VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 03.05.2016 - 5 A 54/16 MD - asyl.net: M23858
https://www.asyl.net/rsdb/M23858
Leitsatz:

Zuerkennung subsidiären Schutzes wegen der Gefahr aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts und gefahrerhöhender Umständen, die in der afghanischen Provinz Logar für Familien mit minderjährigen Kindern anzunehmen sind.

Schlagwörter: Afghanistan, Logar, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, gefahrerhöhende Umstände, subsidiärer Schutz, Bürgerkrieg, willkürliche Gewalt, erhebliche individuelle Gefahr, Kinder, minderjährig, Existenzminimum,
Normen: EMRK Art. 3, AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Grundsätzen und auf Grundlage der aktuellen Auskunftslage geht der Einzelrichter davon aus, dass in der Heimatprovinz der Kläger ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, der jedenfalls für die Kläger zu einer erheblichen individuellen Gefahr führt. Ob dieser bewaffnete Konflikt ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass jede Zivilperson bei einer Rückkehr in die Provinz Logar allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein, ob also eine außergewöhnliche Situation vorliegt, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, kann im vorliegenden Fall dahinstehen. Denn im vorliegenden Fall folgt dies jedenfalls aus gefahrerhöhenden Umständen, die in der Provinz Logar für Familien mit minderjährigen Kindern anzunehmen sind.

Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (zuletzt vom 06.11.2015) finden in weiten Teilen Afghanistans gewalttätige Auseinandersetzungen statt. Die Lage ist weder sicher noch stabil. In den letzten beiden Jahren 2014 und 2015 war ein deutlicher Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle zu verzeichnen. Zur Sicherheitslage in Gesamtafghanistan heißt es im ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan (Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan & Chronologie für Kabul, letzte Aktualisierung 15.03.2016) auszugsweise: [...]

Allerdings ist die Lage hinsichtlich der unterschiedlichen Provinzen differenziert zu sehen. Nicht in allen Teilen Afghanistans ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in diesem Sinne auszugehen, bei denen wahllos stattfindende Gewalt insbesondere die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft zieht. Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist deshalb der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15112 - juris). Die Kläger stammen aus der Provinz Logar, so dass hinsichtlich der konkreten Gefahrensituation primär darauf abzustellen ist.

Das quantitative Kernkriterium für die zu treffende Gefahrenprognose ist zunächst die in der maßgebenden Region zu verzeichnende Zahl ziviler Opfer. [...]

Ein weiterer Indikator für die Gefahrenprognose kann die Anzahl der aus dem betroffenen Gebiet geflohenen Personen sein, worauf auch das Bundesamt in seinem Bescheid vom 08.02.2016 zu Recht hinweist. Hierzu stellt EASO fest, dass wegen der schlechten Sicherheitslage allein zwischen November 2014 und Februar 2015 Hunderte Familien aus der Provinz Logar in andere Provinzen, zumeist in die Provinz Kabul, geflohen seien. Viele Familien, die wegen der gewalttätigen Auseinandersetzungen die Provinz Logar gern verlassen würden, hätten sich hierzu aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen nicht in der Lage gesehen (EASO, S. 60). Kann mithin für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum (von November 2014 bis Februar 2015) festgestellt werden, dass derart viele Familien ihre Heimatprovinz verlassen, spricht dies für eine besondere Gefährdungslage gerade dieser Personengruppe in der Provinz Logar.

Bei dieser Sachlage ist vorliegend für die Kläger gefahrerhöhend zu berücksichtigen, dass diese bei einer Rückkehr in ihre Heimatprovinz vorrangiges Ziel von Anschlägen sein könnten. Zum einen stehen Familien mit minderjährigen Kindern der wahllosen Gewalt hilfloser als alleinstehende Erwachsene gegenüber, was - wie dargelegt – auch der vorliegenden Erkenntnislage entspricht. Dies gilt insbesondere für Kinder, die den Angriffen Aufständischer auf dem Weg zur Schule schutzlos ausgeliefert sind. Zum anderen können Angehörige der Zivilbevölkerung nach ihrer Wiedereinreise in Afghanistan, die regelmäßig über den Flughafen Kabul erfolgt, in aller Regel nur über die Hauptverkehrsstraßen ihre Heimatprovinz erreichen. Diese Hauptverkehrsstraßen sind allerdings vorrangig Ziele von Anschlägen der Aufständischen, da sie gerade als militärische Versorgungsstraßen dienen und durch die Anschläge die Versorgung unterbrochen und die Zivilbevölkerung eingeschüchtert werden sollen. Die Gefährlichkeit der Benutzung von Hauptverkehrsstraßen ist jedenfalls für die Heimatprovinz der Kläger anzunehmen, da die Hauptverkehrsstraße der Provinz Logar die Landeshauptstadt Kabul mit Pakistan verbindet und als "Fernstraße der Aufständischen" gilt ("insurgents' highway", EASO, S. 57).

