OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.02.2016 - 13 A 59/15.A - asyl.net: M23854
https://www.asyl.net/rsdb/M23854
Leitsatz:

1. Die Fristregelungen der Dublin II-VO begründen für sich genommen keine subjektiven Rechte der Asylsuchenden. Der Kläger hat aber aus dem materiellen Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn feststeht, dass der andere Mitgliedstaat Betroffene aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird.

2. Die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise schließt auch nicht die Zuständigkeit Deutschlands aus, da der Kläger im nicht mehr zuständigen Mitgliedstaat nicht die Prüfung seines Asylantrags verlangen kann.

3. Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids kann nicht als negative Entscheidung gem. § 71a AsylG über die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aufrechterhalten oder umgedeutet werden.

(Jeweils mit zahlreichen Nachweisen zur rechtlichen Diskussion. Die Revision gegen dieses Urteil wurde vom BVerwG zurückgewiesen: Urteil vom 09.08.2016 - 1 C 6.16 - asyl.net: M24188.)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, freiwillige Ausreise, Fristablauf, kein subjektives Recht, keine Umdeutung, Zuständigkeitsübergang, subjektives Recht, Umdeutung, materielles Asylrecht, Aufnahmebereitschaft,
Normen: VO 343/2003 Art. 20, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 19, VwVfG § 47, AsylVfG § 71a,
Auszüge:

[...]

Die zunächst bestehende Zuständigkeit Italiens (a.) ist wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf Deutschland übergegangen (b.). [...]

(1) Die 6-Monats-Frist des Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 1. Alt. Dublin II-VO ist am 2. Oktober 2015 abgelaufen. Das ergibt sich aus Folgendem:

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Nach dem an Italien gerichteten Wiederaufnahmegesuch vom 25. November 2013 aufgrund des Eurodac-Treffers und der fehlenden Reaktion von italienischer Seite begann der Lauf der Frist zunächst am 9. Dezember 2014 (Art. 20 Abs. 1 lit. b) und c) Dublin II-VO). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 4. März 2014 im Verfahren 7 L 74/14 (vor Ablauf der Überstellungsfrist) führte - anders als etwa im Falle eines erfolglosen Eilverfahrens - zur Unterbrechung der Überstellungsfrist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. Juni 2015 – 11 A 890/14.A –, juris Rn. 26; HessVGH, Beschluss vom 25.08.2014 – 2 A 976/14.A; juris, Rn. 14; offenlassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 -, juris Rn. 33).

Entgegen der Auffassung der Beklagten dauert die Unterbrechung der Frist nicht unabhängig vom Fortbestehen der aufschiebenden Wirkung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens (und damit immer noch) an. Das ergibt sich nicht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Danach ist der Beginn der Überstellungsfrist - wenn der Mitgliedstaat einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung kennt und das Gericht dieses Mitgliedstaats seiner Entscheidung eine derartige Wirkung beilegt - unter Berücksichtigung des Zieles der Regelung so zu bestimmen, dass die sechs Monate in vollem Umfang zur Regelung der technischen Probleme für die Bewerkstelligung der Überstellung zur Verfügung stehen. Daraus folgt, dass die Frist nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung läuft, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann (vgl. EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - Rs. C-19/08 -, juris, Rn. 42, 44, 53).

Mit Blick darauf kommt es für den (erneuten) Beginn der Überstellungsfrist auf den Zeitpunkt an, in dem die aufschiebenden Wirkung endet, da die Überstellung dann wieder möglich ist. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage kann enden durch die gemäß § 80 Abs. 7 VwGO erfolgte Änderung bzw. Aufhebung des Beschlusses, mit dem die aufschiebende Wirkung angeordnet wurde (so wohl auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 -, juris Rn. 33 ("solange der Beschluss Bestand hat") sowie ferner gemäß § 80 b Abs. 1 VwGO mit der Unanfechtbarkeit oder, wenn die Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist, drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen die abweisende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels, wobei dies auch gilt, wenn die aufschiebende Wirkung – wie hier – durch das Gericht angeordnet wurde. In Anwendung des Vorstehenden war Beginn der (erneuten) Überstellungsfrist der 2. Januar 2015. Die Zustellung des klageabweisenden Urteils des Verwaltungsgerichts Aachen vom 28. November 2014 erfolgte am 2. Dezember 2014. Maßgebliches Rechtsmittel i.S.v. § 80 b Abs. 1 VwGO ist hier, da die Berufung durch das Verwaltungsgericht nicht zugelassen wurde, der Antrag auf Zulassung der Berufung (§§ 124, 124a VwGO, 78 Abs. 4 AsylG) (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Mai 2001 – 13 B 434/01 –, juris, Rn. 2-4).

