VerfGH Berlin

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Zitieren als:
VerfGH Berlin, Beschluss vom 11.11.2015 - 86/15 - asyl.net: M23692
https://www.asyl.net/rsdb/M23692
Leitsatz:

1. Das Fachgericht verwendet einen Auslegungsmaßstab, durch den die Rechtswahrnehmung für unbemittelte Rechtsuchende im Vergleich zu bemittelten Rechtsuchenden unverhältnismäßig eingeschränkt wird, wenn das Gericht die Anforderungen an die Erfolgsaussichten gemäß § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO überspannt und verkennt, dass das Prozesskostenhilfeverfahren den verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutz nicht selbst bietet, sondern erst zugänglich macht.

2. Das Prozesskostenhilfeverfahren dient insbesondere nicht dazu, strittige Rechtsfragen zu klären.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten, Niederlassungserlaubnis,
Normen: VvB Art. 10 Abs. 1, GG Art. 3, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 26 Abs. 4, VwGO § 166, ZPO § 114 Abs. 1 Satz 1
Auszüge:

[...]

1. Art. 10 Abs. 1 VvB gebietet - ebenso wie Art. 3 Abs. 1 GG - in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes, wobei der Rechtsschutzgleichheit und -effektivität das Institut der Prozesskostenhilfe dient (vgl. Beschlüsse vom 30. September 2014 - VerfGH 97/13 - wie alle nachfolgend zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de, Rn. 12, und vom 14. Mai 2014 - VerfGH 11/14 - Rn. 8; zum Bundesrecht: BVerfG, Beschluss vom 5. November 2013 - 1 BvR 2544/12 -, juris Rn. 10).

Die Auslegung und Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften über die Prozesskostenhilfe obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den durch die Verfassung gebotenen Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Der Verfassungsgerichtshof kann hier nur eingreifen, wenn die Entscheidung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in seiner Ausprägung als Willkürverbot verstößt oder wenn das Gericht einen Auslegungsmaßstab verwendet, durch den die Rechtswahrnehmung für unbemittelte Rechtsuchende im Vergleich zu bemittelten Rechtsuchenden unverhältnismäßig eingeschränkt wird. Letzteres ist namentlich dann der Fall, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussichten gemäß § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO überspannt und verkennt, dass das Prozesskostenhilfeverfahren den verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutz nicht selbst bietet, sondern erst zugänglich macht und daher insbesondere nicht dazu dient, strittige Rechtsfragen zu klären (Beschluss vom 30. September 2014, a.a.O., Rn. 13; vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschluss vom 26. Dezember 2013 - 1 BvR 2531/12 -, juris Rn. 13).

2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht.

Das Oberverwaltungsgericht verneint - unter Zitierung von Kommentarliteratur - die hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage mit der Begründung, nach dem eindeutigen Wortlaut von § 26 Abs. 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - genüge eine Aufenthaltserlaubnis, die zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft erteilt worden ist, nicht. Wegen der Subsidiarität der humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG habe die Klägerin auch keinen Anspruch auf deren Erteilung während des Zusammenlebens mit ihrem Ehemann gehabt, selbst wenn die Ausreise für sie als palästinensische Volkszugehörige aus dem Libanon mit ungeklärter Staatsangehörigkeit auch schon damals tatsächlich unmöglich im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG gewesen sein mag.

Mit dieser Begründung hat das Oberverwaltungsgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Klage überspannt. Durch die Verneinung der Voraussetzungen von § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat es zu erkennen gegeben, dass es die entscheidungserheblichen Rechtsfragen als einfach oder geklärt angesehen hat. Die Frage, ob auch Zeiten im Rahmen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG berücksichtigungsfähig sind, in denen - mit Ausnahme der vollziehbaren Ausreisepflicht des Ausländers - die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG vorgelegen haben, ist jedoch streitig (für deren Berücksichtigung: Dienelt, in: Renner/Bergmann/Dienelt [Hrsg.], Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 26 AufenthG Rn. 22, 24; Fränkel, in: Hofman/Hoffmann [Hrsg.], Ausländerrecht, 2008, § 26 AufenthG Rn. 23; Vorläufige Niedersächsische Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, Stand: 30. Juni 2007, Nr. 26.4.1 und 26.4.1.1, abrufbar unter: www.kmn.uni-oldenburg.de/download/VVAufenthG,_Stand_30.06.07.pdf; gegen deren Berücksichtigung: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 8. Oktober 2008 - 13 S 709/07 -, juris Rn. 31; Burr, in: GK-AufenthG, Stand: März 2015, § 26 Rn. 24.1; Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 1. Auflage 2008, Rn. 770). Eine höchstrichterliche Klärung ist bislang nicht erfolgt. [...]