Kein Familiennachzug für 11-jähriges Kind aus Syrien nach § 36 Abs. 2 AufenthG, dessen Bruder in Deutschland als Flüchtling anerkannt wurde und dessen Eltern sich in Deutschland im Asylverfahren befinden, da das Wohnraumerfordernis nicht erfüllt ist.
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Die Klage scheitert daran, dass für den angestrebten Familiennachzug derzeit kein ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht, die Eltern des Klägers vielmehr nur in einer ihnen zugewiesenen Obdachlosenunterkunft leben. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG muss aber für den Familiennachzug ausreichender Wohnraum im Sinne von § 2 Abs. 4 AufenthG zur Verfügung stehen. Diese Regelung konkretisiert § 1 Abs. 1 AufenthG, wonach das Gesetz der Steuerung des Zuzugs von Ausländern dient und die Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht und gestaltet. Zudem zielt das Wohnraumerfordernis auf die Vermeidung von Gefahrenlagen (Unterschreitung hygienischer Mindeststandards, Obdachlosigkeit), die sonst durch ordnungsbehördliche Maßnahmen – wie hier im Falle der Eltern – abzuwehren wären (vgl. BeckOK AuslR/ Tewocht, § 29 Rn. 4).
Das Gesetz sieht verschiedene Ausnahmen von diesem Wohnraumerfordernis vor, die indes nicht eröffnet sind.
Die frühere Praxis der Beklagten, in Fällen der vorliegenden Art bei Annahme einer außergewöhnlichen Härte gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vom Wohnraumerfordernis abzusehen, fand im Gesetz keine Stütze. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG regelt nicht abschließend alle Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis, sondern schließt an die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen an (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. April 2013 – BVerwG 10 C 10.12 –, BVerwGE 146, 198 = NVwZ 2013, 1339 [1343 Rn. 39] für § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Das Absehen vom Wohnraumerfordernis des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bedarf einer ausdrücklichen Regelung, an der es hier fehlt. Die in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Auffassung des Klägers, diese Ausnahme sei in § 36 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AufenthG durch den Verweis auf § 34 Abs. 1 AufenthG geregelt, überzeugt nicht.
§ 34 Abs. 1 AufenthG betrifft den Fall der einem minderjährigen Kind (bereits) erteilten Aufenthaltserlaubnis. Nur bei deren Verlängerung ist von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzuweichen. Der Einwand, es sei unsinnig, vor der erstmaligen Erteilung etwas zu verlangen, wovon (nur) bei der Verlängerung abzusehen sei, verkennt, dass es genau darum geht, um während des Aufenthalts gewachsene Bindungen zu berücksichtigen.
Der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung angeführte § 32 Abs. 4 AufenthG hilft aus ähnlichem Grund ebenfalls nicht über das Wohnraumerfordernis hinweg. Weder mit der Vermeidung einer besonderen Härte noch mit der Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Situation (§ 32 Abs. 4 Satz 2 AufenthG) ermöglicht das Gesetz eine Abweichung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
§ 29 Abs. 2 AufenthG nützt dem Kläger nichts. Die Norm begünstigt u.a. minderjährige ledige Kinder des den Nachzug vermittelnden Ausländers, setzt aber voraus, dass dieser Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 23 Abs. 4, 25 Abs. 1 oder 2, eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 oder nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 zweite Alternative eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 besitzt. Die Eltern des Klägers besitzen keinen derartigen Aufenthaltstitel. Sie sind nur jeweils im Besitz eines zunächst bis zum 10. März 2016 befristeten Visums nach den §§ 6 Abs. 3, 36 Abs. 1 AufenthG, das infolge der nun gestellten Anträge jeweils zunächst als fortbestehend gelten wird (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG), bis über ihren Antrag entschieden ist. Der Wortlaut der Norm ist eindeutig. Einen derartigen Aufenthaltstitel "besitzt", wem er erteilt wurde (§§ 4 Abs. 1 Satz 2, 5 Abs. 1 Satz 1, 6 Abs. 3 Satz 1, 7 Abs. 1 Satz 2, 12 Abs. 1 AufenthG), worüber ein eigenständiges Dokument ausgestellt wird (§ 78 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Für eine – ähnlich wie bei § 32 Abs. 1 AufenthG – über den Wortlaut hinausgehende Anwendung der Norm gibt es keinen Ansatz. Vielmehr wird einhellig auf den Besitz abgestellt (Dienelt in: Renner/Bergmann/Dienelt, AuslR, 10. Aufl. 2013, § 29 AufenthG Rn. 9 Hailbronner, AuslR, Stand November 2012, § 29 AufenthG Rn. 9; NKAuslR/ Müller, 2. Aufl. 2016, § 29 Rn. 7 und Marx in GK-Aufenthaltsgesetz, II-§ 29 Rn. 98, 100, 102).
