VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 06.11.2015 - M 11 K 14.30724 - asyl.net: M23689
https://www.asyl.net/rsdb/M23689
Leitsatz:

Zwangsrekrutierungen von Kindern und Jugendlichen durch die Al-Schabaab-Miliz sind in Somalia weit verbreitet. Personen, die vor einer Zwangsrekrutierung fliehen, werden von der Al-Schabaab-Miliz als Gegner angesehen und brutal verfolgt.

Schlagwörter: Somalia, Zwangsrekrutierung, Al-Shabaab-Miliz, nichtstaatliche Verfolgung, politische Verfolgung, Vorverfolgung, minderjährig, Kinder, Jugendliche,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die gegenteilige Feststellung in Nummer 1 und die nachfolgenden Entscheidungen in den Nummern 3 bis 5 des streitgegenständlichen Bescheids sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, 5 VwGO). [...]

Der Kläger hat Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil ihm in Somalia seitens nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3 c Nr. 3 AsylG eine politische und religiöse Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1, § 3 a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 3 b AsylG droht und die in § 3 c Nummern 1 und 2 AsylG genannten Akteure erwiesenermaßen nicht in der Lage sind, ihm im Sinne des § 3 d AsylG Schutz vor dieser Verfolgung zu bieten.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft die bereits beim Bundesamt geltend gemachte Zwangsrekrutierung durch die al-Schabaab-Miliz geschildert. Die Erwägungen, aus denen das Bundesamt im Wesentlichen die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens ableitet, teilt das Gericht nicht. Das Bundesamt hält dem Kläger u. a. vor, er habe "nicht annähernd nachvollziehbar" darstellen können, wie die al-Schabaab-Milizen "ausgerechnet ihn zur Zusammenarbeit hätten zwingen" wollen. Nach der Auskunftslage waren vor der Ausreise des Klägers und sind auch heute noch in Somalia Zwangsrekrutierungen von Kindern und Jugendlichen durch die al-Schabaab-Milizen weit verbreitet (vgl. z. B. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs somalischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung -, Juli 2010, unter IV. B. 1. e; Lageberichte des Auswärtigen Amtes über Somalia vom 24. März 2011 - S. 12 unten -, vom 23. März 2013 - S. 13 -, vom 12. Juni 2013 - S. 13 -, vom 2. Februar. 2015 - S. 12 -). Angesichts dessen ist es nicht gerechtfertigt, die Unglaubwürdigkeit des Klägers daraus abzuleiten, dass er keine besonderen Gründe genannt hat, warum man "ausgerechnet ihn" zwangsrekrutiert habe. Nicht zu folgen ist dem Bundesamt auch darin, dass der Kläger keine detaillierten Angaben über den Aufenthalt im Lager gemacht habe. Er hat u.a. darüber berichtet, dass er mit dem Bajonett am Oberschenkel verletzt worden sei und gehört habe, wie die Männer sich über ihn unterhalten und erörtert hätten, wie sie ihn bestrafen sollten. Die Flucht aus dem Lager ist auch nicht deshalb unglaubwürdig, weil der Kläger angab, dem Gespräch der Milizen entnommen zu haben, dass er zum Tode verurteilt werden sollte. Das Bundesamt, das es für nicht überzeugend hält, wie der Kläger vor diesem Hintergrund so ohne weiteres habe fliehen können, lässt insoweit außer Acht, dass es sich beim Kläger damals um einen 12-jährigen Jungen gehandelt hat, der möglicherweise nur eingeschüchtert werden und dieses Gespräch bewusst mitanhören sollte, um gefügig zu werden. Es ist auch nicht konstruiert und lebensfremd, dass der Verwandte, der den Kläger zur Zusammenarbeit mit der al-Schabaab-Miliz aufgefordert hat, den Kläger nicht sogleich mitgenommen hat, sondern ihn zunächst zu einer freiwilligen Mitwirkung bewegen wollte und (erst) nach einigen Tagen wiedergekommen ist und Zwang angewendet hat.

Im Falle einer Rückkehr nach Somalia muss der Kläger damit rechnen, von der radikal-islamistischen und al-Quaida-affiliierten al-Schabaab-Miliz bestraft zu werden. Daran ändert jedenfalls im vorliegenden Fall auch die seit der Flucht verstrichene Zeit nichts. Der Kläger hat nach seinen glaubhaften, auch bereits beim Bundesamt gemachten Angaben einen der al-Schabaab-Miliz angehörenden Verwandten, der für die Zwangsrekrutierung des Klägers mitverantwortlich ist. Es muss deshalb angenommen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr erneut in das Blickfeld der al-Schabaab-Miliz geraten und aufgrund seiner Flucht von der al-Schabaab-Miliz als deren Gegner angesehen würde, die, wie aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. Februar 2015 (dort S. 9) ersichtlich ist, brutal gegen alle Gegner vorgeht. Dem Kläger droht daher bei Rückkehr nicht nur eine "wahllose" erneute Zwangsrekrutierung durch die al-Schabaab-Miliz. Ihm drohen schwerwiegende Übergriffe, die als Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG zu qualifizieren sind, weil sie an sein früheres Verhalten anknüpfen, mit dem er sich gegen die al-Schabaab-Miliz gestellt hat. [...]