Gemäß § 78 Abs. 4 AsylG ist die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils zu beantragen. In dem Antrag sind die Gründe darzulegen. Die Begründungsfrist lief somit am 2. Januar 2015 ab. Nach weiteren drei Monaten - also am 2. April 2015 - endete dann die aufschiebende Wirkung der Klage. Seit diesem Zeitpunkt steht einer Durchführung der Überstellung somit nichts mehr entgegen; einen Antrag auf Fortdauer der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 b Abs. 2 VwGO hat der Kläger nicht gestellt. Die Überstellungsfrist endete damit nach (weiteren) 6 Monaten, also am 2. Oktober 2015.

2. Der Kläger kann sich auf die Zuständigkeit der Beklagten auch berufen.

Die Fristregelungen der Dublin II-VO begründen zwar für sich genommen keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers (a.). Der Kläger hat aber aus dem materiellen Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt (b.). Etwas anderes gilt nur dann, wenn feststeht, dass der andere Mitgliedstaat den Asylbewerber aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird; das ist hier aber nicht der Fall (c.). Die Berufung auf die Zuständigkeit Deutschlands ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer freiwilligen Ausreisemöglichkeit ausgeschlossen (d.).

a. Die Vorschriften über die Überstellungsfrist, Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 Dublin II-VO, und die an ihren Ablauf geknüpfte Rechtsfolge des Zuständigkeitsübergangs, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO, begründen ebenso wie Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO, Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO und die sonstigen Fristregelungen keine einklagbaren subjektiven Rechte der Asylbewerber [...].

b. Der Kläger hat aber aus den materiell-rechtlichen Asylbestimmungen einen Anspruch darauf, dass die unionsrechtlich zuständige Beklagte seinen Asylantrag prüft. [...]

c. Ein Asylbewerber kann, das folgt schon aus den vorstehenden Ausführungen, nur dann nicht die Durchführung des Asylverfahrens in Deutschlands verlangen, wenn die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats feststeht. Das ist hier nicht der Fall. [...]

d. Eine andere Betrachtung lässt sich nicht mit der Begründung rechtfertigen, der Asylbewerber könne freiwillig ausreisen und dadurch das Verfahren selbst beschleunigen.

Zwar geht das Unionsrecht von der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise aus (vgl. Art. 7 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 1560/2003; Art. 19 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 1 lit e) Dublin II-VO). Es ist aber schon fraglich, ob dies eine bindende Vorgabe ist, ob das nationale Recht eine Ausreise auf eigene Initiative ausdrücklich vorsehen muss oder ob die Mitgliedstaaten im Einzelfall eine Ermessensentscheidung dahingehend zu treffen haben, in welcher Weise die Aufenthaltsbeendigung erfolgen soll (vgl. dazu ausführlich VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 24 ff.).

Auf diese Fragen kommt es aber ebenso wenig an wie darauf, ob der Kläger auch noch gegenwärtig, d. h. nach dem Zuständigkeitsübergang, nach Italien ausreisen könnte. Es ist jedenfalls keine rechtliche Grundlage dafür ersichtlich, dass er im nicht mehr zuständigen Staat Italien eine Prüfung seines Asylantrags verlangen kann. Fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Übernahmebereitschaft des anderen Staates auch nach dem Zuständigkeitsübergang auf Deutschland, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Mitgliedstaat im Falle einer freiwilligen Ausreise ein Asylverfahren durchführen wird (OVG NRW, Urteile vom 16. September 2015, - 13 A 2159/14.A -, juris Rn. 136 und - 13 A 800/14.A -, juris, Rn. 136). [...]

3. Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids kann mit Blick auf den (im Klageverfahren korrigierten) Vortrag des Klägers, sein Asylantrag in Italien sei abgelehnt worden, nicht als negative Entscheidung gemäß § 71a AsylG über die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aufrechterhalten oder umgedeutet werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2015 - 1 C 5.15 -, juris, Rn. 26 ff. sowie Beschluss vom 12. Januar 2016 - 1 B 64.15 -; OVG NRW, Urteil vom 16. September 2015, - 13 A 2159/14.A -, juris, Rn. 140).

Ein Verständnis der Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides als Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, scheitert bereits daran, dass durch den Austausch der Rechtsgrundlage prozessual der Streitgegenstand verändert würde. Eine Umdeutung gemäß § 47 Abs. 1 VwVfG kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil die Rechtsfolgen einer Entscheidung nach § 71a AsylVfG für den Kläger ungünstiger wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2015, - 1 C 5.15 -, juris, Rn. 28 ff.). [...]