OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.11.2011 - 2 S 86.11 - asyl.net: M23874
https://www.asyl.net/rsdb/M23874
Leitsatz:

Das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst zwar, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, dennoch kann ein Eingriff aufgrund des Rechts des Staates zur Einwanderungskontrolle gerechtfertigt sein.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, faktischer Inländer, Achtung des Privatlebens, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Vorwirkung, beabsichtigte Eheschließung, Verwurzelung,
Normen: AufenthG § 256 Abs. 5 S. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Ohne Erfolg macht der Antragsteller geltend, die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei rechtswidrig, weil seine Ausreise rechtlich unmöglich im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG sei, denn er sei als "faktischer Inländer" anzusehen und beabsichtige außerdem, seine langjährige Freundin, eine Unionsbürgerin, zu heiraten. [...]

a. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich zunächst kein Abschiebungsverbot aus Art. 6 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass eine ausländerrechtliche Vorwirkung der durch Art. 6 GG geschützten Eheschließungsfreiheit voraussetze, dass die Trauung unmittelbar bevorstehe. Dies sei nur dann der Fall wenn der Standesbeamte nach § 13 Abs. 4 PStG mitgeteilt habe, dass die Eheschließung vorgenommen werden könne, bzw. wenn zumindest das Verfahren zur Feststellung der Ehefähigkeit der Verlobten durch Vorlage der gültigen Ehefähigkeitszeugnisse oder der Befreiung von denselben erfolgreich abgeschlossen sei. Hierzu verhält sich das Beschwerdevorbringen nicht.

b. Der Antragsteller legt mit der Beschwerde auch nicht dar, dass eine behördlich veranlasste Aufenthaltsbeendigung unverhältnismäßig in sein durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht auf Achtung des Privatlebens eingreifen würde. Das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst zwar, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen - angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 – 1 C 40.07 -, juris Rn. 21). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. z.B. Urteil vom Urteil vom 16. Juni 2005 – 60654/00 -, Fall Sisojeva, InfAuslR 2005, 349) kann auch eine Aufenthaltsbeendigung bzw. die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen. Art. 8 EMRK verbietet die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen jedoch nicht allein deswegen, weil dieser sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufgehalten hat. Vielmehr haben die Vertragsstaaten nach allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen das Recht, über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger selbst zu entscheiden (vgl. EGMR, Entscheidung vom 7. Oktober 2004 - 33743/03 -, Fall Dragan, NVwZ 2005, 1043, 1045; Entscheidung vom 16. September 2004 - 11103/03 -, Fall Ghiban, NVwZ 2005, 1046). Selbst wenn zugunsten des Antragstellers angenommen wird, dass vor dem Hintergrund seines – rechtmäßigen - Aufenthalts in Deutschland von insgesamt annähernd 13 Jahren und den von ihm erbrachten Integrationsleistungen ein Eingriff in das in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerte Recht auf Privatleben vorliegt (vgl. Armbruster in: HTK-AuslR, § 60a AufenthG, zur Abs. 2 Satz 1, Art. 8 EMRK und Verwurzelung, Ziffer 2), erwiese sich dieser Eingriff voraussichtlich als verhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK. Danach ist ein Eingriff gerechtfertigt, wenn es sich um eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme handelt, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt ist und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 – 2 BvR 1392/10 -, juris Rn. 19). Im Rahmen dieser Schrankenbestimmung muss eine Abwägung zwischen der Rechtsposition des Ausländers und dem Recht des Vertragsstaates zur Einwanderungskontrolle stattfinden. Dabei ist neben der Integration des Ausländers in die hiesigen Lebensverhältnisse ("Verwurzelung") und der Zumutbarkeit der Integration bzw. Reintegration im Heimatstaat ("Entwurzelung") auch zu berücksichtigen, ob sich der betroffene Ausländer darauf einstellen musste, das Bundesgebiet wieder verlassen zu müssen (vgl. m.w.N., Armbruster, a.a.O.). [...]