VGH Baden-Württemberg

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VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.04.2016 - 11 S 393/16 (= ASYLMAGAZIN 7/2016, S. 225 ff.) - asyl.net: M23794
https://www.asyl.net/rsdb/M23794
Leitsatz:

1. Ergibt die Prüfung der Beschwerde gegen einen Eilrechtsbeschluss, dass dieser unter Gehörsverstoß gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und Art. 103 Abs. 1 GG zustande gekommen ist, so hat das Beschwerdegericht umfassend zu prüfen, ob Eilrechtsschutz zu gewähren ist, unabhängig davon, ob der Verstoß sich auf eine entscheidungserhebliche Tatsache bezieht (in Fortführung seiner Rechtsprechung: Beschluss vom 27.02.2014, Az. 8 S 2146/13).

 

2. Die Einzelrichterentscheidung darf erst nach Wirksamkeit des Übertragungsbeschlusses ergehen.

 

3. Die grundlegende Neuregelung des Ausweisungsrechts zum 1.1.2016 beinhaltet keine neue Beschränkung i.S.d. Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80. (Diese Frage offengelassen bezüglich neuer ab dem 17.3.2016 eingeführter Ausweisungsinteressen.)

 

4. Dem zum 17.3.2016 ausdrücklich eingeführten Kriterium der Rechtstreue i.S.d. § 53 Abs. 2 AufenthG kommt keine neue, eigenständige Bedeutung im Rahmen der auch zuvor gesetzlich geforderten Gesamtabwägung zu.

 

5. Die Befristung des von der Ausweisung ausgelösten Einreise- und Aufenthaltsverbots ist entgegen dem Wortlaut des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine gebundene Entscheidung. Die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung hängt nicht von der rechtmäßigen Bestimmung der Länge dieser Befristung ab.

Schlagwörter: Ausweisung, Einzelrichterbeschluss, Übertragung auf den Einzelrichter, Einreiseverbot, Aufenthaltsverbot, Rechtstreue, Befristung, gebundene Entscheidung, Prognose, allgemeine Gefahr, Gefährdungsprognose, Strafurteil, Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, öffentliche Sicherheit und Ordnung, Jugendstrafe, Wiederholungsgefahr, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Einzelrichter, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Straftat,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 53 Abs. 2, AufenthG § 53 Abs. 3, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1a, AufenthG § 55 Abs. 1 NR. 1, ARB 1/80 Art. 13, GG Art. 103 Abs. 1, VwGO § 5 Abs. 3, VwGO § 6, VwGO § 108 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 11 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 55,
Auszüge:

[...]

I. 1. Das Verwaltungsgericht hat u.a. entschieden, dass der Antragsgegner hinsichtlich des Antragstellers eine zutreffende Gefährdungsprognose gestellt habe. Dabei sei das zur Ausweisung führende Strafurteil ausführlich ausgewertet worden. [...]

Mit der Beschwerde wird hiergegen geltend gemacht, dass der Antragsgegner und das Verwaltungsgericht dem Antragsteller das Tatmerkmal der Heimtücke vorwürfen. Das Landgericht habe den Antragsteller aber nicht wegen versuchten Mordes, sondern wegen versuchten Totschlags verurteilt.

2. Mit diesem zutreffenden Vorbringen zieht die Beschwerde den angegriffenen Beschluss erfolgreich in Zweifel, da der Sache nach ein Verstoß sowohl gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO iVm. § 122 Abs. 1 VwGO als auch gegen Art. 103 Abs. 1 GG dargetan ist, der auch vorliegt. [...]

b) Der angegriffene Beschluss verstößt [...] gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und Art. 103 Abs. 1 GG, da mit ihm eine aktenwidrige Feststellung zum entscheidungsrelevanten Sachverhalt getroffen wird. Das Verwaltungsgericht geht davon aus, dass die Feststellungen des Antragsgegner-Vertreters im angegriffenen Bescheid [...] zur heimtückischen Verwendung der Tatwaffe zutreffend seien und übernimmt diese auch für sich und die weitere Würdigung. Hingegen hat das Landgericht im seinem Strafurteil [...] ein heimtückisches Handeln des Antragstellers mangels Arglosigkeit des Opfers ausdrücklich verneint [...]. Die zutreffende tatsächliche und rechtliche Erfassung der Straftat, die zu einer strafgerichtlichen Verurteilung geführt hat, die wiederum der Ausgangspunkt einer Ausweisungsverfügung geworden ist, ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Ausweisungsverfügung zwingend zum entscheidungsrelevanten Sachverhalt zu rechnen.

