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VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15.06.2016 - 7a K 3661/14.A - asyl.net: M24116
https://www.asyl.net/rsdb/M24116
Leitsatz:

1. § 73b Abs. 1 und 3 AsylG regeln unmittelbar und ausschließlich nur die Aufhebung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG und können demnach nicht für den Widerruf eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG herangezogen werden, da die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG nicht gleichbedeutend mit der Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG ist. Eine analoge Anwendung kommt ebenso nicht in Betracht.

2. In einer solchen Situation ist allerdings § 73c analog anwendbar.

3. Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Hinblick auf Tunesien, da bei Rückkehr die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Rahmen von Vernehmungen durch tunesische Sicherheitsbehörden besteht. In Tunesien kann u.a. die Anwendung von Folter durch Polizei und Sicherheitsbehörden nicht sicher ausgeschlossen werden (unter Berücksichtigung zahlreicher Länderberichte, neben AA auch Amnesty, OMCT).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Tunesien, Widerruf, Abschiebungsverbot, Salafisten, Rücknahme, Widerruf, subsidiärer Schutz, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, AsylG § 4, AsylG § 73b, AsylG § 73c
Auszüge:

[...]

33 Keine der beiden Rechtsgrundlagen in § 73b Abs. 1 und 3 AsylG kann für den Widerruf der Feststellung, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. hinsichtlich Tunesien vorliegt, herangezogen werden. Beide Vorschriften regeln unmittelbar ausschließlich die Aufhebung der Gewährung des subsidiären Schutzes. Dem Kläger ist jedoch zu keinem Zeitpunkt subsidiärer Schutz im Sinne von § 4 AsylG gewährt worden. Weder in seinem Asylverfahren auf seinen Antrag vom 10. April 2006 noch im anschließenden Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf und nachfolgend vor dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen war subsidiärer Schutz Streitgegenstand. Vielmehr war Prüfungsmaßstab das damals geltende Aufenthaltsgesetz in der Fassung vom 28. August 2007 und damit die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG a.F. Aufgrund des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Oktober 2010 endete das Asylverfahren mit der Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. durch Bescheid vom 21. Juni 2010 wegen dem Kläger in Tunesien drohender Folter und unangemessener Behandlung.

34,35 Die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. ist nicht gleichbedeutend mit der Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG, auch wenn die vom Kläger vorgebrachten Gründe gegen seine Rückführung nach Tunesien nach heute geltender Rechtslage im Hinblick auf die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus geprüft werden würden. Es existiert keine gesetzliche Regelung, die die bloß asylrechtliche Feststellung nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. in den subsidiären Schutzstatus überleitet. Vielmehr stellt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. keine Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG dar und ist dieser auch nicht gleichzusetzen (BVerwG, Urteil vom 24. März 2015 – 1 C 16.14 –, juris, Rn. 15 f. zur inhaltsgleichen Vorläufervorschrift § 4 Abs. 1 AsylVfG).

36,37 Nach Entstehungsgeschichte und Systematik der Neuregelung in § 4 Abs. 1 AsylVfG, auf dem § 4 Abs. 1 AsylG beruht, sollte eine neue und nur in die Zukunft wirkende Rechtsstellung geschaffen werden. Die zuvor in Gestalt eines (bloßen) feststellenden Verwaltungsaktes ergehende Entscheidung sollte in einen formalisierten Schutzstatus überführt werden (vgl. Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK AsylVfG, § 73c Rn. 2).

38,39 Zwar enthält die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. eine Aussage darüber, ob dem betroffenen Ausländer in seinem Herkunftsland Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung und damit ein ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie), den § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. umsetzte, droht. Nach dem Regelungssystem des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970 – Richtlinienumsetzungsgesetz –) enthielt sie jedoch nicht zugleich die Entscheidung über den subsidiärer Schutzstatus nach Unionsrecht. Denn die Ausschlussgründe für den subsidiären Schutzstatus nach Art. 17 Richtlinie 2004/83/EG waren nach der Umsetzung durch das Richtlinienumsetzungsgesetz noch nicht bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 AufenthG a.F., sondern erst als Versagungsgründe im Verfahren zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG a.F. zu prüfen. Damit hatte der deutsche Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorschriften zum subsidiären Schutz im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt, als er die in Art. 15 Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG a.F. als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet und die Ausschlussgründe nach Art. 17 Richtlinie 2004/83/EG erst auf nachgelagerter Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG a.F. normiert hatte (VG Aachen, Urteil vom 27. Dezember 2011 - 6 K 509/09.A -, juris, Rn. 24).

