1. Bei unterstellter Minderjährigkeit ist ein Antragsteller aufgrund von § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I partiell handlungs- und infolgedessen prozessfähig.
2. Bei Zweifeln an der Minderjährigkeit ist aus Gründen des Minderjährigenschutzes die vorläufige Inobhutnahme einer unbegleiteten ausländischen Person zur Altersfeststellung angezeigt.
3. Die vorläufige Inobhutnahme erledigt sich durch den Erlass einer endgültigen Ablehnungsentscheidung.
4. Gegen die Ablehnungsentscheidung ist vorläufiger Rechtsschutz ausnahmsweise nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren, da mit der Ablehnung des Begehrten Verwaltungsaktes eine über die Ablehnung hinausgehende Belastung einhergeht.
5. Die aufschiebende Wirkung anhängiger Widersprüche und Klagen, die vor dem 1.11.2015 erhoben wurden, entfällt nachträglich durch Inkrafttreten des § 42f Abs. 3 SGB VIII.
[...]
Der Antragsteller ist bei unterstellter Minderjährigkeit für den Gegenstand des Verfahrens als prozessfähig anzusehen. Nach § 62 Abs. 4 VwGO i. V. m. § 55 ZPO ist ein Ausländer, dem nach dem Recht seines Landes die Prozessfähigkeit mangelt, prozessfähig, wenn ihm nach dem Recht des Prozessgerichts die Prozessfähigkeit zusteht. Minderjährige sind gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in eigenen Sachen prozessfähig, soweit sie durch Vorschriften des bürgerlichen oder des öffentlichen Rechts für den Gegenstand des Verfahrens als geschäftsfähig anerkannt sind. Der Antragsteller ist gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I partiell handlungs- und infolgedessen im vorliegenden Verfahren prozessfähig. Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen, wer das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hat. Allerdings handelt es sich bei der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht um eine Sozialleistung im Sinne von § 11 SGB I (BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 - 5 C 24/12 -, BVerwGE 147, 170-184). Die Inobhutnahme verleiht dem Kind oder Jugendlichen jedoch einen Anspruch darauf, in einer Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen, verpflegt und betreut zu werden (BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 - 5 C 24/12 -, a.a.O.). Insoweit ist von einer Sozialleistung im Sinne des § 11 SGB I auszugehen. Auch wenn es sich bei einer Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII um einen Verwaltungsakt handelt, der auch belastende Wirkungen hat (BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 - 5 C 24/12 -, a.a.O.), geht es für den Antragsteller im Wesentlichen um die mit der Inobhutnahme verbundenen Begünstigungen, die er mit seinem Antrag erhalten möchte. Der Senat schließt sich insoweit der Auffassung des Verwaltungsgerichts und der überwiegenden Rechtsprechung an (vgl. HambOVG, Beschluss vom 23.12.2010 - 4 Bs 243/10 -, juris; Beschluss vom 09.02.2011 - 4 Bs 9/11 -, juris; sowie die Nachweise in dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts). Das Schutzinteresse des Minderjährigen wird dadurch gewahrt, dass die aus § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I folgende Handlungsfähigkeit die Befugnisse gesetzlicher Vertreter nicht völlig verdrängt, sondern ergänzend neben die gesetzliche Vertretungsmacht tritt (BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R -, SozR 4-3100 § 60 Nr. 5). Zudem kann die Handlungsfähigkeit nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB I vom gesetzlichen Vertreter durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger eingeschränkt werden. [...]
Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Die Inobhutnahme ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X (BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 - 5 C 24/12 -, a.a.O.). Sie kann auch konkludent erklärt werden (vgl. Happe/Saurbier, in: Jans/Happe/Saurbier, KJHG, § 42 Rn. 74; BayVGH, Beschluss vom 20.01.2014 - 12 ZB 12.2766 -, juris). [...]