Die weitere in der mündlichen Verhandlung entfaltete Argumentation des Klägers überzeugt ebenfalls nicht:
Wohl unter Berufung auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. September 2007 (– BVerwG 1 C 43.06 –, BVerwGE 129, 226 = NVwZ 2008, 333 [334]) meint er, seine Eltern besäßen eine Aufenthaltserlaubnis. Entscheidend sei, dass sie eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund einer Norm aus dem Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes hätten, in dem § 29 AufenthG steht. Zwar trifft zu, dass § 36 Abs. 1 AufenthG und § 29 AufenthG in Abschnitt 6 von Kapitel 2 des Gesetzes stehen. Doch übergeht die Argumentation, dass § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund einer Norm dieses Abschnitts des Gesetzes fordert, sondern genau bezeichnete Aufenthaltserlaubnisse nach Normen aus dem Abschnitt 5 von Kapitel 2 des Gesetzes.
Wohl unter Berufung etwa auf die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Januar 2002 (– BVerwG 1 C 6.01 –, BVerwGE 115, 352 = NVwZ 2002, 867 [868]) und vom 10. November 2009 (– BVerwG 1 C 24.08 –, BVerwGE 135, 225 = NVwZ 2010, 914 [915]) meint er, dem Besitz eines Aufenthaltstitels stehe es gleich, einen Rechtsanspruch auf ihn zu haben. Das geht daran vorbei, dass sich diese Rechtsprechung auf Normen bezieht, in denen es um die Dauer des ununterbrochenen Besitzes eines Aufenthaltstitels ging.
Unbehelflich ist die Berufung des Klägers darauf, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft deklaratorisch sei. Denn § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG knüpft nicht an die Flüchtlingseigenschaft an, sondern an den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund der Zuerkennung dieser Eigenschaft.
Die Berufung des Klägers auf ministerielle Weisungen ist unergiebig, weil sie sich auf die Ausübung des Ermessens nach § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG beziehen. Sie setzen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensbetätigung voraus, an denen es hier mangels der erforderlichen Aufenthaltserlaubnis fehlt. Daher ist hier kein Ermessen eröffnet.
Art. 8 EMRK führt den Kläger nicht zum Erfolg, weil die Konvention entgegen der beharrlich vertretenen Auffassung seines Bevollmächtigten nur im Rang eines Bundesgesetzes steht (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. Februar 2014 (– BVerwG 2 C 1.13 –, NVwZ 2014, 736 [740, Rn. 52]). Sie dient als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Normen. Indes findet eine Auslegung ihre Grenze in dem eindeutigen Wortlaut der Norm sowie in dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers (vgl. Bundesverwaltungsgericht, a.a.O., [Seite 741 Rn. 54]). Schon das hindert hier weitere Erwägungen, weil § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in dem hier interessierenden Punkt eindeutig ist.
Unionsrecht verdrängt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht.
Zwar regelt die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung auch die Familienzusammenführung von Flüchtlingen. Doch sieht diese Richtlinie vor, dass der Mitgliedstaat den Nachweis verlangen kann, dass der Zusammenführende über Wohnraum verfügt, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird und der die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden allgemeinen Sicherheits- und Gesundheitsnormen erfüllt (Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a). Zwar ist davon nach Art. 12 Abs. 1 Unterabsatz 1 bei der Familienzusammenführung von Flüchtlingen abzusehen. Doch findet diese Norm wie überhaupt die Richtlinie nur auf die Familienzusammenführung von Flüchtlingen Anwendung, die von den Mitgliedstaaten anerkannt worden sind (Art. 3 Abs. 2 Buchstabe a und Art. 9 Abs. 1). Damit steht die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Falle des Klägers im Einklang. Seine Eltern sind (noch) nicht als Flüchtlinge anerkannt. Das Wohnraumerfordernis des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entspricht Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a der Richtlinie.
