VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 05.02.2016 - 9 B 16/16 - asyl.net: M23681
https://www.asyl.net/rsdb/M23681
Leitsatz:

1. Nach den §§ 53 AufenthG hat eine umfassende Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen zu erfolgen.

2. Bei Prüfung einer möglichen Wiederholungsgefahr nach einer brutalen Straftat sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Schadenseintritts umso geringer, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.

3. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK aufgrund drohender Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung setzt voraus, dass der Wehrdienst aufgrund einer absoluten und grundsätzlichen Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen verweigert wurde.

Schlagwörter: Ausweisung, Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, Systemwechsel, Wiederholungsgefahr, Wehrdienstverweigerung, Bleibeinteresse, Ausweisungsinteresse, Militärdienst, Kriegsdienstverweigerung, Assoziationsberechtigte, faktischer Inländer, Verwurzelung, Entwurzelung, türkische Staatsangehörige, Vorstrafen, Straftat, Gewissensentscheidung, Gewissensfreiheit,
Normen: AufenthG § 53, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 9, AufenthG § 55, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 53 Abs. 3, ARB 1/80 Art. 14,
Auszüge:

[...]

Nach neuem Recht steht bei der Prüfung, ob hier zur Gefahrenabwehr eine Ausweisung geboten ist, dem Bleibeinteresse des Antragstellers im Sinne des § 55 AufenthG n. F. ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse aufgrund seiner gravierenden Straftat (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG n. F.) gegenüber. Auch die sonstigen Umstände des vorliegenden Falles sprechen in Verbindung mit dem vom Antragsteller nach wie vor ausgehenden erheblichen Gefahrenpotential selbst unter Berücksichtigung der erhöhten rechtlichen Anforderungen bei Assoziationsberechtigten (§ 53 Abs. 3 AufenthG n.F.) für ein Übergewicht des Ausweisungsinteresses mit der Folge, dass die nach § 53 Abs. 1 AufenthG n.F. zu treffende Abwägung zu Lasten des Antragstellers ausfällt. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts sowie deren Bewertung und Gewichtung auf die diesbezüglichen Ausführungen in dem angegriffenen Beschluss (Bl. 3 ff. d. amtl. Umdrucks) Bezug, der seinerseits auf die zutreffenden Erwägungen in dem angefochtenen Bescheid verweist. Sie sind auch nach der neuen Rechtslage maßgebend.

Der Antragsteller kann dagegen nicht mit Erfolg einwenden, die Gefahrenprognose der Ausländerbehörde, welcher das Verwaltungsgericht gefolgt ist, basiere auf einem den Schranken von Art. 14 ARB 1/80 nicht gerecht werdenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab und einer unzureichenden Würdigung seiner Persönlichkeit, seines Werdegangs und des Nachtatverhaltens. Vielmehr gilt entgegen der Auffassung des Antragstellers für die zu prognostizierende Wiederholungsgefahr ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (stRspr des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. zuletzt Urteil vom 15.01.2013 - 1 C 10/12 -, [...] Rn. 15 m.w.N.). Der Antragsteller erachtet hingegen den vom Baden-Württembergischen Verwaltungsgerichtshof entwickelten Maßstab für richtig, der unabhängig vom Gewicht der bedrohten Rechtsgüter das Vorliegen der Ausweisungsvoraussetzung einer gegenwärtigen und hinreichend schweren Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft, wie sie der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften der Regelung des Art. 14 ARB 1/80 entnimmt, nur bejaht, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird (Urteil vom 07.03.2012 - 11 S 3269/11 -, [...]). Mit diesem starren Maßstab, der das Gewicht der durch die Tat des Antragstellers bedrohten Rechtsgüter aus dem Blick verliert, wird verkannt, dass jeder sicherheitsrechtlichen Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß zugrunde liegt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Wenngleich der Rang des bedrohten Rechtsguts die mögliche Schadenshöhe bestimmt, bedeutet das jedoch nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwG, a.a.O., Rn. 16). [...]