II. 1. a) Ergibt die auf dargelegte Gründe beschränkte Prüfung des Beschwerdegerichts (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), dass die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht rechtfertigt, hat es umfassend zu prüfen, ob vorläufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.03.2013 - 8 S 2504/12 -, VBlBW 2013, 384 m.w.N.). Dies gilt auch dann, wenn der angegriffene Beschluss - wie hier - unter Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und Art. 103 Abs. 1 GG zustande gekommen und dies mit der Beschwerde geltend gemacht worden ist. Eine isolierte Prüfung, ob der Gehörsverstoß sich auch nach der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts auf eine entscheidungserhebliche Tatsache bezieht und die angegriffene Entscheidung also auf dem Grundrechtsverstoß beruht, hat im Unterschied zum Berufungszulassungsverfahren, zur Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision und zum Revisionsverfahren (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 124a, Rn. 224) zu unterbleiben. Denn im Unterschied zu den genannten Verfahrensarten ist das Beschwerdeverfahren grundsätzlich unmittelbar auf die endgültige Entscheidung über das Rechtsschutzgesuch gerichtet (VGH Bad-Württ., Beschluss vom 27.02.2014 - 8 S 2146/13 -, VBlBW 2015, 78; SächsOVG, Beschluss vom 15.03.2016 - 3 B 302/15 -, juris, Rn. 7, BayVGH, Beschluss vom 19.01.2015 - 10 C 14.1799 -, juris, Rn. 14).

b) Mit der umfassenden Prüfung durch den Senat (unter 2.b)) wird auch der dem angegriffene Beschluss anhaftende Verstoß gegen § 5 Abs. 3 VwGO geheilt.

Die Kammer in der Besetzung von drei Richterinnen und nicht die Einzelrichterin wäre zur Entscheidung berufen gewesen, da der Beschluss über die Übertragung des Rechtsstreits auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Sachentscheidung selbst noch nicht wirksam geworden war. [...]

Der Beschluss zur Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter muss vor der Sachentscheidung durch den Einzelrichter wirksam werden.

Darüber hinaus kann eine spätere Bekanntgabe nicht zurückwirken; Entscheidungen des Einzelrichters, die dieser vor seiner wirksamen Bestellung trifft, sind auch dann nicht vom zuständigen Richter erlassen, wenn der Übertragungsbeschluss nachfolgend bekannt gegeben wird (Stelkens/Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Mai 2010, § 6, Rn. 46; Funke-Kaiser, in: Bader u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 6, Rn. 12; aA. Geiger, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 6, Rn. 10; Gersdorf, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 01.07.2015, § 6, Rn. 18), weil es an einer gesetzlichen Anordnung der Möglichkeit fehlt, gerichtliche Beschlüsse rückwirkend wirksam werden zu lassen.

bb) Gemessen hieran war die Einzelrichterin zum Zeitpunkt der Übergabe des hier angegriffenen Beschlusses nicht zur Entscheidung berufen. [...] Damit sind die beiden Beschlüsse zeitgleich - frühestens mit der Herausgabe der Beschlüsse an die Post (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.01.1994 - 6 C 2.92 -, BVerwGE 95, 64) - wirksam geworden, was nach Vorstehendem dazu führt, dass eine Zuständigkeit der Einzelrichterin zum erheblichen Zeitpunkt nicht wirksam begründet worden ist.

2. Die umfassende Prüfung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO durch den Senat ergibt, dass das Verwaltungsgericht diesen in der Sache zu Recht abgelehnt hat. [...]

Der Klage kommen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. BVerwG, Urteile vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261, Rn. 8 und vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, BVerwGE 144, 230, Rn. 16) weder gegen die Ausweisungsverfügung (a) noch gegen die Abschiebungsandrohung mit Ausreisefristsetzung (b) Erfolgsaussichten zu. Darüber hinaus liegt auch das erforderliche besondere Vollzugsinteresse vor, das den Vollzug der Ausweisungsverfügung und der Abschiebungsandrohung vor Rechtskraft der Entscheidung im Hauptsacheverfahren rechtfertigt (c).

a) Die gegen den Antragsteller verfügte Ausweisung ist rechtmäßig ergangen. Ermächtigungsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 1a AufenthG in der seit dem 17. März 2016 geltenden Fassung (Art. 1 des Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016, BGBl. I., S. 394). [...]

