VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 02.02.2016 - 3 K 1138/14.A - asyl.net: M24067
https://www.asyl.net/rsdb/M24067
Leitsatz:

1. Frauen droht in Guinea die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung durch Genitalverstümmelung.

2. Dies gilt trotz der Tatsache, dass Genitalverstümmelung rechtlich verboten ist. Die staatlichen Stellen ergreifen regelmäßig keinerlei Maßnahmen, um die Durchführung von Genitalverstümmelungen zu unterbinden oder den Betroffenen Schutz vor den damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffen in ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht zu gewähren.

3. Aufgrund der schlechten Wirtschafts- und Versorgungssituation in Guinea, die eine Unterstützung durch die eigene Großfamilie zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich macht, ist für eine alleinerziehende Mutter mit Kind regelmäßig von keiner inländischen Fluchtalternative auszugehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Guinea, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung, Flüchtlingseigenschaft, interne Fluchtalternative, Beschneidung
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, im Falle ihrer Ausreise nach Guinea geschlechtsspezifischer Verfolgung im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4b Hs. 2 AsylG ausgesetzt zu sein.

Eine solche ist nicht nur im Falle einer Genitalverstümmelung (vgl. Kammerurteil vom 4. Januar 2007 - 4 K 1763/05.A -, mit weiteren Nachweisen) anzunehmen, sondern auch bei der Gefahr einer Zwangsverheiratung (vgl. u.a. Verwaltungsgericht (VG) Arnsberg, Urteile vom 12. April 2005 - 11 K 5180/03.A - und vom 14. September 2005 - 11 K 2018/04.A, sowie Urteil des VG Aachen vom 3. April 2008 - 4 K 1271/06.A -, und Urteil des VG Düsseldorf vom 6. Juli 2009 - 13 K 4433/07.A - mit weiteren Nachweisen).

Ersteres gilt jedenfalls dann, wenn die Genitalverstümmelung - wie in Guinea - zwar rechtlich verboten ist, die staatlichen Stellen jedoch regelmäßig keinerlei Maßnahmen ergreifen, um entweder die Durchführung von in der dortigen Lebenspraxis zahlreich stattfindenden Genitalverstümmelungen zu unterbinden oder den betroffenen Mädchen oder jungen Frauen Schutz vor den damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffen in deren sexuelles Selbstbestimmungsrecht zu gewähren (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an das VG Arnsberg vom 29. November 2004; Institut für Afrika-Kunde, Stellungnahme an das VG Arnsberg vom 3. Dezember 2004; Bundesamt, November 2006, Guinea - Aktuelle Lage - Menschenrechte).

Dass die Klägerin als Folge der ihr drohenden Genitalverstümmelung geflohen und ausgereist ist hat sie glaubhaft dargetan. Sie hat nachvollziehbar geschildert, dass sie von ihrer Tante gegen ihren Willen einer Genitalverstümmelung unterzogen werden sollte. Die Klägerin hat dargelegt, dass ihre Tante sie vor ihrem 17. Geburtstag zu sich geholt hat, um sie diesem Ritual zu unterziehen. Hintergrund des Ganzen ist auch eine mögliche Zwangsverheiratung der Klägerin gewesen, zu diesem Zweck hätte sie jedoch nach eigenen Angaben ebenfalls beschnitten werden müssen, da sie ansonsten keinen "Wert" für einen eventuellen Ehemann habe. Jedenfalls aufgrund der ausführlichen Befragung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den notwendigen Grad an Überzeugung erlangt, dass ihr Vorbringen zu ihrer drohenden Verstümmelung und ihrer Flucht der Wahrheit entspricht. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der Vortrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht vollständig mit ihrem Vorbringen gegenüber dem Bundesamt übereinstimmt. Die wenigen Abweichungen betreffen nach Auffassung des Gerichts jedoch nur nebensächliche Gesichtspunkte und resultieren möglicherweise daraus, dass erst die Wiederholung des Vorbringens und verschiedene Nachfragen in einigen Punkten abschließende Klarheit gebracht haben. Aufgrund des persönlichen Eindrucks von der Klägerin während ihrer Befragung, ihrer Fähigkeit auf Nachfrage weitere Details ihrer Verfolgungsgeschichte zu berichten und ihrer inneren Bewegung während der Schilderungen ihrer Flucht in den Senegal und die daraufhin folgende Rückholung durch ihre Tante nach Guinea hat das Gericht das erforderliche Maß an Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Schilderungen der Kerngeschichte erlangt.

Die Gefährdung der Klägerin besteht auch heute noch fort und zwar mit dem zusätzlichen Gefährdungsaspekt, dass sie nunmehr auch ein nichteheliches Kind hat. Im Hinblick auf die fluchtbegründenden Umstände haben sich keine wesentlichen Änderungen ergeben, die nunmehr die Annahme rechtfertigen könnten, die Klägerin sei vor (erneuter) Verfolgung in dem oben genannten Sinne hinreichend sicher. Seit ihrer Ausreise ist auch noch nicht so viel Zeit vergangen, dass man annehmen könnte, ihre Tante hätte kein Interesse mehr an ihr. Dies gilt insbesondere deshalb, da es sich bei der Genitalverstümmelung in Guinea um ein extrem weit verbreitetes Phänomen handelt, beinahe 97 % aller Frauen in Guinea sind beschnitten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Guinea vom 23. November 2015, S. 9).