Ungeachtet des Beschwerdevorbringens hat die Antragsgegnerin - und ihr folgend das Verwaltungsgericht, dessen Entscheidung der Antragsteller angreift - den Antragsteller bei der Abwägung seiner Bleibeinteressen zu Recht nicht als faktischen Inländer betrachtet, der in Deutschland verwurzelt und in der Türkei entwurzelt ist. Der Antragsteller übergeht, dass in dem angefochtenen Bescheid dargelegt wird, dass er in der Türkei geboren ist, dort die Schule besucht und bis zu seinem 16. Lebensjahr gelebt hat, Kurdisch und Türkisch spricht und deshalb türkische Traditionen und Lebensverhältnisse kennt. In der Beschwerdebegründung geht der Antragsteller auch mit keinem Wort auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts dazu ein, dass aus guten Gründen anzunehmen ist, dass der weit überwiegende Teil seiner Herkunftsfamilie, darunter seine Eltern und acht Geschwister, in der Türkei lebt und ihn bei einer Rückkehr dorthin bei seiner Reintegration unterstützen wird (vgl. dazu auch Bl. I/173, I/227, I/231, I/241, I/244, I/293, III/41 d. GPA), so dass allein aus der Tatsache, dass der Antragsteller seit nunmehr 19 Jahren seinen ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, noch nicht auf eine Entwurzelung von seinem Herkunftsland geschlossen werden kann. In der Haft bemühte er sich zudem nachhaltig um eine hausinterne Verlegung auf eine Station mit türkischen Mitgefangenen, weil ihm der Kontakt zu Landsleuten fehle, zu denen er ein enges Verhältnis habe, und legte Wert auf den Empfang türkischer Fernsehsender sowie darauf, dass Mahlzeiten mit geschächtetem Fleisch zubereitet werden (Bl. I/208, I/216, II/401 - 408 d. GPA). [...]

Die Ausweisung ist daher nicht nur offensichtlich rechtmäßig, nach Auffassung des Senats besteht auch ein besonderes öffentliches Interesse an ihrer sofortigen Vollziehung. Das Risiko weiterer Übergriffe des Antragstellers mit ernsten Folgen für die körperliche Unversehrtheit von Menschen kann auch nicht für eine Übergangszeit bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens eingegangen werden. Dass der Antragsteller sich inzwischen seit acht Monaten wieder auf freiem Fuß befindet, ohne dass neue Ermittlungen gegen ihn bekannt geworden sind, ist kein valides Anzeichen dafür, dass von ihm - zumindest derzeit - keine Gefahr mehr ausgeht, zumal er bislang unter dem Eindruck der unmittelbar drohenden Abschiebung stand. Da nicht vorherzusehen ist, wann der Antragsteller möglicherweise wieder in eine Situation gerät, die seine Konfliktlösefähigkeit massiv überfordert, kann es - etwa in Kombination mit enthemmenden Faktoren wie Alkohol - grundsätzlich jederzeit zu Angriffen auf Andere kommen, auch wenn nicht verkannt wird, dass der Antragsteller nicht regelmäßig mit Gewalt auf ihn kränkende oder enttäuschende Erfahrungen reagiert. Abweichend von seiner Auffassung bedarf es dagegen für die Rechtmäßigkeit des Sofortvollzugs keiner unmittelbaren Gefahr, wie sie drohen würde, wenn er beispielsweise - wie angedroht - eine Racheaktion planen würde. [...]

Auch aus der nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass der Antragsteller sich bei seiner Rückkehr tatsächlich entschließen könnte, den Wehrdienst zu verweigern, obwohl die Türkei kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung kennt, folgt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK wegen der dann drohenden Bestrafung. Er hat nicht glaubhaft vorgetragen, den Wehrdienst aus Gewissensgründen zu verweigern. Eine Gewissensentscheidung in diesem Sinne ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.10.1972 - VIII C 46.72 -, [...] Rn. 9 ff., und vom 01.02.1989 -6 C 61/86, [...] Rn. 11 f.). Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (VG Darmstadt, Urteil vom 03.06.2014 - 7 K 392/12.DA.A -, [...] Rn. 37). Der Antragsteller hat vortragen lassen, dass er nicht in einen Krieg hineingezogen werden wolle, in dem er gegen seine kurdischen Landsleute kämpfen müsse. Davon abgesehen, dass diese bloße Behauptung den an die Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung zu stellenden Anforderungen nicht genügt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.10.1972, a.a.O., Rn. 12), hat er mit dieser von vielen türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit geteilten Haltung keine absolute Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst getroffen. Im Übrigen würde sich die Annahme, die - bisher bloß angekündigte - Wehrdienstverweigerung entspringe einer pazifistischen Überzeugung des Antragstellers nicht mit dem Umstand in Einklang bringen lassen, dass er aus nichtigem Anlass heraus eine schwerwiegende Gewalttat begangen hat, die sein Opfer in Lebensgefahr brachte, was er zunächst billigend in Kauf nahm (Bl. III/404 ff., 422 ff., insbesondere Bl. III/423 d. BA). [...]