Dieser Grundtatbestand des neuen Ausweisungsrechts [AufenthG § 53 Abs. 1] umreißt die Ausweisungszwecke auf tatbestandlicher Ebene, die in § 54 AufenthG in vertypter und zugleich gewichteter Form als Ausweisungsinteressen ausdifferenziert werden. Ein Ermessen ist der Ausländerbehörde aufgrund des gesetzlichen Systemwechsels, hin zu einer gebundenen Entscheidung, nicht mehr eingeräumt (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 -, juris, Rn. 49; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., 2016, § 53 AufenthG, Rn. 5; Neidhardt, in: HTK-AuslR, § 53 AufenthG, Abs. 1, Stand 10.02.2016, Rn. 54 ff.).

Hier erfüllt das Verhalten des Antragstellers das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und - soweit mit Blick auf Art. 13 ARB 1/80 anwendbar - des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG (1). Dem Ausweisungsinteresse gegenüberzustellen ist das Bleibeinteresse des Antragstellers nach § 55 AufenthG, das der Gesetzgeber ebenfalls vertypt und zugleich gewichtet, hat (2). Der Aufenthalt des Antragstellers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung (3). § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt davon ausgehend ein Überwiegen des Interesses an der Ausreise, im konkreten Fall in Form des Interesses an der Beendigung der Rechtsmäßigkeit des weiteren Aufenthalts, das unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles im Rahmen einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung festzustellen ist, wobei in die hierbei vorzunehmende umfassende und abschließende Abwägung des Ausweisungsinteresses mit dem Bleibeinteresse die in § 53 Abs. 2 AufenthG niedergelegten Umstände einzubeziehen sind (4). Auch die hier einschlägigen Vorgaben des § 53 Abs. 3 AufenthG werden durch die Ausweisungsverfügung beachtet (5).

(1) Beim Antragsteller liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, da er wegen einer vorsätzlichen Straftat - nämlich wegen eines versuchten Totschlags in Tateinheit mit einer gefährlichen Körperverletzung - zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren - nämlich drei Jahren und sechs Monaten - verurteilt worden ist. Damit lag beim Antragsteller auch nach der vom 1. Januar 2016 bis zum 16. März 2016 geltenden Fassung des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor. Dort war bei Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse typisiert worden. Jedenfalls diese erste Neufassung des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist auch unbeschadet der Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 hier einschlägig. Denn der mit der grundlegenden Neuregelung des Ausweisungsrechts durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I, S. 1386) einhergehende Systemwechsel, weg von einer Ausweisung im Ermessenswege, hin zu einer zwar gebundenen, dafür aber anhand des Maßstabes der Verhältnismäßigkeit zu messenden, beinhaltet bei der gebotenen Gesamtbetrachtung keine neue Beschränkung in Sinne der Stand-Still-Klauseln des Assoziationsrechts (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 - juris, Rn. 150).

Mit der Verurteilung vom 21. Januar 2013 erfüllt der Antragsteller auch den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, denn er ist wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen das Leben zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden und hat die Straftat mit Gewalt begangen. Es kann offen bleiben, ob die Vorschrift des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG auf den von Art. 13 ARB 1/80 begünstigten Personenkreis anwendbar ist oder sich die nachträgliche Einfügung eines ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse typisierenden Tatbestands als neue Beschränkung der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 darstellt, ohne dass dies durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt wäre (siehe zu dieser immanenten Schranke der Stand-Still-Klausel des Art. 13 ARB 1/80: EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C 225/12 - <Demir>, NVwZ-RR 2014, 115 Rn. 40) mit der Folge, dass dieser Tatbestand außer Anwendung zu bleiben hätte. Ebenso kann offen bleiben, ob die Einführung neuer Ausweisungsinteressen nach dem 1. Januar 2016 überhaupt um eine neue Beschränkung im Sinne der Stand-Still-Klauseln des Assoziationsrechts darstellt oder mit Blick darauf, dass die verschiedenen Ausweisungsinteressen Teil der nach den § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG geforderten Gesamtabwägung sind, deren Ausgang wiederum an § 53 Abs. 3 AufenthG zu messen ist, soweit eine Privilegierung nach Art. 14 ARB 1/80 vorliegt, eine Neugewichtung von Interessen und Belangen durch den Gesetzgeber vor Art. 13 ARB 1/80 weitgehend unproblematisch erscheint. Denn in den Fällen, in denen durch eine strafrechtliche Verurteilung aufgrund einer Tat im materiellen Sinne mehrere Tatbestände des § 54 AufenthG erfüllt werden, führt dies nicht zu einer typisierten Verstärkung des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses. Daher kommt es hier nicht darauf an, ob neben § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ein weiterer Tatbestand auf ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse führt oder ob § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG bei Verurteilungen wegen Straftaten gegen das Leben im Verhältnis zu § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG die speziellere Norm ist.

