VG Magdeburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 24.09.2015 - 5 A 382/14 MD - asyl.net: M23575
https://www.asyl.net/rsdb/M23575
Leitsatz:

In den durch die Regierungstruppen befreiten Gebieten (hier Mogadischu) ist die Sicherheits- und Versorgungslage nicht so schlecht, dass eine allgemeine extreme Gefahrenlage besteht.

Schlagwörter: Somalia, Mogadischu, extreme Gefahrenlage, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Rückkehrgefährdung,
Normen: AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger ist auch nicht gemäß § 4 Abs. 1 AsylVfG subsidiärer Schutz zuzuerkennen. [...]

Anhaltspunkte für das Vorliegen einer entsprechenden Gefahr ergeben sich weder aus dem Vortrag des Klägers noch aus den dem Gericht aktuell vorliegenden Erkenntnissen über die Situation in seinem Heimatland. [...]

Die Frage, ob die in Somalia oder Teilen von Somalia stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im beschriebenen Sinne zu qualifizieren sind (vgl. hierzu weiterführend VG Aachen, Urteil vom 13.04.2015 - 7 K 711/14 - juris), kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Bezüglich der Gefahrendichte ist zunächst auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 - juris). Der Kläger stammt aus Mogadischu, so dass hinsichtlich der Gefahrensituation primär darauf abzustellen ist.

Das quantitative Kernkriterium für die zu treffende Gefahrenprognose ist die in der maßgebenden Region zu verzeichnende Zahl ziviler Opfer. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sind nach übereinstimmenden Schätzungen diverser Organisationen im somalischen Bürgerkrieg 2007 bis 2011 über 20.000 Zivilisten zu Tode gekommen, davon der größte Teil in Süd- und Zentralsomalia. Im Jahr 2012 sind allein in Mogadischu mindestens 160 Zivilisten getötet worden. Außerdem hat es mindestens 6.700 Verletzte durch Kampfhandlungen gegeben (Bericht vom 12.06.2013, S. 8). Der aktuelle Bericht des Auswärtigen Amtes vom 02.02.2015 trifft keine Aussage zu der Frage, wie viele Personen während der letzten zwei Jahre konfliktbedingt zu Schaden gekommen sind. Lediglich dem ecoi.net-Themendossier zu Somalia (Al-Shabaab: Zeitachse von Ereignissen seit April 2014, letzte Aktualisierung 14.08.2015, verfügbar auf ecoi.net) enthält eine - vermutlich nicht abschließende, aber doch eine Größenordnung anzeigende - Auflistung über die seit April 2014 in Somalia und insbesondere Mogadischu verübten Anschläge (im Einzelnen: VG Aachen, Urteil vom 13.04.2015 - 7 K 711/14 - juris). Unter Zugrundelegung dieser Zahlen ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von ca. 7,5 bis 12,9 Mio. Einwohnern in Somalia, wovon ca. 1 Mio. Menschen in Mogadischu leben (vgl. die Angaben bei wikipedia.de), unterhalb der als beachtlich angenommenen Schwelle von 1:800 pro Jahr (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 -10 C 13.10 - juris Rn. 22 f.). Den Einwand, das Abstellen auf die Herkunftsregion bedeute im Ergebnis das Zählen der Toten in einem bestimmten Zeitraum in einer bestimmten Gegend - das sogenannte "Bodycount" -, was mit dem vom Grundgesetz absolut geschützten Recht auf Leben unvereinbar sei, hat das Bundesverwaltungsgericht nicht gelten lassen (vgl. Beschluss vom 27.06.2013 - 10 B 11.13 u.a. - juris).

Selbst wenn man davon ausgeht, dass mit Blick auf eine hohe Dunkelziffer eine quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos nicht möglich ist und deshalb eine bewertende Betrachtung unter Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten erforderlich ist, kann nicht festgestellt werden, dass der Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass in der Heimatregion des Klägers praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Was die militärische und politische Entwicklung in Somalia insgesamt und auch in der Heimatregion des Klägers anbelangt, so hat diese in den letzten Jahren zu einer Verbesserung der Sicherheitslage geführt (so im Ergebnis ebenfalls VG Aachen, Urteil vom 13.04.2015 - 7 K 711/14 - juris; VG Regensburg, Urteil vom 08.01.2015 - RO 7 K 13.30801 - juris).

