsinstituten, sondern betrifft Ehen und Verwandtschaftsverhältnisse, durch die Nachziehenden grundsätzlich die Einreise in das und der Aufenthalt im Bundesgebiet ermöglicht wird. Sie regelt Ausnahmefälle, in denen der Nachzug nicht erlaubt wird. Vorliegend wird der Nachziehenden (der Klägerin) der Aufenthalt im Bundesgebiet jedoch nicht durch eine Ehe und auch nicht - jedenfalls nicht unmittelbar - durch die Anerkennung ihres Kindes seitens eines deutschen Staatsangehörigen ermöglicht, sondern durch die Tatsache der deutschen Staatsangehörigkeit ihres Kindes, deren aufenthaltsrechtliche Wirkungen - anders als es bei den aufenthaltsrechtlichen Wirkungen von Ehe und Verwandtschaft der Fall ist - vom Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft o.ä. nicht abhängen. Der vorliegende Fall wird somit von der Bestimmung nicht erfasst. Dieses Ergebnis wird durch die Begründung des Entwurfs des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970, mit Wirkung vom 28.8.2007) bestätigt, durch das der Absatz 1a in die Bestimmung des § 27 AufenthG eingefügt worden ist. Die Entwurfsbegründung erwähnt lediglich die Zweckehe und die Zweckadoption als Ziel der Neuregelung, nicht aber eine "Zweckanerkennung" (BT-Drs. 16/5065 S. 170). Das Verwaltungsgericht stützt seine gegenteilige Auffassung zwar auf entsprechende Ausführungen im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. März 2008 (7 A 11276/07 - AuAS 2008,194, juris Rn. 28 ff.); auch diese sind jedoch nicht überzeugend. Die Entscheidung vom 6. März 2008 nimmt Bezug auf die Hinweise des Bundesministerium des Inneren vom 2. Oktober 2007 zum Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 (BMI-Hinweise). Diese gehen zwar davon aus, die Neuregelung erfasse auch missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen (S. 47/48 Rn. 183), begründen diese Auffassung jedoch nicht anhand des Gesetzes. Den Ausführungen unter Rn. 184 der BMI-Hinweise ist zu entnehmen, dass die in Rn. 183 geäußerte Auffassung in Zusammenhang mit dem Umstand steht, dass sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2007 der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur behördlichen Anfechtung von Scheinvaterschaften bereits im Gesetzgebungsverfahren befunden hat (Gesetz v. 13.3.2008, BGBl I S. 313, m.W. v. 1.6.2008). Diese Überschneidung rechtfertigt jedoch keine Auslegung des § 27 Abs. 1a AufenthG über den klaren Wortlaut hinaus. Sie spricht eher gegen eine solche erweiternde Auslegung, weil es bei deren Richtigkeit nicht erforderlich gewesen wäre, eine behördliche Anfechtung der Vaterschaft zu ermöglichen (vgl. OVG NRW, U. v. 23.8.2012 - 18 A 537/11 - InfAuslR 2013, 23, juris Rn. 49 ff.). Im Übrigen besteht der genannte Zusammenhang nicht mehr, so dass es nunmehr an jeglicher Grundlage für die in Rn. 183 der BMI-Hinweise geäußerte Auffassung fehlt. Die am 1. Juni 2008 in Kraft getretene Bestimmung des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB betreffend eine behördliche Anfechtung von Vaterschaften ist durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2013 (1 BvL 6/10 - BGBl 2014 I S. 110) für nichtig erklärt worden. Weiterhin stützt sich die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz auf eine entsprechende Äußerung in der Darstellung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2007 von Breitkreutz/Franßen-de la Cerda/Hübner (ZAR 2007,381). Jedoch wird auch hier die Auffassung, Vaterschaftsanerkennungen unterfielen der Regelung des § 27 Abs. 1a AufenthG, auf den von den BMI-Hinweisen angenommenen Zusammenhang gestützt (Fußnote 2 zu ZAR 2007,381), der jedenfalls jetzt nicht mehr besteht.