(2) Dem Antragsteller kommt ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse zu, da dieser im Zeitpunkt des Ergehens der Ausweisungsverfügung eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).

(3) Der Aufenthalt des Antragstellers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG.

Die hohe vom Antragsteller ausgehende Wiederholungsgefahr folgt aus seiner hohen Aggressivität, die sich in dem der Ausweisung zugrunde liegenden Verbrechen das erste Mal aktenkundig manifestiert hat. Der Senat schließt sich den Ausführungen der 4. großen Jugendkammer des Landgerichts an, wonach bei der Tatbegehung aus nichtigem Anlass die hohe Hemmschwelle eines vorsätzlichen Tötungsdelikts überwunden worden ist. Daraus, dass der Anlass für die Tat und deren Ausführung in keinem auch nur im Ansatz nachvollziehbaren Verhältnis zueinander stehen, schließt auch der Senat darauf, dass beim Antragsteller erhebliche Persönlichkeitsmängel bestehen, die - weiterhin - Anlass zur Befürchtung weiterer gravierender Straftaten geben. Insbesondere hat der Strafvollzug nicht dazu beigetragen, diese vom Aufenthalt des Klägers ausgehende erhebliche Gefahr für Leib und Leben Anderer zu senken. So geht das Amtsgericht Ravensburg in seinem Beschluss vom 22. Juni 2015, mit dem es die Aussetzung der Restjugendstrafe zur Bewährung ablehnt, nach persönlicher Anhörung des Antragstellers davon aus, dieser sich mit seiner Suchtproblematik [,,,] nur unzureichend auseinandergesetzt habe und die bei ihm bestehende Gewalt- und Aggressionsproblematik nicht hinreichend therapiert worden sei. [,,,] Die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit stünden auch angesichts der unbehandelt im Raum stehenden Gewalt- und Suchtproblematik einer vorzeitigen Entlassung klar entgegen. Diese Prognosen des Vollstreckungsgerichts haben sich auch noch während des weiteren Vollzugs als zutreffend erwiesen. So ist der Antragsteller [,,,] in der JVA Ravensburg gegenüber einem Vollzugsbeamten durch Drohung von Anwendung körperlicher Gewalt und durch ein unangepasstes, distanzloses Verhalten aufgefallen. Dies führte zu der Anordnung von zwei Tagen Arrest, dessen Vollzug auf Bewährung ausgesetzt worden ist. Selbst einen Monat vor der Vollverbüßung seiner Strafe, am 17. November 2015, kann es beim Antragsteller zu einem gegen einen Mitgefangenen gerichteten aggressiven Verhalten. Er schlug dabei so heftig gegen eine Glastüre, dass diese zersprang und beleidigte den Mitgefangen u.a. als "Hurensohn". Vor diesem Hintergrund erweist sich die Auffassung des Antragsgegner-Vertreters und des Verwaltungsgerichts, dass beim Antragsteller eine bedeutende Wiederholungsgefahr vorliegt, als offenkundig richtig. Unerheblich ist, dass das sich beim Antragsteller zeigende aggressive, gewalttätige Verhalten nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung, sondern allein zu einer disziplinarischen Ahndung geführt hat. Denn für die Bejahung einer Wiederholungsgefahr bedarf es keiner weiteren strafrechtlichen Verurteilungen, sondern der Bewertung der Gesamtpersönlichkeit, für die als ein wesentlicher Gesichtspunkt das Verhalten während des Strafvollzugs heranzuziehen ist.

Nicht durchzudringen vermag der Antragsteller mit seinem Vortrag in der Klagebegründung, die Entscheidung der Strafvollstreckungsgerichte, die am Maßstab des § 88 JGG orientiert seien, bezögen sich auf die Gefahr der Begehung jeglicher Straftaten, ohne dass es auf eine - zu erwartende - Tatschwere ankommen könne, deswegen sei auch nicht festgestellt, dass vom Antragsteller weitere schwere Gewalttaten zu erwarten seien. Denn sowohl die begangene Tat als auch das Verhalten des Antragstellers im Strafvollzug lassen keinen ernstlichen Zweifel daran bestehen, dass er - weiterhin - Gewalt auch gegen Personen als Lösung von tatsächlichen oder von ihm angenommenen Konflikten, seien sie auch noch so unbedeutend, ansieht. Im Übrigen ist auch bei einer Entscheidung nach § 88 Abs. 1 JGG das Restrisiko möglicherweise doch drohender Straftaten zu bewerten, wobei bei der Frage, ob dieses vertretbar oder unvertretbar ist, die Bedeutung und Wertigkeit des gefährdeten Rechtsguts zentral ist. Je höherwertiger das gefährdete Rechtsgut, umso geringer muss das Risiko eines Rückfalls sein, um den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit im Sinne des § 88 Abs. 1 JGG den Vorzug zu geben (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24.07.2006 - 3 Ws 213/06 -, StV 2007, 12). Daher bezieht sich die Prognose in den Beschlüssen des Amts- und des Landgerichts Ravensburg nicht auf das Risiko der Begehung von Bagatellstraftaten durch den Antragsteller.

