LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2016 - L 15 SO 53/16 B ER - asyl.net: M23778
https://www.asyl.net/rsdb/M23778
Leitsatz:

Gewährung vorläufiger Ermessensleistungen nach § 23 SGB XII im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, da im Hinblick auf die BSG-Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015, Az.: B 4 AS 44/15 R) eine Leistungspflicht nach SGB XII in Betracht kommt. Ob Leistungen nach SGB II oder XII zu bewilligen sind, ist im Hauptsacheverfahren zu klären.

Schlagwörter: Unionsbürger, Sozialleistungen, Leistungsausschluss, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Daueraufenthaltsberechtigte, Daueraufenthalt, Ermessensreduzierung auf Null,
Normen: SGB XII § 23, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Auch ein Anordnungsanspruch ist gegeben. Es bestehen große Erfolgsaussichten für ein Obsiegen in der Hauptsache. Sofern die Antragstellerin nicht bereits ein dauerndes Aufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU 2004) erworben hat (dazu siehe unten), dürften ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII als Ermessensleistung zu gewähren sein. Entsprechend der Rechtsprechung des BSG (vgl. z.B. das Urteil vom 3. Dezember 2015, Az.: B 4 AS 44/15 R, dokumentiert in juris und in ZFSH/SGB 2016, 126) hat die Antragstellerin einen sich aus dem garantierten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz [GG] i.V.m. mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ) ergebenden Anspruch glaubhaft gemacht (vgl. auch den Terminbericht zu den Urteilen des 14. Senats des BSG vom 16. Dezember 2015, zu finden unter www. Bundessozialgericht.de "Termine"). Um Wiederholungen zu vermeiden wird auf die Gründe des Urteils des BSG vom 3. Dezember 2015, Az. B 4 AS 44/15 R, a.a.O., verwiesen.

Die Einwendungen des Sozialgerichts und des Antragsgegners gegen die Urteile des Bundessozialgerichtes sind zumindest im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht geeignet, einen Anordnungsanspruch zu verneinen und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Der für die Sozialhilfe zuständige 8. Senat des BSG hat bereits entschieden, dass auch einem Ausländer, der dem Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 erste oder zweite Alternative SGB XII unterfällt, vom Träger Sozialhilfe in Ausübung von Ermessen gewährt werden kann, soweit es im Einzelfall gerechtfertigt ist (vgl. Urteil des BSG vom 18. November 2014, Az. B 8 SO 9/13 R, juris Rdnr. 28 = SozR 4-3500 § 25 Nr. 5). Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist insoweit jedenfalls hinsichtlich eines Ermessensanspruchs von einer hohen Erfolgsaussicht in der Hauptsache auszugehen. Mit den Einwendungen des Sozialgerichts gegenüber der Rechtsprechung der mit den Angelegenheit der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II befassten Senate des Bundessozialgerichts wird sich der Senat ggf. im Hauptsacheverfahren auseinandersetzen.

