VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 06.06.2016 - 33 K 154.15 A - asyl.net: M23930
https://www.asyl.net/rsdb/M23930
Leitsatz:

1. Wenn Streit darüber besteht, ob die Voraussetzungen für die Durchführung eines Zweitantragsverfahrens nach § 71a AsylG vorliegen, ist die Anfechtungsklage statthafte Klageart und eine gerichtliche Pflicht zum "Durchentscheiden" nicht gegeben.

2. Von einem Ausnahmefall, in dem nach § 71a Abs. 2 S. 2 AsylG von der Anhörung abgesehen werden kann, kann nur ausgegangen werden, wenn offenkundig ist, dass die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 VwVfG nicht vorliegen. Insbesondere, wenn neue Beweismittel in Betracht kommen oder die Glaubhaftigkeit der Angaben der Betroffenen in Frage stehen, ist eine Anhörung erforderlich.

Schlagwörter: Zweitantrag, sichere Drittstaaten, Anhörung, Ausnahmefall, Durchentscheiden, Anfechtungsklage, Beweismittel, Glaubwürdigkeit, Glaubhaftigkeit, Sachaufklärungspflicht,
Normen: AsylG § 71a, AsylG § 71a Abs. 2 S. 1, AsylG § 25, AsylG § 71a Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Klage gegen den Bescheid vom 7. Mai 2015, mit dem das Bundesamt – wenngleich nicht im Bescheidtenor, zumindest jedoch im Bescheidtext – die Durchführung von weiteren Asylverfahren abgelehnt hat, ist zulässig. Insbesondere ist die Anfechtungsklage die statthafte Klageart, wenn – wie hier – Streit darüber besteht, ob die Voraussetzungen des § 71a AsylG vorliegen. In der vorliegenden Situation ist die Erhebung einer auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichteten Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil v. 10. Februar 1998 – 9 C 28.97, NVwZ 1998, 861) zur Pflicht zum "Durchentscheiden" nicht geboten. Die vorliegende Fallkonstellation unterscheidet sich nämlich von der dort zugrundeliegenden, bei der das Bundesamt bereits das Erstverfahren durchgeführt hatte und danach unstreitig ein Folgeverfahren im Raum stand. Demgegenüber sind hier zwei Mitgliedstaaten beteiligt und ausschlaggebend ist dabei zunächst die primäre Frage, ob überhaupt eine "Zweitantragssituation" und damit eine dem Folgeantrag vergleichbare Konstellation gegeben ist (vgl. VGH München, Urteile v. 3. Dezember 2015 – 13a B 15.50069, 13a B 15.50070, 13a B 15.50071, NVwZ 2016, 625).

Anders als bei Folgeanträgen im Sinne des § 71 AsylG hat das Bundesamt im Verfahren des § 71a AsylG noch überhaupt keine vorherige eigene Entscheidung in der Sache getroffen, so dass die Situation eher der Verfahrenseinstellung nach Rücknahme (§§ 32, 33 AsylG) vergleichbar ist. Bei Rücknahmeentscheidungen wiederum vertritt das Bundesverwaltungsgericht zu Recht die Auffassung, die Anfechtungsklage sei die statthafte Klageart, da die Sachentscheidung zunächst dem Bundesamt vorbehalten sei (vgl. BVerwG, Urteil v. 5. September 2013 – 10 C 1/13, NVwZ 2014, 158).

Wäre stattdessen das Gericht verpflichtet, die Sache spruchreif zu machen und durchzuentscheiden, ginge den Klägern eine Tatsacheninstanz verloren, die mit umfassenderen Verfahrensgarantien ausgestattet ist. Das gilt sowohl für die grundsätzliche Verpflichtung der Behörde zur persönlichen Anhörung (§ 71a Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 25 AsylG) als auch zur umfassenden Sachaufklärung sowie der Erhebung der erforderlichen Beweise von Amts wegen (§ 71a Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 24 Abs. 1 S. 1 AsylG) ohne die einmonatige Präklusionsfrist, wie sie für das Gerichtsverfahren in § 74 Abs. 2 AsylG vorgesehen ist. Im Übrigen führte ein Durchentscheiden des Gerichts im Ergebnis dazu, dass das Gericht nicht eine Entscheidung der Behörde kontrollieren würde, sondern anstelle der Behörde selbst entschiede, was im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung zumindest bedenklich wäre (vgl. ausführlich VG Düsseldorf, Urteil v. 27. Juni 2014 – 13 K 654/14.A, BeckRS 2014, 55231 m.w.N.).

