OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.05.2016 - 13 A 1490/13.A (= ASYLMAGAZIN 9/2016, S. 312 ff.) - asyl.net: M24057
https://www.asyl.net/rsdb/M24057
Leitsatz:

Keine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK für einen alleinstehenden arbeitsfähigen jungen Mann im Falle einer Überstellung nach Italien (hier als anerkannter Flüchtling)

Schlagwörter: Italien, anerkannter Flüchtling, sichere Drittstaaten, Konzept der normativen Vergewisserung, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, systemische Mängel, Sozialleistungen,
Normen: AsylG § 31 Abs. 4 S. 1, AsylG § 26a Abs. 1, AsylG § 26a, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1, GG Art. 16a, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

a. Italien gilt als Mitgliedstaat der EU nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG als sicherer Drittstaat. Dieser Verfassungsnorm liegt das "Konzept der normativen Vergewisserung" über die Sicherheit im Drittstaat zugrunde. Die Mitgliedstaaten der EU gelten als sicher kraft der Entscheidung der Verfassung. Die normative Vergewisserung bezieht sich darauf, dass der Drittstaat einem Betroffenen, der sein Gebiet als Flüchtling erreicht hat, den nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK) und den Grundfreiheiten gebotenen Schutz vor politischer Verfolgung und anderen ihm im Herkunftsstaat drohenden schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit oder seiner Freiheit gewährt. Damit entfällt das Bedürfnis, ihm Schutz in der Bundesrepublik Deutschland zu bieten (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, juris, Rn.181).

Die Möglichkeit, die Vermutung der Sicherheit im Drittstaat zu entkräften, kommt nur dann in Betracht, wenn tatsächliche Umstände vorliegen, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassungs oder Gesetzes wegen berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind. Es muss sich dabei aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängen, dass der Ausländer von einem im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfall betroffen ist. An die Darlegung solcher Tatsachen sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, juris, Rn. 189).

Maßgebend für die gerichtliche Verneinung des Status eines sicheren Drittstaats für anerkannte Flüchtlinge ist nicht, ob deren Lebensverhältnisse in dem Staat den europarechtlichen oder deutschen Anforderungen entsprechen oder prekär sind, sondern ob ein Sonderfall im oben genannten Sinne vorliegt.

Hier kommt die im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangene Sonderfallgruppe in Betracht, dass der Drittstaat anerkannte Flüchtlinge unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK unterwirft.

Da es hier nicht um die Behandlung von staatlicherseits Untergebrachten durch den italienischen Staat geht, stehen nicht staatliche Unterlassungspflichten aus Art. 3 EMRK in Rede. Vielmehr geht es darum, dass sich die Lebensverhältnisse des Klägers als anerkannter Flüchtling in Italien allgemein als unmenschlich oder erniedrigend darstellen könnten; es geht also darum, ob der Drittstaat insoweit bestehende Schutzpflichten verletzt (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Januar 2015 – 14 A 134/15.A -, juris, Rn. 11).

Hiervon ausgehend steht nach dem im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung vorliegenden Erkenntnismaterial zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger, ein alleinstehender, arbeitsfähiger, junger Mann, im Falle seiner Überstellung nach Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind in Italien Ausländer, die dort als Flüchtlinge anerkannt worden sind, italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt, d.h. es wird grundsätzlich von ihnen erwartet, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH), Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, 5.4.1; SFH an OVG NRW, 7. April 2016, S. 4 ff.).

Dies ist nicht menschenrechtswidrig. Art. 3 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten nicht, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S.) -, EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10 (Mohammed Hussein) -, ZAR 2013, 336 f., Rn. 70; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 119).

Auch reicht die drohende Zurückweisung in ein Land, in dem die eigene wirtschaftliche Situation schlechter sein wird als in dem ausweisenden Vertragsstaat nicht aus, die Schwelle der unmenschlichen Behandlung, wie sie von Art. 3 EMRK verboten wird, zu überschreiten (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 2. September 2015 - 9 A 399/14 -, juris Rn. 46 m.w.N.).

Dies entspricht im Übrigen auch den Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EU, des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl (EU) L 337, S. 9), die die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass international Schutzberechtigte im Hinblick auf den Zugang zu Sozialhilfeleistungen (Art. 29), medizinischer Versorgung (Art. 30) und Wohnung (Art. 32) nicht anders als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt werden. Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass anerkannte Flüchtlinge – anders als die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats – regelmäßig weder über die erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen noch auf die Unterstützung von Familienangehörigen zurückgreifen können.

Italien hat inzwischen die Richtlinie 2011/95/EU in nationales Recht umgesetzt (vgl. Consiglio Italiano per i Rifugiati (CIR), Asylum Information Database (AIDA), Dezember 2015, S. 9). Es ist deshalb davon auszugehen, dass anerkannte Flüchtlinge in Italien in den Genuss der in den Art. 20 bis Art. 35 dieser Qualifikationsrichtlinie genannten Rechte kommen.

Die zurückkehrenden Flüchtlinge sind zudem nicht gänzlich sich selbst überlassen. Kehren anerkannte Flüchtlinge aus dem Ausland zurück, können sie sich etwa am Flughafen in Rom von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) beraten lassen (vgl. Auswärtiges Amt (AA) an OVG NRW, 23. Februar 2016, S. 5; SFH, April 2016, S. 5; zurückhaltender noch SFH, Oktober 2013, 5.1). Dort erfahren sie auch, welche Questura für sie zuständig ist. Diese wird informiert und der Flüchtling erhält ein Bahnticket, um dorthin zu gelangen (vgl. SFH, April 2016, S. 5; AA, Februar 2016, S. 5). Für anerkannte Flüchtlinge ist die Behörde der Gemeinde zuständig, in der sie ihren Asylantrag gestellt haben (vgl. SFH, Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien, Mai 2011, S. 32, 35; SFH, Bewegungsfreiheit in Italien für mittellose Personen mit Schutzstatus, 4. August 2014, S. 3).