Eine abschiebungsrelevante geschlechtsspezifische Verfolgung wäre im vorliegenden Fall nur dann zu verneinen, wenn sich die Klägerin der Genitalverstümmelung durch einen Wohnsitzwechsel innerhalb ihres Landes dauerhaft entziehen könnte. Eine derartige inländische Fluchtalternative ist allerdings hier schon deshalb nicht gegeben, weil ihre Tante auch bei der im Senegal lebenden Bekannten der Klägerin vorstellig werden dürfte, wie sie es bereits einmal getan hat (vgl. u.a. Auskunft des Instituts für Afrika-Kunde an das VG Arnsberg vom 3. Dezember 2004 und Urteil des VG Düsseldorf vom 6. Juli 2009 - 13 K 4433/07.A Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23. November 2015, S. 9).

Ohne ihre Familie bzw. Bekannte würde die Klägerin hingegen im Fall ihrer Rückkehr nach Guinea schon ohne ihr Kind, erst recht aber mit diesem keine eigenständige Existenzmöglichkeit besitzen. Insoweit ist davon auszugehen, dass die Versorgungssituation in Guinea außerordentlich angespannt ist. Es ist eines der ärmsten Länder der Welt mit einem völlig unzulänglichen Gesundheitswesen (vgl. AA, Länderinformation Guinea, Stand: März 2003, sowie Auskünfte vom 22. März 2002 an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg und vom 21. Juni 2000 an das VG Arnsberg; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Guinea Update Mai 2002; Missionsärztliches Institut Würzburg, Auskunft vom 2. Mai 2000 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden; Missionsärztliche Klinik Würzburg, Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 25. September 2006; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23. November 2015, S. 9).

54 % der Gesamtbevölkerung leben in extremer Armut und staatliche soziale Sicherungssysteme sind nicht vorhanden (vgl. Auskunft des Instituts für Afrika-Kunde vom 25. April 2006 und Auskunft des AA vom 8. Juni 2006, jeweils an das VG Minden).

Aufgrund der schlechten Wirtschafts- und Versorgungslage sowie dem unterentwickelten Gesundheitssystem kommt dem durch die (Groß-)Familie gebildeten sozialen Netz eine herausragende Bedeutung zu. Die Familie ist für die "normale" guineische Bevölkerung die unabdingbare Basis ihres (Über-)Lebens. Die Familienangehörigen helfen einander bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit; darüber hinaus ist regelmäßig allein die Familie dazu in der Lage, einem ihrer Mitglieder den Einstieg in eine Ausbildung oder einen Beruf zu ermöglichen, indem sie dem potentiellen Arbeitgeber ihre Einschätzung eines Familienmitgliedes mitteilen und erforderlichenfalls für ihn bürgen kann. Ohne eine solche Hilfestellung ist es Personen, die zuvor keine nennenswerte Ausbildung durchlaufen haben und keinerlei Dokumente über ihren bisherigen Lebenslauf vorlegen können, am Anfang ihres beruflichen Lebens kaum möglich, einen Arbeitsplatz zu erhalten (vgl. (zu Jugendlichen ohne Ausbildung) Auskunft des Instituts für Afrika-Kunde an das Verwaltungsgericht Minden vom 25. April 2006).

Vor diesem Hintergrund ist bei der vorliegenden besonderen Fallgestaltung eine zumutbare Existenzmöglichkeit der Klägerin im Fall ihrer Rückkehr nach Guinea nicht gegeben. Insbesondere ist aufgrund ihrer glaubhaften Schilderungen nahezu auszuschließen, dass sie in Guinea Schutz durch ihre Familie oder Freunde finden könnte.

Es lässt sich auch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass sie Hilfe durch lokale, nationale oder internationale Hilfsorganisationen erhalten könnte. Zwar sollen nach dem Gutachten der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 31. August 2004 (Guinea/Conakry: Gefährdung bei Rückkehr einer Frau) aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen heute auch in Guinea zahlreiche Frauen in größeren oder kleineren Städten mit Unterstützung von Hilfsorganisationen leben. Es erscheint jedoch mit Blick auf ihr Alter und die Tatsache, dass sie ein uneheliches Kind versorgen muss, eher unwahrscheinlich, dass sie nach ihrer Einreise eine Hilfsorganisation finden würde, die sie nicht auf ihre Familie verweisen würde sondern bereit und in der Lage wäre, ihr zu helfen. Hiervon unabhängig ist darauf zu verweisen, dass nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Hamburg vom 6. April 2004 die AGFC und ähnliche Organisationen nicht auf die Beschaffung von Arbeitsplätzen spezialisiert sind, sondern vielmehr Kleinstprojekte fördern, die dann gegebenenfalls indirekt Arbeitsplätze schaffen können. [...]