VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 03.06.2016 - 19 L 275.15 - asyl.net: M23931
https://www.asyl.net/rsdb/M23931
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Abschiebungsandrohung, da kamerunische Familie nicht aufgefordert wurde, sich unverzüglich nach Italien zu begeben, wo sie langfristig aufenthaltsberechtigt ist.

1. Keine Aufenthaltserlaubnis wegen Abschiebungsverbot für Familie mit Kleinkindern aus Kamerun, die in Italien zum Daueraufenthalt berechtigt sind.

2. Die von der Rechtsprechung verlangte Garantieerklärung italienischer Behörden vor Abschiebung von Familien mit Kleinkindern nach Italien ist auf Personen, die in Italien daueraufenthaltsberechtigt sind, nicht anwendbar, da ihnen anders als Asylsuchenden und Schutzberechtigten die Möglichkeit offen steht, in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Drittstaatsangehörige, Daueraufenthalt, Italien, Kleinkind, Abschiebungsverbot, Aufenthaltserlaubnis, Garantieerklärung, Arbeitsgenehmigung, Erwerbstätigkeit,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5 , AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 38a, AufenthG § 30 ABs. 1, AufenthG § 32, AufenthG § 38a Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG sind vorliegend nicht erfüllt.

Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Antragsteller, ohne dass den Antragsteller zu 1. oder die Antragstellerin zu 2. eine Aufenthaltserlaubnis zur Erwerbstätigkeit berechtigt, ihren Lebensunterhalt sicherstellen können. Der Antragsteller zu 1. und die Antragstellerin zu 2. erfüllen damit nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, der zumindest insoweit auch im Rahmen des § 38a AufenthG Geltung zukommt (vgl. nur VG Berlin, Beschluss vom 30. Januar 2014 - VG 19 L 395.14 -, juris Rn. 12 m.w.Nachw.).

Hinsichtlich der Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit greift die Beschränkung aus § 38a Abs. 3 Satz 1 AufenthG.

Eine Zustimmung der beigeladenen Bundesagentur für Arbeit zu der von dem Antragsteller zu 1. angestrebten Beschäftigung als Küchenhilfe bei der Fa. V... gGmbH und zu der von der Antragstellerin zu 2. angestrebten Beschäftigung als "Roommaid" bei der Fa. A... liegt nicht vor. Vielmehr hat die Beigeladene mit Schreiben vom 26. November 2015 die Zustimmungen auf der Grundlage von § 39 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AufenthG nach Durchführung aktueller Bewerbersuchläufe mit der Begründung versagt, dem Arbeitsmarkt stünden jeweils genügend bevorrechtigte Arbeitnehmer zur Verfügung. Anhaltspunkte dafür, dass diese Entscheidungen der Beigeladenen zu Unrecht erfolgt sein könnten, bestehen nicht. [...]

bb. Die Antragsteller können sich auch nicht mit Erfolg auf § 25 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG berufen. [...]

Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist vorliegend zur Überzeugung der Kammer nicht gegeben. Insbesondere können die Antragsteller insoweit entgegen ihrer Annahme nichts zu ihren Gunsten aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - Nr. 29217/12, Tarakhel ./. Schweiz -, NVwZ 2015, 127), des Bundesverfassungsgerichts (vgl. zuletzt etwa BVerfG, Beschlüsse vom 30. April 2015 - 2 BvR 746/1517 -, NVwZ 2015, 896, und vom 17. April 2015 - 2 BvR 602/15 -, NVwZ 2015, 810 m.w.Nachw.) und der Verwaltungsgerichte (vgl. z.B. VG Bayreuth, Urteil vom 9. September 2015 - VG B 2 K 15.30276 -, juris; VG Schwerin, Beschluss vom 24. Februar 2015 - VG 3 B 1023/14 As -, juris; VG Ansbach, Beschluss vom 13. November 2014 - VG AN 3 S 14.30863 -, juris) ableiten, wonach eine Überführung von Familien mit Klein(st)kindern nach Italien eine vorherige individuelle Zusicherung der italienischen Behörden voraussetzt, dass die Familie eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde. Diese Rechtsprechung ist auf die vorliegende Fallgestaltung nicht übertragbar. Sie betrifft Überstellungen von Asylbewerbern im sog. Dublin-Verfahren, teilweise - in Erweiterung der insoweit entwickelten Grundsätze - auch Abschiebungen von Personen mit bereits zuerkanntem Schutzstatus. [...]