Soweit der Antragsteller - mit der Klagebegründung - geltend macht, dass vieles dafür spreche, dass sein Reifeprozess noch nicht abgeschlossen sei und sein jugendspezifisches Aggressionsverhalten sich auch ohne besondere Therapie bessern könne und diese deshalb nicht die einzige Möglichkeit sei, sein Leben künftig besser in den Griff zu bekommen, zeigt dies nicht auf, dass die Gefahrenprognose im angegriffenen Bescheid zu seinen Lasten fehlerhaft sein könnte. Denn letztlich räumt er damit ein derzeit bestehendes hohes Aggressionspotential ein. Hingegen ist der Umstand, dass der Antragsteller, wie in der Klagebegründung formuliert - "…zu der Auffassung gelangt ist, dass er für sich keine Wiederholungsgefahr mehr sieht und deshalb keine Sozialtherapie braucht…“, ein neuerlicher deutlicher Beleg dafür, dass der Antragsteller die Tat und ihren Ursprung nicht aufzuarbeiten willens ist, so dass die in der Tat zum Ausdruck gebrachte erhebliche Gefährlichkeit weiterhin fortbesteht. Im Übrigen vermag der Senat in dem begangenen versuchten Totschlag kein jugendspezifisches Aggressionsverhalten zu erkennen.

Entgegen dem Beschwerdevorbringen bedürfen die Verwaltungsgerichte im Falle des Antragstellers keines Sachverständigen, um die Frage der vom Aufenthalt des Klägers ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit hinreichend festzustellen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist nämlich geklärt, dass bei der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisung eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers hinsichtlich der gebotenen Gefahrenprognose nicht allein auf das Strafurteil und die diesem zugrunde liegende Straftat, sondern auf die Gesamtpersönlichkeit abzustellen ist und dabei auch nachträgliche Entwicklungen einzubeziehen sind. Bei dieser Prognoseentscheidung bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, BVerwGE 144, 230, Rn. 12 und Beschluss vom 11.09.2015 - 1 B 39.15 - InfAuslR 2016, 1, Rn. 12).

(4) (a) § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt davon ausgehend ein Überwiegen des Interesses an der Ausreise, [,,,] wobei in die hierbei vorzunehmende Abwägung des Interesses an der Ausreise mit dem Bleibeinteresse die in § 53 Abs. 2 AufenthG niedergelegten Umstände in wertender Gesamtbetrachtung einzubeziehen sind. Diese sind, nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner, sowie - in der seit dem 17. März 2016 geltenden Fassung - die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, wobei die in Absatz 2 aufgezählten Umstände weder abschließend zu verstehen sind, noch nur zu Gunsten des Ausländers ausfallen müssen. Zudem sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie und die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen. Umstände im Sinne des § 53 Abs. 2 AufenthG prägen den Einzelfall insoweit, als sie über die den vertypten Interessen zugrunde liegenden Wertungen hinausgehen, diese unterschreiten oder ihnen entgegenstehen. Insbesondere ist hier der Frage nachzugehen, ob und in welchem Maße die konkreten Umstände des Einzelfalles signifikant von vertypten gesetzlichen Wertungen abweichen. Sind im konkreten Fall keine Gründe von erheblichem Gewicht - etwa auch solche rechtlicher Art - ersichtlich, die den gesetzlichen Wertungen der §§ 54, 55 AufenthG entgegenstehen, wird regelmäßig kein Anlass bestehen, diese Wertungen einzelfallbezogen zu korrigieren. [,,,]

(b) Bei der erforderlichen Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen am weiteren Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet ist zu seinen Gunsten insbesondere in den Blick zu nehmen, dass er seit seiner Geburt in der Bundesrepublik Deutschland lebt, hier seine Schul- und Berufsausbildung absolviert hat, dass seine Eltern und Geschwister im Bundesgebiet leben und sein Bleibeinteresse schon allein aufgrund der gesetzgeberischen Wertung in § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer wiegt. Weiter ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu seinen Gunsten zu unterstellen, dass sein Vortrag, in der Türkei lebten keine Verwandten ersten bis dritten Grades, zutreffend ist und die Ausweisung auch deshalb eine erheblichen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 GRCh) darstellt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass er nach der Entlassung aus der Strafhaft zwischenzeitlich wieder in die elterliche Wohnung eingezogen und mit seinen Eltern in familiärer Lebensgemeinschaft lebt.