Voraussetzung für die Gewährung von Ermessensleistungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ist nach der Rechtsprechung des BSG jedoch, dass ein Aufenthaltsrecht im streitigen Zeitraum nicht gegeben ist. Sofern ein Aufenthaltsrecht aus einem anderen Grund als der Arbeitssuche vorläge, wäre der Beigeladene leistungspflichtig. Ob dieses vorliegt, ist im vorliegenden Fall allerdings fraglich, der Senat sieht ein Daueraufenthaltsrecht letztlich jedoch nicht als glaubhaft gemacht an. Das Sozialgericht Berlin und das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hatten in ihren o.g. Beschlüssen vom 9. Oktober 2015 bzw. vom 28. Dezember 2015 angenommen, dass ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin nicht besteht. Im vorliegenden Verfahren sind, soweit ersichtlich erstmals, jedoch die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2007 bis 2009 von der Antragstellerin vorgelegt worden. Dies ist zumindest ein Indiz dafür, dass sie in diesem Zeitraum in Deutschland selbständig tätig war und, sollte dies der Fall sein, sich dann auch gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU 2004 erlaubt in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hätte. Zusammen mit den Beschäftigungszeiten vom 3. Mai 2011 bis 19. Juli 2013, in denen sich die Antragstellerin wohl gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU 2004 erlaubt in Deutschland aufgehalten hat, und möglichen weiterbestehenden erlaubten Aufenthalten in Zeiten der Arbeitslosigkeit gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU 2004 könnte sich ein Aufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU 2004, ergeben. Nach dieser Vorschrift haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 [FreizügG/EU 2004] das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). Zur Ermittlung, ob ein solches Daueraufenthaltsrecht durch einen zusammenhängenden erlaubten mindestens fünfjährigen Aufenthalt in Deutschland erworben wurde, z.B. im Zeitraum vom 3. Mai 2007 bis zum 2. Mai 2012 oder in einem später gelegenen Fünfjahreszeitraum, bedürfte es jedoch aufwändiger Ermittlungen. So müsste z.B. genauer ermittelt werden, ob in den Jahren 2007 bis 2009, für die die Einkommensteuerbescheide nunmehr vorliegen, durchgehend eine selbständige Tätigkeit vorlag oder, ggf. in Zwischenzeiten, ein den erlaubten Aufenthalt aufrecht erhaltender Tatbestand gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU 2004. Insbesondere die Zeiten der Arbeitslosigkeit sind nicht geklärt, es ist möglich, dass die Klägerin nach der letzten Beschäftigung im Juli 2013 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch/Drittes Buch (SGB III) hatte. Voraussetzung für die Aufrechterhaltung eines erlaubten Aufenthaltes gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU 2004 ist eine von der zuständigen Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit. Hierzu müssten Ermittlungen bei der Arbeitsagentur vorgenommen werden, weiter möglicherweise beim Finanzamt. Da die Antragstellerin in der Zeit vom 20. April 2011 bis 22. September 2013 nicht in Berlin gemeldet war, wäre auch zu klären, ob sie sich hier tatsächlich, trotz eines möglicherweise vorliegenden Meldeverstoßes, in Deutschland aufgehalten und hier gearbeitet hat, da für den gleichen Zeitraum ein Beschäftigungsverhältnis bestand. Dabei ist nicht wahrscheinlich, dass sie in Polen wohnhaft war und nur zur Arbeit nach Berlin gefahren ist, da ihr Heimatort, Pi T, 574 km von Berlin entfernt liegt (Quelle: google maps). Mit dem Auto benötigt man 5 Stunden 36 Minuten, mit dem Zug 7 Stunden 35 Minuten, um Berlin zu erreichen. Auffällig ist auch, dass die Antragstellerin während ihrer Haft in Polen in der Zeit von Oktober 2014 bis Juli 2015 weiterhin in Berlin gemeldet war, was dafür sprechen könnte, dass sie auch in dieser Wohnung bei einer anderen Person wohnte, da sie die Wohnung ohne Einkünfte nicht hätte halten können. Möglicherweise lag jedoch auch nur eine unterbliebene Abmeldung vor.

Die erforderlichen Ermittlungen sind im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zu leisten, dem Senat reichen die bisherigen Erkenntnisse jedoch nicht aus, um ein Aufenthaltsrecht gemäß § 4 a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU 2004 als glaubhaft gemacht anzusehen und nicht den Antragsgegner, sondern den Beigeladenen zu verpflichten, wobei einer Verpflichtung des Antragsgegners die Rechtskraft der Beschlüsse vom 9. Oktober 2015 bzw. vom 28. Dezember 2015 nicht entgegenstehen dürfte, da ggfs. der Antrag bei dem Antragsgegner nach dem Meistbegünstigungsprinzip (auch) als (neuer) Antrag bei dem Beigeladenen gelten dürfte (vgl. zu der Frage der Wirkung der Antragstellung auch für den jeweils anderen Träger: Link in Eicher, Kommentar zum SGB II, 3. Auflage, § 37 Rdnr. 29 m.w.N.).

Wenn jedoch davon auszugehen ist, dass kein Aufenthaltsrecht und auch kein ansonsten erlaubter Aufenthalt nach dem FreizügG/EU 2004 vorliegt, da die Klägerin zumindest seit ihrer Entlassung aus der Haft in Polen am 14. Juli 2015 sich länger als sechs Monate in Deutschland aufgehalten hat, ohne eine Beschäftigung zu finden oder eine selbständige Tätigkeit auszuüben, würde sie sich zumindest seit Mitte Januar 2016 nicht mehr erlaubt in Deutschland aufhalten und damit die Voraussetzungen für Ermessensleistungen nach der Rechtsprechung des BSG erfüllen. [...]