Art. 7 GR-Charta, wobei hier unterstellt sei, dass er anwendbar ist, weil es auch um die Durchführung von Unionsrecht in Gestalt der Familiennachzugsrichtlinie gehen mag (Art. 51 Abs. 1 GR-Charta), schreibt die Achtung des Familienlebens jeder Person vor. Damit ist ein effektives Familienleben gemeint, zumindest aber eine faktische Familieneinheit (vgl. Meyer, Charta der Grundrecht der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 7 Rn. 20, Seite 236). Das ist hier nicht betroffen, da die Eltern und der Kläger getrennt sind. Ob das anders zu werten wäre, wenn die Eltern – wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung hat vorbringen lassen – von der Beklagten zwangsweise von ihm getrennt worden wären, ist mangels tauglicher Angaben nicht näher zu erörtern. Mit der Erteilung von Visa nur an seine Eltern zwang die Beklagte diese nicht, den Kläger zurückzulassen, sondern ermöglichte ihnen, sich um den hier lebenden Sohn zu kümmern. Dass sie damit vor die schwierige Frage gestellt waren, ob sie als Eheleute zusammen bleiben oder sich getrennt um jeweils einzelne ihrer Kinder kümmern wollen, war die Folge davon, dass zwei ihrer Söhne zuvor ausgereist waren.
Jedenfalls ist nicht feststellbar, dass Art. 7 GR-Charta eine Schutzpflicht des Inhalts begründet, dass Drittstaatsangehörigen ein effektives Familienleben auf dem Unionsgebiet zu ermöglichen ist. Auch unter Berücksichtigung von Art. 52 Abs. 3 GR-Charta und der Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist eine unionsrechtliche Verpflichtung dazu, den Nachzug des Klägers zu seinen Eltern auch bei Fehlen ausreichenden Wohnraums zu ermöglichen, nicht feststellbar (vgl. etwa Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 28. Mai 1985 [Abdulaziz u.a.], NJW 1986, 3007 [3009 Rn. 67], wenngleich Fälle der Heirat nach Einreise betreffend; Grabenwarter/Pabel, EMRK, 5. Aufl. 2012, § 22 Rn. 69, Seite 272; Meyer-Ladewig, EMRK, 2. Aufl. 2006, Art. 8 Rn. 25b).
Art. 6 Abs. 1 GG ermöglicht ebenfalls keine andere Auslegung des eindeutigen Gesetzes. Er gebietet aber auch keine andere Entscheidung, womit die Verfassungswidrigkeit des § 29 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG begründet wäre. Zunächst einmal verschafft die Norm keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Der Gesetzgeber ist weitgehend frei darin, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen er Fremden den Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht. Dabei hat er aber nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 GG die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend ihrem Gewicht zur Geltung zu bringen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 1. Dezember 2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 25 f.). Entscheidend ist dabei nicht ein formales Band der Familienmitglieder, sondern die tatsächliche Verbundenheit. Das führt regelmäßig zu engeren Bindungen der öffentlichen Gewalt, soweit es um aufenthaltsbeendende Maßnahmen geht, die eine aktuell geführte Lebensgemeinschaft aufheben, als in Bezug auf Maßnahmen, die die erstmalige Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet betreffen. Eingedenk dessen bestehen keine Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der hier den Nachzug des Klägers hindernden Normen. Sie setzen die in § 1 Abs. 1 AufenthG bezeichneten öffentlichen Interessen mit dem Nachzugsinteresse in ein angemessenes Verhältnis und berücksichtigen auch Notlagen auf Seiten der Ausländer. Die Berücksichtigung der hier gegebenen Umstände führt zu keiner anderen Wertung. Eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seinen Eltern besteht nicht. Beide Elternteile haben diese durch ihre Ausreise in einer Situation, in der angeblich eine konkrete Gefahr für Leib und Leben des Klägers bestand, aufgehoben. Das Gericht sieht nicht, dass die Beziehung des Klägers zu seinen Eltern, die für diese nicht handlungsbestimmend war, das staatliche Handeln bestimmen soll. Abgesehen davon schließt die deutsche Rechtslage den Nachzug des Klägers zu seinen Eltern nicht dauerhaft aus. Die vom Bevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung vertretene Auffassung, die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, dränge einwanderungspolitische Belange (hier eine an der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit ausgerichtete Aufnahme von Ausländern) stets zurück, ist unzutreffend. [...]