VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 26.05.2016 - 6 L 353/16.A - asyl.net: M23885
https://www.asyl.net/rsdb/M23885
Leitsatz:

Das Asylverfahren in Estland weist auch unter Berücksichtigung der angeblichen Inhaftierung des Antragstellers keine systemischen Schwachstellen auf.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Estland, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, erniedrigende Behandlung, unmenschliche Behandlung, Europäische Grundrechtecharta, Inhaftierung,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, AsylG § 34a Abs. 1, AsylG § 27a, VO 343/2013 Art. 3 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Überstellungsentscheidung des Bundesamts unterliegt nicht den standardisiert geltend gemachten Bedenken der Antragstellerseite. [...]

Mit dem angefochtenen Bundesamtsbescheid zeichnet die Antragsgegnerin die sich hiernach ergebende Bestimmung Estlands als des nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaats zutreffend nach, weil die zu Tage liegenden Indizien belegen, dass der Antragsteller nach dort in den Dublin-Bereich illegal eingereist ist. [...]

Nach Maßgabe der auf ein einschlägiges Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts vom 10. März 2016 am 17. März 2016 abgegebenen estnischen Aufnahmeerklärung ist Estland seit dem 17. März 2016 für die Prüfung des vom Antragsteller in Deutschland angebrachten Asylantrages zuständig, zu seiner Aufnahme verpflichtet und gehalten, angemessene Vorkehrungen für seine Ankunft zu treffen (Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO). Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unterbricht der fristgerecht angebrachte, zulässige Eilantrag den Lauf der Überstellungsfrist, die nunmehr ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des ablehnenden Eilbeschlusses vollständig neu zu laufen beginnt (BVerwG, Beschluss vom 27. April 2016 - 1 C 22.15 - und Urteil vom 26. Mai 2016 - 1 C15.15 -). [...]

Es liegt überdies keine Unmöglichkeit der Überstellung des Antragstellers nach Estland vor. Nach Art. 3 Abs. 2 2. UA Dublin III-VO kommt solches in den Fällen in Betracht, in denen es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Estland weist unter Berücksichtigung der aus dem "human rights practices 2015"-Bericht des US-Außenministerium hervorgehenden, allgemein bekannten Umstände und in Ansehung fehlender konkreter Einzelfallumstände des Antragstellers jedenfalls keine hier berücksichtigungsfähigen systemischen Schwachstellen i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auf, die zwingend zur Abweichung vom Zuständigkeitsregime der Dublin-Verordnung führen würden. Es liegt auch unter Berücksichtigung der angeblichen Inhaftierung des Antragstellers nach seiner illegalen Einreise nach Estland kein Ernst zu nehmender Anhalt dafür vor, dass das estnische Asyl- und Aufnahmeverfahren regelmäßig nicht mehr dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gerecht wird (vgl. zu den Anforderungen: EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 und C-493/10 -, juris). Dabei stehen einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems nicht schon (irgend)eine Verletzung von EU-Recht, vereinzelte Verstöße gegen sonstige Grundrechte sowie anderweitige Missstände unterhalb der Schwelle "systemischer Mängel" entgegen (vgl. Thym, Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen nach Italien, ZAR 2013, S. 331, unter Bezugnahme u.a. auf EGMR, Beschluss vom 2. April 2014 - Nr. 27725/10 -, ZAR 2013, 336), sondern nur regelhafte Defizite des Asyl- und/oder Aufnahmeverfahrens, die den Antragsteller in seiner konkreten Situation betreffen können, sowie allenfalls außergewöhnlich zwingende humanitäre Gründe i.S.v. Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO (vgl. EuGH a.a.O. betr. vergleichbare Bestimmungen der Dublin II-VO). [...]

Zu seinem Aufenthalt während der Dauer des estnischen Asylverfahrens, zu seinem Verbleib zwischen den beiden angeführten Daten, seinen Unterbringungs- und Verpflegungsbedingungen sowie zu seinen etwaigen Bemühungen, mit dem Schutzgesuch in Estland Gehör zu finden, hat sich der Antragsteller im vorliegenden Verfahren nicht ansatzweise und plausibel befasst; demgegenüber hat er im Verwaltungsverfahren pflichtwidrig verneint, zuvor einen Asylantrag gestellt gehabt zu haben. Unter diesen Voraussetzungen liegt der Vortrag zur Behandlung illegal aufhältiger Ausländer in Estland sowie zur Asylantragstellung aus der Haft heraus neben der Sache. Hier geht es nämlich allein um die Verfahrens- und Aufnahmebedingungen von Asylantragstellern, namentlich hinsichtlich der sog. Dublin-Rückkehrer, für die auch im zitierten Bericht des US-Außenministeriums zwar einzelne Unzulänglichkeiten (Belehrungen; Zurverfügungstellen von Übersetzern), ansonsten indes keinerlei Defizite berichtet werden. Da der Antragsteller aber als Asylantragsteller in Estland schon erfasst ist, stellte sich hinsichtlich der Durchführung des Asylverfahrens kein mit einer Inhaftierung einhergehendes grundsätzliches Problem.

Der Antragsteller lässt im Übrigen nicht erkennen, dass er sich in Estland in zumutbarer Weise um Hilfe bemüht und dort ebenso wie in Deutschland um anwaltlichen Beistand gekümmert hat, um die vermeintlichen Mängel dort zu beseitigen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb es dem Antragsteller in Estland nicht ebenso gut wie in Deutschland möglich sein sollte, mit der Hilfe von Unterstützern angemessene Bedingungen für sein Asylverfahren zu erlangen. Eine vergleichsweise überdurchschnittliche Fürsorge wie in Deutschland kann er woanders selbstredend nicht beanspruchen und wird auch vom Unionsrecht nicht versprochen. [...]