Auf dieser Grundlage ist fraglich, ob für die "befreiten" Regionen in Somalia, in denen es nicht mehr zu direkten bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, überhaupt noch das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu bejahen ist. Allerdings wird der erreichte Zustand in nahezu allen Berichten als fragil bezeichnet [...]

Was die Sicherheitslage in Somalia (und insbesondere in Mogadischu) betrifft, so lässt sich dem "ecoi.net-Themendossier zu Somalia" entnehmen, dass sich die Anschläge der Al-Shabab seit April 2014 im Wesentlichen gegen "prominente Ziele" in Mogadischu gerichtet haben, nämlich den Präsidentenpalast, einzelne somalische Parlamentsabgeordnete sowie Restaurants und Hotels in der Nähe des Regierungsviertels von Mogadischu. Daneben wird etwa davon berichtet, dass im Juli 2015 somalische Streitkräfte mit Unterstützung von Soldaten der Afrikanischen Union die südwestlich gelegene Stadt Bardere eingenommen hätten, die seit 2008 von der Al-Shabab kontrolliert worden seien. Bereits am 15.05.2015 hätten Regierungstruppen zwei weitere Städte (Awdhegel und Mubarak, ca. 75 km westlich von Mogadischu) zurückerobert. Zuletzt seien im August 2015 bei zwei Bombenanschlägen in der Nähe von Kismayo und in Mogadischu laut offiziellen Angaben mindestens 18 Menschen getötet worden. In einem Bericht des UNO-Generalsekretärs von 12.05.2015 zu den Entwicklungen vom 01.01.2015 bis 30.04.2015 (verfügbar auf ecoi.net) heißt es, die somalischen Behörden hätten in den befreiten Destrikten eine neue Stabilisierungseinheit ("stabilization unit") und in einigen Destrikten eine Art Gesundheitsdienst ("form of health service") eingerichtet. Auch gebe es Berichte von Flüchtlingen, die in die befreiten Gebiete zurückkehren. In diesen Gebieten gingen auch die Lebensmittelpreise zurück (Bericht, Seite 4 f.).

Insgesamt deutet die Auskunftslage nach Auffassung des Gerichts darauf hin, dass jedenfalls in den durch die somalische Armee und AMISOM befreiten Gebieten die Regierungstruppen zwar auch weiterhin Angriffsziele der AI-Shabab sind. Dabei nehmen die Attentäter auch Opfer unter der Zivilbevölkerung billigend in Kauf. Auf der anderen Seite ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Präsenz der AMISOM und die gemeinsamen Bestrebungen der internationalen Gemeinschaft dafür sorgen, dass sich die Sicherheitslage in diesen Gebieten nicht weiter verschlechtert. Hierfür spricht auch der angekündigte Versuch der somalischen Armee und AMISOM, nach den als erfolgreich bezeichneten Offensiven "Operation Eagle" und "Operation Indian Ocean" ab Juli 2015 eine weitere Offensive anzustrengen ("Operation Jubba Corridor"), welche die Verdrängung der AI-Shabab aus zwei von drei Hochburgen (Bardere und Dinsoor) sicherstellen soll ([...]). Daher ist nach Auffassung des Gerichts in den durch die somalische Armee und AMISOM befreiten Gebieten gegenwärtig von einer einigermaßen vorhandenen öffentlichen Sicherheit auszugehen. Die Gefahr einzelner Übergriffe gegen Rückkehrer, etwa wegen einer vermuteten Spionagetätigkeit für die Regierungstruppen zumindest, ist nicht auszuschließen. Eine konkrete, jeden Rückkehrer gleichsam von selbst treffende Lebens- oder Leibesgefahr liegt darin jedoch nicht. Dies gilt insbesondere für Mogadischu. [...]

