VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 02.05.2016 - M 18 E 16.1267 - asyl.net: M23871
https://www.asyl.net/rsdb/M23871
Leitsatz:

Die afghanische Tazkira ist kein geeignetes Dokument i.S.v. § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zur Feststellung der Minderjährigkeit im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme ausländischer Jugendlicher nach § 42a SGB VIII, da keine hinreichende Gewähr für deren Echtheit und inhaltliche Richtigkeit besteht. Auch der Ankunftsnachweis bzw. die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender eignet sich dazu nicht, da sie auf den eigenen Angaben des Inhabers beruhen. Die hilfsweise durchzuführende qualifizierte Inaugenscheinnahme beschränkt sich nicht auf die Beurteilung des äußeren Erscheinungsbildes, der inhaltlichen Angaben und des Verhaltens des oder der Jugendlichen, sondern ist umfassend unter Berücksichtigung sämtlicher zur Verfügung stehender Erkenntnismittel zu verstehen.

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Altersfeststellung, Inobhutnahme, Inaugenscheinnahme, vorläufige Inobhutnahme, Jugendamt, Ankunftsnachweis, Jugendliche, ausländische Jugendliche, Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender, Volljährigkeit, Afghanistan, Tazkira, ärztliche Untersuchung, medizinische Untersuchung,
Normen: SGB VIII § 42f Abs. 1 S. 1, SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 2, SGB VIII § 42a Abs. 1 S. 1, AsylG § 63a,
Auszüge:

[…]

Eine ordnungsgemäße Altersbestimmung im Sinne dieser Vorschrift hat vorliegend nicht stattgefunden. Offensichtlich nicht möglich ist es, insoweit eine Zugrundlegung der in der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (Ankunftsnachweis) festgehaltenen Daten als Einsichtnahme in Ausweispapiere im Sinne des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu behandeln. Diese Vorschrift bezieht sich nur auf solche Ausweispapiere, die eine hinreichende Gewissheit für die sachliche Richtigkeit der in ihnen enthaltenen Angaben, insbesondere zum Geburtsdatum des Betroffenen ermöglichen. Dies ist bei einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender nach § 63a AsylG offensichtlich nicht der Fall. Dem Eintrag des Geburtsdatums liegt insbesondere keinerlei hinsichtlich des Verfahrens oder der materiellen Anforderungen geregelte Feststellung des Alters zugrunde. Der Gesetzgeber hat in § 63a Abs. 1 Satz 2 Nr. 18 AsylG ausdrücklich geregelt, dass die Bescheinigung einen Vermerk zu tragen hat, dass die Angaben auf den eigenen Angaben des Inhabers beruhen. Auch die vom Antragsteller mitgeführten Papiere aus Griechenland, Mazedonien und Serbien sowie die nun vorgelegte Tazkira sind keine Ausweispapiere im Sinne des§ 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Es besteht weder eine hinreichende Gewähr für die Echtheit dieser Dokumente noch generell für die inhaltliche Richtigkeit der in solchen Urkunden enthaltenen Angaben, auch wenn die Urkunden echt sind (vgl. OVG NRW, B. vom 29. September 2014 - 12 B 923/14, juris Rn. 11).

Damit sind diese Schriftstücke für eine Bestimmung des Alters des Antragstellers nicht geeignet.

Es hat auch keine gem. § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hilfsweise durchzuführende qualifizierte Inaugenscheinnahme des Antragsstellers stattgefunden. Nach der Intention des Gesetzgebers (BT-Drs. 18/6392 Seite 20) würdigt eine qualifizierte Inaugenscheinnahme den Gesamteindruck, der neben dem äußeren Erscheinungsbild insbesondere die Bewertung der im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand umfasst. Daneben kann zu einer qualifizierten Inaugenscheinnahme im Sinne der Vorschrift auch gehören, Auskünfte jeder Art einzuholen, Beteiligte anzuhören, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung der Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einzuholen sowie Dokumente, Urkunden und Akten beizuziehen.

Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme beschränkt sich also nicht auf die Beurteilung des äußeren Erscheinungsbildes, der inhaltlichen Angaben und des Verhaltens. Die Maßnahme ist vielmehr umfassend, also unter Berücksichtigung sämtlicher zur Verfügung stehender Erkenntnismittel zu verstehen. Eine solche Inaugenscheinnahme hat beim Antragsteller, der behauptet, minderjährig zu sein, bisher nicht stattgefunden. Aus dem "Laufzettel der Bearbeitungsstraße" in Deggendorf ergibt sich lediglich die Bemerkung: "15 Jahre? Sieht älter aus?!". Auch die von der Mitarbeiterin des Antragsgegners durchgeführte Inaugenscheinnahme lässt nicht erkennen, anhand welcher Kriterien sie zu der Feststellung der Volljährigkeit des Antragstellers gekommen ist. Sie enthält weder detailliertere Angaben zum äußeren Erscheinungsbild des Antragstellers noch zu seinem Auftreten oder im Gespräch mit ihm gewonnenen Erkenntnisse.

Da vorliegend eine Minderjährigkeit des Antragstellers nicht offensichtlich ausgeschlossen ist, hat der Antragsgegner nach§ 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dessen Minderjährigkeit mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII im Zweifelsfall eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen. Bis zur ordnungsgemäßen Klärung des Alters ist der Antragsteller nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorläufig in Obhut zu nehmen. […]