VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 15.09.2015 - 16 K 15.30522 - asyl.net: M23578
https://www.asyl.net/rsdb/M23578
Leitsatz:

Zuerkennung eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG für alleinerziehende Frau aus Armenien aufgrund der Gefahr von Diskriminierung und existentieller wirtschaftlicher Not.

Schlagwörter: Armenien, alleinerziehend, alleinstehende Frauen, Abschiebungsverbot, häusliche Gewalt, Diskriminierung, Frauen, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

1. Aufgrund der besonderen Sachlage im konkreten Einzelfall der Klägerin liegen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Armenien vor. [...]

b) Aufgrund der ausführlichen, glaubwürdigen und im Wesentlichen widerspruchsfreien Schilderung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15. September 2015 ist anzunehmen, dass diese aller Wahrscheinlichkeit nach alleine mit ihren 2013 und 2014 geborenen Kindern in die Stadt ... zurückkehren würde, aus der sie stammt. Sie hat sich endgültig von ihrem Ehemann getrennt, der bislang in die beantragte Scheidung nicht eingewilligt hat. Die Ursachen der Trennung - insbesondere wiederholte Drohungen und Gewalttätigkeiten und die Vernachlässigung der gemeinsamen Kinder, im Zusammenhang mit massivem Alkoholkonsum - hat die Klägerin vor Gericht plastisch und einleuchtend geschildert. Ihre Angaben stehen ferner in Einklang mit den Aussagen des Ehemanns gegenüber der Stadt ... im Rahmen der Vorsprache am 20. Februar 2015. Weiter ist der Beurteilung zugrunde zu legen, dass die Klägerin in Armenien nicht über Verwandtschaft verfügt, von der sie materielle Unterstützung und Schutz vor Übergriffen Dritter erhalten könnte. Der diesbezügliche Vortrag entspricht weitgehend früheren Angaben der Klägerin gegenüber dem Bundesamt, auch wenn sich die familiären Verhältnisse teilweise weiter entwickelt haben. So hält sich die Mutter der Kläger sei Mai 2014 nicht mehr in der Türkei, sondern im Bundesgebiet auf; eine Schwester lebt in der Türkei, eine andere - zu der der Kontakt abgebrochen ist - mittlerweile wohl in Russland. Es kann nicht angenommen werden, dass die Klägerin nennenswerte Unterstützung von den beiden noch in Armenien lebenden Tanten erhalten würde, zu denen sie kaum Kontakt hat. Der Aufenthaltsort des Ehemanns ist unbekannt. [...]

d) Das Gericht geht aufgrund der vorgenannten Erkenntnismittel und den Ergebnissen der informatorischen Befragung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15. September 2015 im vorliegenden Einzelfall davon aus, dass die Klägerin bei Rückkehr nach Armenien mit hoher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.

Diese konkrete Gefahr droht im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung nicht allein aufgrund der allgemeinen humanitären Situation in Armenien. Vielmehr wäre die Klägerin aufgrund ihrer besonderen familiären Verhältnisse in Armenien aller Wahrscheinlichkeit nach einer sozialen Isolation ausgesetzt. Die Klägerin hat sich wegen häuslicher Gewalt von ihrem Ehemann getrennt; nach den herrschenden sozialen Normen in Armenien ist sie jedoch weiter für den Zusammenhalt der gesamten Familie verantwortlich; ihr würde die Berechtigung zu einem vom Ehemann unabhängigen Leben abgesprochen. Erschwert wird die Situation der Klägerin durch die bislang unterbliebene Scheidung; sie dürfte in Armenien erst recht nicht als legitimiert angesehen werden, eine dauerhafte eigenständige Existenz als alleinerziehende Mutter aufzubauen. Mit diesem sozialen Stigma wäre die Klägerin in ... bei allen Bekannten behaftet; sowohl sie wie ihr Ehemann stammen aus diesem Ort und haben dort als Ehepaar gelebt, so dass der Status der Klägerin für den dortigen Bekanntenkreis sofort offensichtlich wäre. Aus Sicht vieler Armenier würde sie als weitgehend schutz- und wehrlos erscheinen. Bei der Klägerin bestünde eine erheblich erhöhte Gefahr, Opfer von Übergriffen Dritter zu werden, z.B. in Form einer Verschleppung in das Ausland, wie sie nach den genannten Berichten in Arme - nien häufig vorkommt. Weiter ist nach den vorliegenden Informationen davon auszugehen, dass der armenische Staat weder willens noch in der Lage ist, alleinstehende Frauen in einer derartigen Situation vor Gewaltakten und Diskriminierungen effektiv zu schützen und Auswege aus dieser Lage zu ermöglichen. Bereits diese besondere Sachlage im vorliegenden Einzelfall ist als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren.

Hinzu käme - in Verbindung mit dieser gesellschaftlichen Ausgrenzung - eine möglicherweise prekäre wirtschaftliche Lage der Klägerin. Es kann nicht angenommen werden, dass sie als alleinerziehende Mutter von zwei Kleinkindern genügend Unterstützung erfahren würde, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Die ohnehin gravierenden Probleme für alleinstehende Frauen in Armenien, durch eigene Erwerbsarbeit ihre Exis - tenz zu sichern, würden durch die Notwendigkeit der Betreuung zweier Kleinkinder weiter verschärft. Auch ist nicht anzunehmen, dass die mit einem gesellschaftlichen Makel behaftete Klägerin von (früheren) Bekannten oder sonstige Personen Unterstützung bei der Arbeits- und Wohnungssuche und Kinderbetreuung erfahren würde.

Bei der Gefahrenprognose im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots ist auf den tatsächlichen Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr abzustellen, regelmäßig auf dessen Herkunftsregion. Kommt diese als Zielort wegen der dem Betroffenen dort drohenden Gefahr nicht in Betracht, kann er nur unter den Voraussetzungen des Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG auf eine andere Region des Landes verwiesen werden (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris). Es kann hier nicht angenommen werden, dass die Klägerin z. B. nach Jerewan gehen würde, weil dort möglicherweise etwas günstigere Rahmenbedingungen für eine alleinstehende Frau bestehen, um sich eine eigenständige Existenz aufzubauen. Die Klägerin hat in Armenien stets in ... gelebt. Es ist ihr nicht zumutbar, sich andernorts niederzulassen, wo sie mit den örtlichen Verhältnissen nicht vertraut und über keinerlei Kontakte verfügen würde. Dieser Nachteil würde zudem den eventuellen Vorteil, dass alleinstehende Frauen in Jerewan unter Umständen grundsätzlich eher gesellschaftlich akzeptiert werden, voraussichtlich wieder aufwiegen [...]