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VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 20.07.2016 - 10 L 963/16.A (= ASYLMAGAZIN 9/2016, S. 320) - asyl.net: M24102
https://www.asyl.net/rsdb/M24102
Leitsatz:

1. Weist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen nach dem 20. Juli 2015 förmlich gestellten Asylantrag in Bezug auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet und in Bezug auf die Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter als "einfach" unbegründet ab, folgt die aufschiebende Wirkung einer gegen die Abschiebungsandrohung gerichteten Klage nicht unmittelbar aus Art. 46 Abs. 5 RL 2013/32/EU.

2. Die Abweisung eines Asylantrags in Bezug auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet und in Bezug auf die Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter als "einfach" unbegründet verstößt nicht gegen § 36 Abs. 1 i.V.m. §§ 13 Abs. 2 Satz 1, 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Suspensiveffekt, subsidiärer Schutz, aufschiebende Wirkung, Abschiebungsandrohung, ernstliche Zweifel, Marokko, Abschiebung, sichere Drittstaaten, Obdachlosigkeit, Existenzgrundlage, GARP, Rückkehrförderung, Rückkehrhilfe, Unionsrecht, Verfahrensrichtlinie,
Normen: AsylG § 30, AsylG § 36 Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 8 Bst. 8, RL 2013/32/EU Art. 32 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 5, RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 6, GG Art. 16a Abs. 4 S. 1, AsylG § 36 Abs. 4 S. 1, GG ARt. 16a Abs. 2, AsylG § 26a Abs. 1 S. 1, AsylG § 26a Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

I. Der Antrag ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und nicht als Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung statthaft. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) hat dem Antragsteller unter Ziffer 5 des angefochtenen Bescheids eine Ausreisefrist von einer Woche gesetzt. Damit kommt der gegen die Abschiebungsandrohung erhobenen Klage gemäß § 75 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung zu.

Die aufschiebende Wirkung der Klage ergibt sich auch nicht unmittelbar aus Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie; im Folgenden: RL 2013/32/EU). Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich und den Antrag auf Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter als einfach unbegründet abgelehnt hat. [...]

Gemäß Art. 46 Abs. 5 RL 2013/32/EU gestatten die Mitgliedstaaten Antragstellern - unbeschadet des Art. 46 Abs. 6 RL 2013/32/EU - bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf den Verbleib im Hoheitsgebiet. Zwar liegen diese Voraussetzungen hier vor, da der Antragsteller mit seiner Klage im Verfahren 10 K 1894/16.A einen Rechtsbehelf i.S.d. Art. 46 Abs. 1 und 5 RL 2013/32/EU eingelegt hat. Jedoch lässt Art. 46 Abs. 6 RL 2013/32/EU in den dort unter lit. a) bis d) näher bestimmten Fällen die vorzeitige Beendigung des Verbleibs im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu. Hiervon hat der deutsche Gesetzgeber durch die Beschränkung der aufschiebenden Wirkung nach §§ 75 Abs. 1, 38 Abs. 1, 36 Abs. 1 AsylG und die Einräumung der Stellung eines Eilrechtsschutzantrags nach §§ 80 Abs. 5 VwGO, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG Gebrauch gemacht. Die Beschränkung des Bleiberechts ist nach der hier allein einschlägigen Regelung in Art. 46 Abs. 6 lit. a) RL 2013/32/EU zulässig, wenn ein Antrag entweder im Einklang mit Art. 32 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU als offensichtlich unbegründet oder nach Prüfung gemäß Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU als unbegründet zu betrachten ist, es sei denn, diese Entscheidungen sind auf die in Art. 31 Abs. 8 lit. h) RL 2013/32/EU aufgeführten Umstände (illegale Einreise) gestützt. [...]

Wegen der Gleichwertigkeit beider Alternativen verstößt es nicht gegen Unionsrecht, wenn nationales Recht bezüglich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Weg über die erste Alternative (Ablehnung als offensichtlich unbegründet) und bezüglich der Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter den Weg über die zweite Alternative (Ablehnung als unbegründet) wählt. Dem steht nicht entgegen, dass ein Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 2 lit. b) RL 2013/32/EU sowohl auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch auf die Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter gerichtet ist. Eine Vorgabe, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz entweder einheitlich als offensichtlich unbegründet oder einheitlich als einfach unbegründet abzulehnen ist, enthält das Unionsrecht nicht. Für das Unionsrecht stellt die formale Einheitlichkeit der Tenorierung beider "Teilanträge" als offensichtlich oder einfach unbegründet. [...]

b) Auf nationale Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann sich der Antragsteller ebenfalls nicht mit Erfolg berufen. Insbesondere ist das Gericht davon überzeugt, dass es ihm in Marokko gelingen wird, durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige zu erwirtschaften. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590 (juris Rn. 11); OVG NRW, Urteil vom 17. November 2008 - 11 A 4395/04.A -, juris Rn. 47).

Es ist nicht feststellbar, dass der Antragsteller eine diesen Anforderungen genügende Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, in Marokko nicht vorfinden bzw. nicht nutzen können wird. Seinen völlig unsubstantiierten Angaben, er sei mittellos, weil er in einem Heim aufgewachsen sei, dort keine Bildung erfahren habe und keinen Kontakt mehr zu seinen Familienangehörigen habe, vermag das Gericht keinen Glauben zu schenken, zumal im Unklaren bleibt, wer ihm unter diesen Umständen die finanziellen Mittel für einen Flug in die Türkei und die sich anschließende Reise über die Balkanroute zur Verfügung gestellt hat. Etwas anderes ergibt sich aber auch dann nicht, wenn man diese Angaben zu seinen Gunsten als wahr unterstellt: Der seinen eigenen Angaben zufolge Anfang November 1991 geborene Antragsteller hat seinen weiteren Angaben zufolge Marokko im Oktober 2015, also im Alter von knapp 24 Jahren verlassen. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller bis zu diesem Zeitpunkt im Heim verbracht hat, sind weder vorgetragen noch entsprechen sie der allgemeinen Lebenserfahrung. Dementsprechend ist es dem Antragsteller im Zeitraum zwischen seiner Entlassung aus dem Heim und seiner Ausreise aus Marokko gelungen, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Konkrete Gründe dafür, warum ihm dies nach seiner Rückkehr dorthin nicht wieder gelingen sollte, sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.

Darüber hinaus kann der Antragsteller im Falle seiner freiwilligen Rückkehr nach Marokko über das Government Assisted Repatriation Programme (GARP) eine Starthilfe von 300,- € erlangen (vgl. www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/In fothek/Rueckkehrfoerderung/reaggarp-informationsblatt.pdf?__ blob=publicationFile (abgerufen am 12. Mai 2016)).

Dies entspricht etwa 3000,- marokkanischen Dirham und damit mehr als dem gesetzlichen monatlichen Mindesteinkommen in Marokko. Dieses beträgt derzeit für Tätigkeiten in Handel und Industrie ausgehend von einem Mindestlohn von 13,46 Dirham pro Stunde ca. 2.600,- Dirham im Monat und für Tätigkeiten in der Landwirtschaft ausgehend von einem Mindestlohn von 69,73 Dirham pro Tag etwa 1800,- Dirham im Monat (vgl. www.hayzoum.com/smig.html). [...]