Der Senat glaubt dem Antragsteller nicht, dass er nur rudimentäre Kenntnisse der türkischen Sprache haben will. Das Landgericht hat in seinem Strafurteil nämlich aufgrund der Angaben des Antragstellers in der Hauptverhandlung festgestellt, dass in seiner Familie deutsch und türkisch gesprochen werde. Es kann dahinstehen, ob er die türkische Schriftsprache tatsächlich nicht beherrscht, wie er behauptet. Da er alphabetisiert ist und er hinreichende Kenntnisse der gesprochenen türkischen Sprache besitzen dürfte, spricht nichts dagegen, sich in kürzerer Zeit auch die Schriftsprache anzueignen.

(c) Zu Lasten des Antragstellers ist bereits die abstrakte Schwere des begangenen Verbrechens, das zum Entstehen des Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 1a AufenthG geführt hat, zu berücksichtigen. Neben der oben bereits festgestellten besonders hohen Wiederholungsgefahr, die sich auch während des gesamten Strafvollzugs immer wieder bestätigte und die zwischenzeitlich auch nicht durch die Teilnahme an einer Therapie gesenkt worden ist, muss zu Lasten des Antragstellers auch die fehlende Bereitschaft und / oder Fähigkeit zur Rechtstreue (zur Problematik dieses Tatbestandsmerkmals: Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416 <420>) berücksichtigt werden.

Der Antragsteller ist bereits als Jugendlicher im Alter von 15 Jahren sieben tatmehrheitlicher Vergehen des gemeinschaftlichen Diebstahls im besonders schweren Fall, davon in drei Fällen als Versuch schuldig gesprochen worden. Er hatte eine Arbeitsauflage von 70 Stunden abzuleisten. Auch im Strafvollzug verstieß er wiederholt gegen die Hausordnung und verhielt sich trotz wiederholter disziplinarischer Ahndungen distanzlos und beachtete Regeln nicht. Auch insoweit verhielt er sich nicht rechtstreu im Sinne des § 53 Abs. 2 AufenthG. Eine neue, eigenständige Bedeutung kommt diesem zum 17.03.2016 ausdrücklich eingeführten Abwägungskriterium aber nicht zu. Diese Umstände waren auch zuvor bei der erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bewerten und zu berücksichtigen und sind insbesondere auch im Rahmen der Gefahrenprognose auch vor der Gesetzesänderung von erheblicher Bedeutung gewesen.

(d) Das Ergebnis der gesetzlich geforderten Gesamtabwägung ist hier ein deutliches Überwiegen des - öffentlichen - Interesses an der Ausreise gegenüber den bestehenden, besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen. Die hohe Gefahr der Begehung von Gewaltstraftaten durch den Antragsteller ist auch mit Blick auf seine Bindungen an das Bundesgebiet und seine im Faktischen nur lose Bindung an die Türkei nicht hinzunehmen, die Ausweisung erweist sich trotz der erheblichen Eingriffe in den Rechtskreis des Antragstellers als verhältnismäßig.

Der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist gemessen an den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Anforderungen (zu den Kriterien siehe insbesondere EGMR, Urteile vom 18.10.2006 - 46410/99 <Üner> -, NVwZ 2007, 1279 und vom 02.08.2001 - 54273/00 <Boultif> -, InfAuslR 2001, 476 -; ausführlich auch: Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., 2016, Vorb §§ 53-56 AufenthG, Rn. 95 ff. und Mayer, VerwArch 2010, 482 <530 ff.>, m.w.N.) mit Blick auf die erheblichen vom Aufenthalt des Klägers ausgehenden Gefahren für Leben und die körperliche Unversehrtheit anderer gerechtfertigt.