Für den Kläger wäre danach eine lokale Behörde auf Sizilien zuständig. Anerkannte Flüchtlinge erhalten eine Aufenthaltsbewilligung, die fünf Jahre gültig ist und bei Ablauf verlängerbar bzw. erneuerbar ist (vgl. SFH, Mai 2011, S. 31; AA an OVG NRW, Februar 2016, S. 4).

In die Aufenthaltsbewilligung wird die Wohnadresse eingetragen (vgl. SFH, Oktober 2013, 5.5.1; SFH, 4. August 2014, S. 4).

Bis zur Ausstellung der Aufenthaltsbewilligung können die Antragsteller Aufnahme in einer Aufnahmeeinrichtung finden (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt, 21. August 2013, S. 2).

Für die weitere Unterkunft des Flüchtlings ist entscheidend, dass und wo er seinen Wohnsitz begründet (vgl. SFH, Mai 2011, S. 35 f.).

Das geschieht grundsätzlich in der Gemeinde, in der der Asylantrag gestellt wurde und in der sich dementsprechend auch die zuständige Behörde befindet. Die Versorgung von Flüchtlingen mit Wohnraum war und ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Ein Teil kann auch nach der Anerkennung als Flüchtling in einer Einrichtung der SPRAR (Sistema di protezione per richiedenti asilo e refugati) für begrenzte Zeit Aufnahme finden. Auch caritative Einrichtungen stellen Unterkünfte zur Verfügung (vgl. AA, August 2013, S. 3). In großen Städten konnten Flüchtlinge zwar vor Jahren teilweise nur in besetzten Häusern, mit zum Teil hunderten von Bewohnern, ohne ausreichende Versorgung mit Trinkwasser und Elektrizität unterkommen (vgl. SFH, Mai 2011, S. 33, 34 f.; SFH, Oktober 2013, 5.2).

Inzwischen hat sich die Situation aber verbessert. Das Auswärtige Amt hat schon im August 2013 und gegenüber dem erkennenden Gericht unter dem 23. Februar 2016 mitgeteilt, im Ergebnis könne davon ausgegangen werden, dass für die anerkannten Flüchtlinge in Italien landesweit ausreichend staatliche bzw. öffentliche oder caritative Unterkunftsmöglichkeiten (bei teilweiser lokaler Überbelegung) zur Verfügung stehen (vgl. AA, August 2013, S. 3; AA an OVG NRW, 23. Februar 2016, S. 5).

In Italien gibt es kein allgemeines System der Sozialhilfe. Etwaige gemeindliche Unterstützungsleistungen sind an den offiziellen Wohnsitz in der Gemeinde geknüpft (vgl. SFH, Mai 2011, S. 35).

Es gibt aber öffentliche Fürsorgeleistungen für gemeldete Flüchtlinge, wenn sie bereit sind, an Maßnahmen zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage, z.B. speziellen beruflichen Lehrgängen, teilzunehmen (vgl. Deutsche Botschaft Rom, Sozialpolitische Informationen Italien, Januar 2012, 4.6).

Lokale Behörden, Stiftungen, Gewerkschaften, Hilfsorganisationen oder NGOs unterhalten Integrationsprogramme und arbeiten dabei teilweise zusammen (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt, 21. Januar 2013, 7.3).

Soweit solche Leistungen nicht greifen oder ausreichen, können Flüchtlinge, wenn sie - wie viele Italiener auch - arbeitslos sind, auf Spenden caritativer Organisationen zurückgreifen (vgl. borderline europe e.V., Gutachten zum Beweisbeschluss des VG Braunschweig vom 28. September 2012, Dezember 2012, 9.2, 10.4.; AA, 23. Februar 2016 an OVG NRW, S. 5, und vom 26. Februar 2015 an VG Potsdam).

Für eine legale, sozialversicherungspflichtige Arbeit ist ein fester Wohnsitz Voraussetzung (vgl. borderline europe e.V., a.a.O.; SFH, August 2014, S. 5).

Der Arbeitsmarkt ist zwar schwierig. Viele Flüchtlinge, insbesondere junge Männer, die mit gleichaltrigen italienischen Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren, kommen häufig nur als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft unter (vgl. SFH, Mai 2011, S. 33; SFH, Oktober 2013, 5.3; SFH, 4. August 2014, S. 5).

Daraus kann allerdings nicht auf eine Verletzung des Art. 3 EMRK geschlossen werden.

Bei der Gesundheitsversorgung werden Flüchtlinge in Italien wie italienische Bürger behandelt. Der kostenlose Zugang zur Notfallversorgung steht ihnen immer zur Verfügung (vgl. SFH, 18. Mai 2016 an OVG NRW, S. 4; AA an OVG NRW, 23. Februar 2016, S. 6, und vom 26. Februar 2015 an VG Potsdam; vgl. Deutsche Botschaft Rom, Januar 2012, S. 25 ff.; AA an VG Freiburg, 11. Juli 2012, S. 2; AA an VG Gießen, 15. November 2012, S. 2; borderline, a.a.O., 9.2, 10.4).

Zusammenfassend ist danach davon auszugehen, dass anerkannte Flüchtlinge in Italien staatliche Hilfen in Anspruch nehmen können, um jedenfalls ihre Grundbedürfnisse zu decken. Gelingt dies nicht sogleich bzw. vollständig, können sie die Hilfe karitativer Organisationen erhalten. [...]