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VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 16.06.2016 - 12 L 247/16.A - asyl.net: M23963
https://www.asyl.net/rsdb/M23963
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz gegen Dublin-Bescheid:

1. Das BAMF hat sein Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO ausgeübt, indem es Asylsuchenden aus Syrien einen Fragebogen zur Erfassung der Fluchtgründe zusandte. Dadurch konnten die Betroffenen davon ausgehen, dass das BAMF in die materielle Prüfung des Asylantrags eintritt.

2. Darüber hinaus ist der Dublin-Bescheid rechtswidrig, da das in Art. 5 Dublin-III-VO vorgesehene persönliche Gespräch nicht stattgefunden hat und keine Informationen nach Art. 4 Dublin-III-VO erteilt wurden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublin III-Verordnung, Dublinverfahren, persönliches Gespräch, Anhörung, Fragebogen, Schnellverfahren, Syrien, Selbsteintritt, beschleunigtes Verfahren,
Normen: VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 5 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 4,
Auszüge:

[...]

1. Die Antragsgegnerin hatte ihre Zuständigkeit für die materielle Prüfung des Asylantrages des Antragstellers bereits am 22. Dezember 2015 begründet. Sie hat nämlich gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO beschlossen, abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO den vom Antragsteller gestellten Asylantrag zu prüfen, und dies dem Antragsteller am Tage seiner Asylantragstellung mit Schreiben vom 22. Dezember 2015, wie es nach den vorgelegten Ausdrucken elektronisch gespeicherter Daten den Anschein hat, auch mitgeteilt.

In der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass öffentlich rechtliche Willenserklärungen entsprechend den für die Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätzen der §§ 133 und 157 BGB auszulegen sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Oktober 2014 - 8 B 99.13 -, juris, Rn. 18 mit weiteren Nachweisen der höchstrichterlichen Rechtsprechung). Für die Ermittlung dieser Rechtsgrundsätze der §§ 133, 157 BGB kommt damit der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine maßgebliche Bedeutung zu. Danach ist bei der Auslegung nicht auf den inneren Willen der erklärenden Partei, sondern darauf abzustellen, wie die Erklärung aus der Sicht des Empfängers bei objektiver Betrachtungsweise zu verstehen ist. Dabei tritt der Wortlaut hinter Sinn und Zweck der Erklärung zurück. Maßgeblich ist der geäußerte Wille des Erklärenden, wie er aus der Erklärung und sonstigen Umständen für den Empfänger der Erklärung erkennbar wird (vgl. BVerwG, a.a.O., m.w.N.)

Dem Antragsteller wurde mit dem Schreiben des Bundesamtes vom 22. Dezember 2015 erklärt, man möchte ihm mit dem beigefügten Fragebogen die Möglichkeit einzuräumen, in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für sein Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen. In diesem Zusammenhang wurde er darauf hingewiesen, das Ausfüllen des beigefügten Fragebogens sei für ihn freiwillig. Wenn sich aus seiner schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen ergebe, dass seinem Schutzersuchen stattgegeben werden könne, bestehe die Möglichkeit einer deutlichen zeitlichen Verkürzung seines Asylverfahrens. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass das Bundesamt in nahezu allen Fällen, in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen Staatsangehörigen Schutz gewährt habe. Der Antragsteller solle auch bedenken, dass das Bundesamt über die derzeit in Syrien herrschende Situation informiert sei.

Auf diesem Hinweis hin füllte der Antragsteller den Fragebogen noch am Tage der Asylantragstellung und reichte ihn beim Bundesamt ein. Aus seinem Handeln wird deutlich, dass der Antragsteller das Schreiben vom 22. Dezember 2015 so verstanden hat, dass die Bundesrepublik Deutschland in die materielle Prüfung seines Asylantrags eintritt. Der Antragsteller musste die Erklärung des Bundesamtes nach dem objektiven Erklärungsgehalt dieses Schreibens auch so verstehen. Denn die dem Antragsteller darin gegebenen Hinweise zielten darauf ab, er solle sich auf das Ausfüllen des Fragebogens beschränken, weil in der Regel die daraufhin erfolgende materielle Prüfung des Asylantrages dazu führt, dass Schutz gewährt wird, wobei der Antragsteller aufgrund seines Antrages und der Verwaltungspraxis des Bundesamtes im Jahre 2015 davon ausgehen durfte, dass mit Schutzgewährung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemeint ist.

2. Selbst wenn man in der Erklärung der Antragsgegnerin im Schreiben vom 22. Dezember 2015 keinen Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland sehen wollte, hat der Aussetzungsantrag Erfolg. Denn die Vorgehensweise der Antragsgegnerin führte dazu, dass sich nicht feststellen lässt, ob die Antragsgegnerin die Zuständigkeitskriterien fehlerfrei angewandt hat.

Der Antragsteller hat erst unter dem 2. Februar 2016 eine Mitteilung darüber erhalten, dass die Bundesrepublik Deutschland Bulgarien um Übernahme des Asylverfahrens gebeten hat. Nach welchen rechtlichen Vorschriften dies im konkreten Fall des Antragstellers erfolgen sollte, wird aus diesem insoweit offen gehaltenen Hinweisschreiben nicht deutlich: Ihm wurden keinerlei Informationen über das Verfahren nach der Dublin III-VO gegeben. Auch das in Art. 5 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehene persönliche Gespräch wurde nicht nachgeholt. Die Voraussetzungen für einen Verzicht auf das persönliche Gespräch lagen nicht vor, denn der Antragsteller war weder flüchtig noch hatte er die in Art. 4 Dublin III-VO genannten Informationen erhalten. [...]

3. Wegen des Unterlassens des persönlichen Gesprächs gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin III-VO ist überdies bei summarischer Prüfung auch ein Ermessensausfall nach Art. 17 Dublin III-VO festzustellen. Das Bundesamt hat dem Antragsteller nämlich gar keine Gelegenheit gegeben, Gründe humanitärer Art vorzutragen, warum die Bundesrepublik Deutschland für seinen Asylantrag zuständig sein sollte. Aufgrund seines Verwaltungshandelns hat das Bundesamt einen Fall des Ermessensausfalls bzw. Ermessensnichtgebrauchs herbeigeführt. In Fällen des Ermessensausfalls oder des Verstoßes gegen Grundrechte erweist sich eine für einen Asylantragsteller negative Entscheidung über den Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO trotz des der Bundesrepublik eingeräumten weiten Ermessens ihrerseits als ermessensfehlerhaft (vgl. so bereits zu Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO VG Potsdam, Urteil vom 23. September 2013 - VG 6 K 957/13.A -, S. 15 des Urteilsabdrucks mit weiteren Nachweisen) und der angefochtene Bescheid unterliegt auch deswegen aller Voraussicht nach der Aufhebung. [...]