Dies gilt auch hinsichtlich Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich bei langjährigem rechtmäßigen Inlandsaufenthalt aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, dass die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, die Integration in die deutsche Gesellschaft, auch soweit sie keinen familiären Bezug hat, und das Fehlen tatsächlicher Bindungen an den Staat seiner Staatsangehörigkeit bei einer Ausweisung angemessen zu gewichten sind (BVerfG, Beschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 -, NVwZ 2007, 1300). Diesen Beziehungen kommt bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zu (BVerfG, Beschluss vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 -, NVwZ 2007, 946; Thym, EuGRZ 2006, 541 <544>; Hoppe, ZAR 2006, 125 <130>; Hofmann, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Art. 8 EMRK, Stand: 01.11.2015, Rn. 20 ff.; Beichel-Benedetti, in: Huber, AufenthG, 1. Aufl., 2010, Vorb §§ 53-56 AufenthG, Rn. 14 ff.). Daraus folgt auch für Ausweisungen von Ausländern, die über keine schützenswerten familiären Bindungen im Sinne von Art. 6 GG verfügen, eine Verpflichtung zur einzelfallbezogenen Abwägung unter angemessener Berücksichtigung dieser das Recht auf Privatleben konstituierenden Bindungen. Fehlen Bindungen an den Herkunftsstaat, kann sich daraus eine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung - selbst bei langjährigen Freiheitsstrafen und zahlreichen Verurteilungen - ergeben (vgl. die Nachweise bei Mayer, a.a.O.). Andererseits folgt aus fehlenden Bindungen an den Herkunftsstaat aber nicht, dass eine Ausweisung sich deshalb stets als unverhältnismäßig erweisen würde. Dem Antragsteller kann es zugemutet werden, neue Bindungen und Beziehungen in der Türkei aufzubauen und sie dort mit Leben zu erfüllen. Dies gilt insbesondere wegen der festgestellten, außergewöhnlich hohen Wiederholungsgefahr. Weiter wesentlich für dieses klare Abwägungsergebnis dürfte auch sein, dass keine Familienangehörigen auf die Anwesenheit des Antragstellers im Bundesgebiet angewiesen sind. Es spricht auch nichts dafür, dass sein Einzug in den elterlichen Haushalt und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sich unmittelbar günstig auf das vorhandene Aggressionspotential des Antragstellers auswirken könnten, nachdem er dessen Ursachen bislang nicht hinreichend bekämpft hat.

(5) Die verfügte Ausweisung des Antragstellers genügt auch den Anforderungen des § 53 Abs. 3 Var. 4 AufenthG. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(a) Dem Antragsteller kommt als in Deutschland geborenen Sohn eines hier abhängig beschäftigten türkischen Staatsangehörigen freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis zu im Sinne des Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 (siehe zum "Nachzug" im Sinne des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 durch Geburt: EuGH, Urteil vom 11.11.2004 - C-467/02 <Cetinkaya> -, InfAuslR 2005, 13 Rn. 26). Da sein Vater mehr als drei Jahre ordnungsgemäß im Bundesgebiet beschäftigt war und der Antragsteller in Deutschland seine Berufsausbildung zum Teilezurichter abgeschlossen hat, darf er sich auf jedes Stellenangebot bewerben (Art. 7 Satz 2 ARB 1/80).

(b) Die Vorgaben des § 53 Abs. 3 AufenthG sind in ihrer Reichweite vor dem Hintergrund der jeweils unionsrechtlich privilegierten Personengruppe autonom unionsrechtlich und insbesondere bereichsspezifisch eigenständig auszulegen, was sich auch aus der Gesetzesbegründung ergibt (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 -, juris, Rn. 123; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 53 AufenthG, Rn. 54). Der unionsrechtliche Bezugsrahmen für Art. 14 ARB 1/80 ist dabei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44). Danach ist eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung - im Sinne des Unionsrechts - mit Art. 14 ARB 1/80 zu vereinbaren, sofern das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - C-371/08 <Ziebell> -, NVwZ 2012, 422, Rn. 86).

(c) Auch gemessen an diesen Maßstäben erweist sich die gegen den Antragsteller verfügte Ausweisung als rechtmäßig. Angesichts der hohen Gefahr für Leib und Leben anderer, die durch den Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet ausgeht (siehe oben), ist auch eine tatsächliche und schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft festzustellen, denn die Gefahr von Kapitalverbrechen, noch dazu bei einer gleichsam willkürlichen Auswahl der potentiellen Opfer, bedroht die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung insgesamt und damit sogar die öffentliche Sicherheit im unionsrechtlichen Sinne (vgl. EuGH, Urteil vom 23.11.2010 - C-145/09 - <Tsakouridis>, NVwZ 2011, 221, Rn. 47). Die Maßnahme erweist sich auch am Maßstab des Art. 14 ARB 1/80 gemessen als verhältnismäßig und damit unerlässlich (siehe zum Begriff der Unerlässlichkeit als Umschreibung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit: Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Art. 14 ARB 1/80 Rn. 42). Hier gilt angesichts der erheblichen vom Antragsteller ausgehenden Gefahren nichts anderes als oben zu § 53 Abs. 2 AufenthG bereits ausgeführt.