Angesichts dieser Umstände genügt dem Gericht im vorliegenden Fall die dargelegte Gefährdungslage in der Heimatprovinz Logar, um eine ernsthafte individuelle Bedrohung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG annehmen zu können.

Es bestehen keine Schutzmöglichkeiten i.S.d. § 3d AsylG. Sicherheit vor den Kämpfen können die Kläger ausweislich der dargelegten Auskunftslage weder von Seiten der ISAF noch von Seiten der afghanischen Sicherheitskräfte erwarten, die in den Kämpfen die Taliban allenfalls zurückdrängen und schwächen können.

Die Kläger haben auch keine interne Schutzmöglichkeit. In Betracht käme hier lediglich der Großraum Kabul. [...]

Für die Kläger ist damit - unter Berücksichtigung ihrer familiären Verhältnisse - eine ausreichende Existenzgrundlage bei einer Rückkehr nach Kabul nicht gewährleistet. Der 48jährige Kläger zu 1 müsste bei einer Rückkehr nach Afghanistan seine Ehefrau sowie seine sechs Kinder ernähren und versorgen. Er hat zwar eine Schule besucht, allerdings hat er keinen Beruf erlernt. Zuletzt hat er nach eigenen Angaben als Hausmeister bzw. Reinigungskraft in einer Schule gearbeitet. Weiter hat er vorgetragen, sein ganzes Vermögen sei für die Ausreise aufgebraucht worden. Dies ist aufgrund der Erkenntnisse in anderen Verfahren glaubhaft. Weiterhin hat er glaubhaft dargelegt, dass er auf keine finanzielle Unterstützung bei einer Rückkehr nach Afghanistan zurückgreifen kann. Er war auch noch nicht längere Zeit in Kabul. Lediglich während der Flucht hat er einige Tage in Kabul verbracht. Hierzu hat er in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, er sei mit seiner Familie während dieser Zeit bei dem Bruder seiner Schwester untergekommen. Der Bruder sei Obst- und Gemüsehändler gewesen, weshalb sein Verdienst nicht ausgereicht habe, um die Familie des Klägers längerfristig zu ernähren. Der Bruder habe auch keine eigene Wohnung gehabt, sondern lediglich eine Zwei-Zimmer-Wohnung zur Miete bewohnt. Ob seine restliche Familie derzeit noch in der Heimatprovinz lebe, wisse er nicht. Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit seiner Angaben liegen nicht vor. Bei dieser Sachlage wird es dem Kläger zu 1 somit angesichts der wirtschaftlichen Lage in Kabul nur schwerlich möglich sein, eine Arbeit oder Obdach zu finden und zumindest sein Existenzminimum zu sichern. Hinzu kommt, dass der Kläger ausweislich der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen (zuletzt vom 22.04.2016) an einer Vielzahl gesundheitlicher Beschwerden leidet (u.a. Diabetes Typ II, Sekundärarthrosen). Auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung machte der in den Bewegungen verlangsamte Kläger zu 1 nicht den Eindruck, dass er dazu in der Lage sei, körperlich anstrengende Arbeiten zu verrichten. Die Klägerin zu 2. müsste sich bei ihrer Rückkehr nach Kabul um die Kinder kümmern, so dass sie nebenbei auch nicht arbeiten könnte. Auf Grund der streng patriarchalischen Sozialnormen in Afghanistan dürfte sie ohne Erlaubnis ohnehin kaum das Haus verlassen, geschweige denn durch Arbeit zum Familienunterhalt beitragen. [...]