Die Antragsteller sind weder Asylbewerber noch (z.B. subsidiär) Schutzberechtigte. Vielmehr haben die Antragsteller zu 1. bis 4. in Italien die Rechtsstellung von Daueraufenthaltsberechtigten inne. Ihr Status ist damit demjenigen italienischer Staatsbürger weitgehend angenähert. Soweit sie in Italien auf Schwierigkeiten stoßen sollten, die notwendigen Mittel für eine Unterkunft und die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes aufzubringen, haben sie damit zunächst nur an den dortigen allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen teil (vgl. VG Bayreuth, Urteil vom 9. September 2015, a.a.O., Rn. 25). Selbst wenn man davon ausgeht, dass sie gegenüber italienischen Staatsbürgern faktisch schlechter gestellt sind (z.B. aufgrund fehlenden familiären Rückhalts; vgl. VG Bayreuth, Urteil vom 9. September 2015, a.a.O., Rn. 29), so steht den Antragstellern doch jederzeit die Möglichkeit offen, in ihr Heimatland Kamerun zurückzukehren. Namentlich hierdurch unterscheidet sich ihre Situation aber maßgeblich von derjenigen von Asylbewerbern und Schutzberechtigten, für die es zu einem Leben in Italien gerade keine Alternative gibt. [...]

b. Soweit sich die Antragsteller gegen die in den Bescheiden vom 21. August 2015 verfügten Abschiebungsandrohungen wenden, war die aufschiebende Wirkung der Klage demgegenüber hinsichtlich der gegen die Antragsteller zu 1. bis 4. gerichteten Abschiebungsandrohungen gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Var. VwGO anzuordnen. Diesbezüglich überwiegt das private Aussetzungsinteresse der Antragsteller zu 1. bis 4. das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung, da die betreffenden Abschiebungsandrohungen rechtswidrig sind. Als rechtmäßig stellt sich bei summarischer Prüfung allein die Abschiebungsandrohung betreffend die Antragstellerin zu 5. dar.

Da die Antragsteller zu 1. bis 4. langfristig Aufenthaltsberechtigte in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union sind (Italien), wären sie vor - oder zumindest zugleich (vgl. VG Berlin, Urteil vom 22. September 2015 - VG 19 K 45.15 -, S. 6 ff. d. Abdr., und Beschluss vom 30. Juli 2015 - VG 19 L 225.15 -, S. 7 ff. d. Abdr.) - mit dem Erlass der Abschiebungsandrohungen gemäß § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufzufordern gewesen, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben (vgl. eingehend VG Berlin, Beschluss vom 30. Januar 2014 - VG 19 L 395.13 -, juris Rn. 17 ff.). An einer solchen Aufforderung fehlt es hier. In Ermangelung dessen erweisen sich die gegen die Antragsteller zu 1. bis 4. gerichteten Abschiebungsandrohungen als rechtswidrig (vgl. etwa auch VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 18. Dezember 2013 - VG 8 L 1881/13 -, juris Rn. 9 ff., und vom 4. Juni 2012 - VG 22 L 613/12 -, juris Rn. 44 ff.).

Auf die Antragstellerin zu 5. kann die Regelung in § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG (derzeit) keine Anwendung finden, da die in Deutschland geborene Antragstellerin zu 5. - soweit ersichtlich - in Italien (noch) nicht über ein (Dauer-) Aufenthaltsrecht verfügt. Anderweitige Rechtsfehler der die Antragstellerin zu 5. betreffenden Abschiebungsandrohung sind nicht erkennbar. Insbesondere ist das in § 58 Abs. 1a AufenthG enthaltene Vollstreckungsverbot für die Abschiebung unbegleiteter minderjähriger Ausländer von vornherein nicht geeignet, sich auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung auszuwirken (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - BVerwG 10 C 13/12 -, NVwZ 2013, 1489 1491>).

Abschließend weist die Kammer allerdings darauf hin, dass die Antragstellerin zu 5. und damit letztlich wohl auch die Antragsteller zu 1. bis 4. gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu dulden sein dürften, solange wegen des Mangels eines Aufenthaltsrechts auch der Antragstellerin zu 5. in Italien nicht eine gemeinsame Abschiebung der Familie nach Italien möglich ist. Jedenfalls dürfte eine (isolierte) Abschiebung der Antragstellerin zu 5. nach Kamerun zurzeit § 58 Abs. 1a AufenthG entgegenstehen, der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 13. Juni 2013, a.a.O.) systematisch als rechtliches Vollstreckungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG mit dilatorischer Wirkung wirkt, solange sich die Ausländerbehörde nicht von der konkreten Möglichkeit der Übergabe des minderjährigen Ausländers an eine in der Vorschrift genannte Person oder Einrichtung vergewissert hat. [...]