Grundsätzlich hat die Klärung des Sachverhalts zu erfolgen, bevor hieran Rechtsfolgen geknüpft werden. Das heißt die Alterseinschätzung ist vor der Inobhutnahme durchzuführen. Nur wenn dies nicht möglich ist, ist im Zweifel von einer Minderjährigkeit auszugehen, die Inobhutnahme durchzuführen und im Rahmen der Inobhutnahme die Alterseinschätzung vorzunehmen (Seite 14). Danach gehen auch die "Qualitätsstandards" davon aus, dass aus Gründen eines effektiven Minderjährigenschutzes die Inobhutnahme angezeigt sein kann und die nach eigenen Angaben minderjährige Person bis zur Altersfeststellung auch als solche behandelt wird und die danach erforderlichen Leistungen erhält. [...]
Auch die seit dem 01.11.2015 geltende Rechtslage geht davon aus, dass bei Zweifeln an der Minderjährigkeit eine (vorläufige) Inobhutnahme erfolgt. [...]
b. Die Inobhutnahme hat sich mit dem Ablehnungsbescheid vom 02.06.2015 erledigt. Gemäß § 39 SGB X bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Grundsätzlich darf der Wirksamkeitsverlust des Verwaltungsakts nicht von einer Entscheidung der Behörde abhängen, da anderenfalls die Aufhebungsvoraussetzungen der §§ 45, 46 SGB X umgangen werden könnten. [...]
c. Eine Erledigung "auf andere Weise" liegt aber auch dann vor, wenn die Behörde eine vorläufige Regelung getroffen hat, die durch eine endgültige Regelung ersetzt wird. Eine Behörde darf nicht beliebig eine Regelung vorläufig treffen, sondern nur, wenn ihr eine bestehende Ungewissheit hierzu sachlichen Grund gibt (BVerwG, Urteil vom 19.11.2009 - 3 C 7/09 -, BVerwGE 135, 238-247, Rn. 21). [...]
d. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die die vorläufige Inobhutnahme "erledigende" endgültige Ablehnung der Inobhutnahme ist im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren. Die Frage, welche rechtlichen Wirkungen ein Widerspruch oder eine Klage gegen eine einen vorläufigen Verwaltungsakt ersetzende endgültige Regelung hat, ist in Rechtsprechung und Literatur nicht geklärt. [...] Auch hinsichtlich der Ablehnung der Inobhutnahme dürfte die Verpflichtungsklage die richtige Klageart sein. Einstweiliger Rechtsschutz ist aber auch bei Verpflichtungsklagen ausnahmsweise dann nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren, wenn mit der Ablehnung eines begehrten Verwaltungsakts eine über die Ablehnung hinausgehende Belastung einhergeht. In ausländerrechtlichen Konstellationen ist dies angenommen worden, um das mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung einhergehende Erlöschen der Fiktionswirkung für die Dauer des Klageverfahrens zu suspendieren. Vorliegend tritt die zusätzliche Belastungswirkung dadurch ein, dass sich die vorläufige Inobhutnahme durch die endgültige Entscheidung erledigt. [...]
e. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 02.06.2015 ist nachträglich durch die Regelung des § 42f Abs. 3 SGB VIII, der durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder oder Jugendlicher vom 28.10.2015 (BGBl. I, S. 1802) mit Wirkung zum 01.11.2015 in Kraft getreten ist, entfallen. [...] Diese Folge tritt ab diesem Zeitpunkt für alle Widersprüche und Klagen gegen die Ablehnung oder Beendigung der Inobhutnahme aufgrund der Altersfeststellung ein und erfasst auch solche noch anhängigen Widersprüche und Klagen, die vor dem 01.11.2015 erhoben worden sind und denen vor Inkrafttreten der Regelung des § 42f Abs. 3 SGB VIII n.F. nach der allgemeinen Vorschrift des § 80 Abs. 1 VwGO kraft Gesetzes zunächst aufschiebende Wirkung zukam. Nach dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts erfassen Änderungen des Verfahrensrechts mit ihrem Inkrafttreten grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten. [...]
Der Wegfall der aufschiebenden Wirkung auch für solche Widersprüche und Klagen, die bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung am 01.11.2015 erhoben worden sind, begegnet im zweipoligen Verhältnis der Inobhutnahme unter Vertrauensschutzgesichtspunkten keinen Bedenken. [...]