Es ist auch nicht anzunehmen, dass sich die allgemeine Gefahr beim Kläger durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzt. Das Vorliegen solcher Umstände sind dem Vorbringen des Klägers nicht zu entnehmen. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Eine Erhöhung des Risikos ergibt sich nicht schon aus seiner Situation als Rückkehrer nach einem Auslandsaufenthalt. Zwar sieht die Al-Shabab Rückkehrer aus westlichen Ländern möglicherweise als Spione der Regierungstruppen an (vgl. EASO Country of Origin Information report: South and Central Somalia - Country overview, Stand: August 2014, Seite 106). Da sie in den unter der Kontrolle der Regierung stehenden Gebieten nicht mehr frei agieren kann und angesichts der Zahl von rückkehrenden Personen, v.a. auch Binnenvertriebenen, ergibt sich daraus aber nicht für jeden Rückkehrer ohne weiteres die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung (VG Aachen, Urteil vom 13.04.2015 - 7 K 711/14 - juris; VG Regensburg, Urteil vom 08.01.2015 - RO 7 K 13.30801 - juris Rn. 25).

Dem Kläger bleibt der Erfolg seiner Klage auch unter dem Gesichtspunkt der schlechten allgemeinen sozioökonomischen und humanitären Lebensverhältnisse in Somalia versagt. Dabei mag dahinstehen, ob die extrem schlechte Versorgungslage in Somalia subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG zu begründen vermag (so VG Regensburg, Urteil vom 08.01.2015 - RO 7 K 13.30801 - juris) oder ob dieser Gesichtspunkt erst bei der Frage eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen ist (so Hailbronner, Ausländerrecht, Loseblatt, Stand: Juni 2014, § 4 Rn. 28 ff. m.w.N.). Denn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK, auf die es in diesem Zusammenhang ankommt, setzt nach der Rechtsprechung des EGMR besonders schlechte humanitäre Lebensbedingungen für den Rückkehrer voraus. Dies ist der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Hierfür muss es allerdings ernsthafte und stichhaltige Gründe geben; die humanitären Gründe gegen die Ausweisung müssen "zwingend" sein (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 -10 C 15.12 - juris; Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 - juris).

Derartige ernsthafte und stichhaltige Gründe hat der Kläger nicht glaubhaft vorzutragen vermocht und sind im individuellen Fall des Klägers auch nicht ersichtlich.

Die Versorgungslage in Somalia ist schlecht, auch wenn in den letzten Monaten Verbesserungen festzustellen sind. [...]

Überdies sind bei der Bewertung der Versorgungslage die entsprechenden Möglichkeiten von Rückkehrern nach Somalia zu berücksichtigen. [...]

Was insbesondere die Frage anbelangt, ob es Rückkehrern möglich ist, sich in Mogadischu niederzulassen, lässt sich den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln entnehmen, dass man eine Kernfamilie brauche, die einen beim Lebensunterhalt unterstütze. Die Großfamilie leiste Unterstützung nur für einige Tage und kann nicht als langfristige Lösung für Lebensunterhalt oder Unterkunft angesehen werden. Erleichtert werde die Rückkehr zudem durch ausreichende finanzielle Mittel, Bildung und berufliche Fähigkeiten (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Süd- und Zentralsomalia, Stand: August 2014, Seite 126).

Dies zugrunde gelegt, ist im individuellen Fall des Klägers davon auszugehen, dass bei ihm eine derartige Ausnahmesituation nicht gegeben ist. Nach der Beschreibung seiner Lebenssituation vor der Ausreise hat er auch bei einer Rückkehr ausreichende Möglichkeiten, sein Existenzminimum zu sichern.

Zwar hat der Kläger Somalia bereits im August 2008 verlassen und ist deshalb bereits seit einiger Zeit außer Landes gewesen. Allerdings ist der Kläger in Mogadischu geboren und dort groß geworden. Deshalb ist davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr in seine Heimatstadt mit den dortigen Verhältnissen auch noch weitgehend vertraut ist. [...] Erst recht dürfte er mit der derzeitigen Situation zurechtkommen, da Mogadischu nunmehr unter der Herrschaft der Regierung steht. [...] Nach den Angaben des Klägers beim Bundesamt lebten im Jahr 2012 überdies noch seine Ehefrau, seine Eltern und seine zwei Brüder in seiner Heimatstadt, so dass er dort einen Anknüpfungspunkt hat. [...]