bb) Das von der Ausweisung ausgelöste Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 AufenthG) ist entsprechend den Vorgaben des § 11 Abs. 2 Sätze 1 bis 4 AufenthG mit dem angegriffenen Bescheid befristet worden. Nach der Rechtsprechung des beschließenden Senats handelt es sich bei der Befristungsentscheidung - entgegen dem Wortlaut des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG - weiterhin um eine gebundene, gerichtlich vollständig überprüfbare Entscheidung (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 09.12.2015 - 11 S 1857/15 -, juris Rn. 25). Daraus folgt, dass mit rechtskräftigem Abschluss des Klageverfahrens gesichert eine Entscheidung zur Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots besteht und nicht - wie bei der Annahme eine Ermessensentscheidung über die Dauer der Befristung - die Folge einer aufzuhebenden weil ermessensfehlerhaften Befristungsentscheidung eine im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fehlende Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots mit der Folge der Rechtswidrigkeit der Ausweisung selbst sein kann (siehe zum - ausnahmsweisen - Rechtmäßigkeitszusammenhang von Ausweisung und Befristungsentscheidung etwa: EGMR, Urteil vom 27.10.2005 - 32231/02 <Keles> -, InfAuslR 2006, 3). Deshalb hängt die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung nicht von der rechtmäßigen Bestimmung der Länge der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ab. Es bedarf im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes daher keiner inzidenten Überprüfung der Länge der Befristung.

b) Auch die verfügte Abschiebungsandrohung - nebst der Ausreisefristsetzung nach Haftentlassung - ist rechtmäßig. Ermächtigungsgrundlage für die Abschiebungsandrohung ist § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Die dem Antragsteller eingeräumte Ausreisefrist von zwei Wochen nach Haftentlassung ist angesichts des gesetzlich vorgegebenen Rahmens von sieben bis dreißig Tagen ermessensfehlerfrei bestimmt worden. Insbesondere ist die tragende Erwägung im angegriffenen Bescheid für die Unterschreitung der Regelhöchstfrist, dass zu berücksichtigen sei, dass der Antragsteller weder ein Arbeitsverhältnis noch Wohnraum kündigen müsse, nicht zu beanstanden (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).

c) Entgegen der Auffassung der Beschwerde ist die - wenn auch nicht mit einer ausdrücklichen Begründung untermauerte - Auffassung des Verwaltungsgerichts, es bestehe ein besonderes Vollzugsinteresse, dass die Vollziehung der Ausweisung und der daraus resultierenden Ausreisepflicht schon vor rechtskräftigem Abschluss des Klageverfahrens erfolgt, zutreffend. [,,,]

bb) Gemessen an diesen Maßstäben liegt das geforderte besondere Vollzugsinteresse vor. Der Antragsteller ist bis zu seiner Entlassung nach der vollständigen Verbüßung seiner Jugendstrafe immer wieder durch Distanz- und Disziplinlosigkeit im Vollzug aufgefallen. Noch im November 2015 hat er im Rahmen eines Streits mit einem Mitgefangenen eine Glasscheibe mit der Faust zerschlagen. Der damit zum Ausdruck kommende, weiterhin vom Antragsteller nicht kontrollierte Hang zur Gewalttätigkeit rechtfertigt die Prognose, dass von ihm bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, die sich im diesem Zeitraum auch realisieren kann. Dies gilt umso mehr, als der Antragsteller bei der der Ausweisung zugrunde liegenden Tat aus nichtigem Anlass handelte.

Entgegen der Auffassung der Beschwerde ist der Anspruch des Antragsteller auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG durch den Sofortvollzug nicht berührt. Zum einen ist er durch seinen Prozessbevollmächtigten vertreten. Auch kann er sich selbst schriftlich gegenüber dem Verwaltungsgericht äußern. Soweit eine Teilnahme an einer etwaigen mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts über seine Ausweisung erforderlich sein sollte, kommt die Erteilung einer Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 Satz 1 AufenthG in Betracht (vgl. ThürOVG, Beschluss vom 02.12.2014 - 3 EO 757/14 - InfAuslR 2015, 141). [...]