Schließlich wäre die Bestimmung des § 27 Abs. 1a AufenthG vorliegend selbst dann unanwendbar, wenn sie die vom Verwaltungsgericht angenommene Bedeutung hätte. Das am 6. September 2006 geborene Kind der Klägerin ist aufgrund der Vaterschaftsanerkennung durch einen deutschen Staatsangehörigen selbst deutscher Staatsangehöriger. Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 8. März 2011 in der Sache "Zambrano" (C-34/09) erwächst den drittstaatsangehörigen Eltern eines minderjährigen Kindes, das - wie im Falle eines deutschen Kindes - Unionsbürger ist, aus dessen Unionsbürgerschaft ein Aufenthaltsrecht (ohne dass vom Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht worden sein muss), weil im Falle der Verweigerung eines solchen Aufenthaltsrechts im Wohnsitzmitgliedstaat des Kindes dem Kind der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt würde (dasselbe gilt für die Verweigerung einer Arbeitserlaubnis, die zur Unterhaltssicherung erforderlich ist). Die Grundsätze dieser Entscheidung sind auf den vorliegenden Fall anwendbar, weil die Klägerin Inhaberin der Personensorge für das Kind ist und zwischen diesem und dem deutschen Staatsangehörigen, der die Vaterschaft anerkannt hat, keine familiären Beziehungen bestehen, die nach Art und Umfang geeignet sind, die Sorge und Betreuung durch die Mutter zu ersetzen und dadurch den faktischen Zwang zur Ausreise (auch) des Kindes zu beseitigen. In seiner Entscheidung vom 6. März 2008 (a.a.O.) hat auch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz die Zwangslage erkannt, die für das Kind im Falle einer Aufenthaltsbeendigung der Mutter entstehen würde. In Unkenntnis der erst am 8. März 2011 ergangenen Entscheidung "Zambrano", die in einem solchen Fall die Erteilung eines Aufenthaltsrechts fordert, hat es jedoch eine Duldung der Mutter zur Vermeidung dieser Zwangslage als ausreichend angesehen (juris Rn. 36 ff.).

Dreh- und Angelpunkt des Aufenthaltsanspruchs der Klägerin ist somit die deutsche Staatsangehörigkeit ihres Kindes. Die Beklagte hat deshalb zunächst eine behördliche Anfechtung der Vaterschaftsanerkennung beabsichtigt. Bis zum bereits erwähnten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2013, durch den die Bestimmung des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB wegen einer zu weiten Fassung des Tatbestandes für nichtig erklärt und somit die Möglichkeit einer behördlichen Vaterschaftsanfechtung beseitigt worden ist, ist eine Vaterschaftsanfechtung jedoch nicht erfolgt. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seinem Beschluss darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber für Vaterschaftsanerkennungen, die gerade auf die Erlangung aufenthaltsrechtlicher Vorteile zielen, die Möglichkeit einer Behördenanfechtung vorsehen kann (Rn. 47 bis 51) und der Freistaat Bayern hat beantragt, der Bundesrat möge einen entsprechenden Gesetzentwurf beschließen (BR-Drs. 330/14 vom 13.7.2014). Der Bundesrat hat jedoch am 19. September 2014 beschlossen, einen solchen Gesetzentwurf nicht beim Deutschen Bundestag einzubringen. Die Bundesratsmehrheit ist dabei einer zuvor abgegebenen Stellungnahme der Bundesratsvertretung des Landes Sachsen-Anhalt gefolgt, der zufolge ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht besteht, weil die im Jahr 2008 eingeführte behördliche Vaterschaftsanfechtung in der Praxis nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt habe (Protokoll der 925. Bundesratssitzung, S. 285,302 ff.). Auf die Fragen, ob die Ausländerbehörden in den einschlägigen Fällen andere Wege gegangen sind (etwa den in Nr. 183 der BMI-Hinweise genannten) und ob Fallzahlen aus Zeiträumen, in denen mit einer Behördenanfechtung missbräuchlicher Vaterschaftsanerkennungen gerechnet werden muss, für eine Abschätzung derjenigen Fallzahlen geeignet sind, zu denen es nach der Beseitigung dieser Anfechtungsmöglichkeit kommt, geht die Stellungnahme des Landes Sachsen-Anhalt nicht ein. Sie befasst sich auch nicht mit dem im Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft vom 8. November 2006 angegebenen Umfang des Bereichs, in dem missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen durch Deutsche stattfinden können. Dem Gesetzentwurf zufolge erhielten zwischen dem 1. April 2003 und dem 31. März 2004 insgesamt 1694 unverheiratete ausländische Mütter eines deutschen Kindes, die im Zeitpunkt der Vaterschaftsanerkennung ausreisepflichtig waren, aufgrund der Vaterschaftsanerkennung einen Aufenthaltstitel (BT-Drs. 16/3291 S. 2). Für eine erhebliche aufenthaltsrechtliche Relevanz spricht auch die Zahl der verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zu nachgewiesenen missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennungen durch Deutsche, die zur Veröffentlichung gelangt sind (insbesondere OVG Sachsen-Anhalt, B. v. 1.10.2004 - 2 M 441/04 - InfAuslR 2006, 56; OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 6.3.2008, a.a.O.; VG Oldenburg, U. v. 22.4.2009 - 11 A 389/08 - NVwZ-RR 2009,739; OVG NRW, U. v. 23.8.2012, a.a.O.; BVerfG, B. v. 17.12.2013, a.a.O., dessen Sachverhalt im Vorlagebeschluss des AG Hamburg-Altona vom 15.4.2010 < 350 F 118/09, StAZ 2010,306 > ausführlicher dargestellt ist; VG Stuttgart, B. v. 24.7.2014 - 11 K 2149/14; VGH Baden-Württemberg, B. v. 4.11.2014 - 11 S 1886/14 - InfAuslR 2015,45). [...]