Im Falle der Aufhebung eines auf der Grundlage von § 71a AsylG ergangenen Bescheides ist daher das Asylverfahren durch die Beklagte weiterzuführen und das Asylbegehren von ihr in der Sache zu prüfen. [...]

Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Kläger in den Niederlanden einen Asylantrag gestellt haben, der erfolglos geblieben ist. Einigkeit besteht auch darüber, dass Deutschland mittlerweile für die Durchführung der Asylverfahren zuständig geworden ist.

Das Bundesamt geht jedoch zu Unrecht davon aus, die Entscheidung über die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ohne persönliche Anhörung der Kläger treffen zu können.

Nach § 71a Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 25 AsylG ist ein Asylantragsteller grundsätzlich persönlich beim Bundesamt anzuhören. Nach § 71a Abs. 2 S. 2 AsylG kann jedoch von der Anhörung abgesehen werden, soweit sie für die Feststellung, dass kein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, nicht erforderlich ist. Das Bundesamt geht im angegriffenen Bescheid davon aus, dass es einer Anhörung aufgrund dieser Vorschrift nicht bedurfte. Deren Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor. Bereits der Wortlaut der Regelung ("kann abgesehen werden, soweit") zeigt, dass es sich dabei um eine Ausnahmevorschrift handelt. Ein derartiger Ausnahmefall ist vorliegend aber nicht gegeben. Denn davon kann nur ausgegangen werden, wenn bereits nach dem vorgetragenen Sachverhalt offenkundig ist, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, etwa aus dem Vorbringen des Ausländers ersichtlich ist, dass kein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist (vgl. Hailbronner, AuslR, 70. Aktualisierung August 2010, § 71a AsylVfG, Rn. 25; Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 71a, Rn. 16). Weder zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes noch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist jedoch offenkundig (gewesen), dass kein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist. So kommt etwa der von den Klägern zur Vorlage angekündigte Brief der Mutter des Klägers zu 1 als neues Beweismittel im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG in Betracht. Indem das Bundesamt im angegriffenen Bescheid ausführt, der Brief werde als entbehrlich angesehen, es komme ihm sowieso nur ein sehr eingeschränkter Beweiswert zu, nimmt es eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung vor. Denn der Inhalt des Briefes ist dem Bundesamt nicht im Detail bekannt. Der Brief ist als Beweismittel zudem – wie auch das Bundesamt im gerichtlichen Verfahren vorgetragen hat – nicht von vorneherein ungeeignet, denn er könnte insbesondere die Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Kläger stützen. Demzufolge ist ohne Kenntnis des Briefes nicht offenkundig gewesen, dass ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen wäre.

Wenn das Bundesamt zudem auf die mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben der Kläger abstellt und aufgrund anfänglich falscher Angaben zu ihrer Herkunft und dem Verschweigen eines Asylverfahrens in den Niederlanden ihnen zudem die Glaubwürdigkeit abspricht, kann auch dies das Absehen von einer Anhörung nicht rechtfertigen. Denn insbesondere in Fällen, in denen es auf die Glaubwürdigkeit der Asylantragsteller bzw. die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ankommt, ist eine Anhörung erforderlich, um sich einen persönlichen Eindruck von ihnen zu verschaffen (vgl. Hailbronner, AuslR, 70. Aktualisierung August 2010, § 71a AsylVfG, Rn. 25). Die Kläger haben ihre anfänglichen Falschangaben zudem plausibel mit ihrem Wunsch nach Verteilung nach Berlin erklärt, so dass Rückschlüsse von dieser Falschangabe auf ihr Asylvorbringen keinesfalls zwingend sind. Die von ihnen über ihre Verfahrensbevollmächtigte vorgebrachte Verfolgungsgeschichte ist zudem in sich stimmig und widerspruchsfrei, zumal die Verfahrensbevollmächtigte entgegen der Auffassung des Bundesamtes auch die russische Staatsangehörigkeit der Kläger bestätigt hat. [...]