40,41 Aus der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3-7 AufenthG a.F. allein folgte auch noch kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die Sollvorschrift des § 25 Abs. 3 AufenthG a.F. war lediglich richtlinienkonform dahin auszulegen, dass bei einem subsidiär Schutzberechtigten eine Aufenthaltserlaubnis nur abgelehnt werden durfte, wenn zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Erteilung entgegenstanden (BVerwG, Urteil vom 24. März 2015 – 1 C 16.14 –, juris, Rn. 16).

42 Setzt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus die Prüfung spezifischer Ausschlussgründe voraus, wäre es nicht systemgerecht, die Feststellung von Abschiebungsverboten, bei denen die vorgenannten Ausschlussgründe nicht geprüft worden sind, wie die Zuerkennung subsidiären Schutzes zu behandeln. [...]

47 Eine analoge Anwendung der Rechtsgrundlage in § 73b AsylG kommt nicht in Betracht.

48-50 Der in der Literatur (vgl. Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK AsylVfG, § 73b Rn. 2) vertretenen Auffassung, § 73b AsylG sei entsprechend auf Fälle von "Altfeststellungen" zu § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG a.F. anzuwenden, die nicht nach § 104 Abs. 9 AufenthG in den subsidiären Schutzstatus übergeleitet worden sind, folgt die Kammer nicht. Die Voraussetzungen für eine solche Analogie liegen nicht vor. Bedenken bestehen bereits im Hinblick auf die Planwidrigkeit einer Regelungslücke betreffend den Widerruf von Feststellungen nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. Wie § 104 Abs. 9 Satz 3 AufenthG zeigt, war dem Gesetzgeber das grundsätzliche Problem des Widerrufs von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. bewusst. Gleichwohl hat er einen Verweis auf § 73b AsylG nur für die Fälle vorgesehen, in denen der Ausländer gemäß § 104 Abs. 9 Satz 1 AufenthG als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG gilt. In der Gesetzesbegründung wird hierzu ausgeführt:

51 "[§ 104 Abs. 9] Satz 3 stellt klar, welche Rechtsgrundlage für den Widerruf und die Rücknahme des internationalen subsidiären Schutzes bei Altfällen gilt." BT-Drs. 17/13063, S. 25.

52 Damit hat der Gesetzgeber § 73b AsylG nur für Widerrufsfälle eröffnen wollen, in denen dem betroffenen Ausländer unmittelbar der subsidiäre Schutzstatus verliehen worden ist oder er diesen durch die gesetzliche Fiktion in der Überleitungsvorschrift des § 104 Abs. 9 Satz 1 AufenthG erworben hat.

53,54 Jedenfalls fehlt es für eine analoge Anwendung des § 73b AsylG an der erforderlichen vergleichbaren Interessenlage. Wie bereits dargelegt, sind die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. und die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG nicht gleichzusetzen (BVerwG, Urteil vom 24. März 2015 – 1 C 16.14 –, juris, Rn. 15 f. zur Vorläufervorschrift § 4 Abs. 1 AsylVfG).

55 § 73b AsylG auf den Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. anzuwenden hieße, eine Widerrufsregelung zur Anwendung zu bringen, die für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. nicht konzipiert worden ist. Denn der Gesetzgeber wollte mit § 73b AsylG lediglich eine Regelung für Rücknahme und Widerruf des subsidiären Schutzes normieren. Widerruf und Rücknahme von nationalen Abschiebungsverboten sollten hingegen in § 73c AsylG geregelt werden. [...]

60 Scheidet nach alldem eine analoge Anwendung von § 73b AsylG aus, ist die Rechtmäßigkeit des Widerrufs des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. an § 73c Abs. 2 AsylG zu messen, der in einer solchen Konstellation analog anwendbar ist.

61,62 Für eine vorrangige analoge Anwendung von § 73c Abs. 2 AsylG und gegen einen Rückgriff auf Aufhebungsvorschriften des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts spricht der Wille des Gesetzgebers, durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU mit den §§ 73 - 73c AsylG eine abschließende Regelung der verwaltungsverfahrensrechtlichen Voraussetzungen von Widerruf und Rücknahme von Asylberechtigung, Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Abschiebungsverboten zu schaffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 2011 - 10 C 24.10 -, juris, Rn. 14).

63 Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 73c Abs. 2 AsylG liegen vor. Unmittelbar ist auch diese Vorschrift nicht anwendbar, da es im vorliegenden Fall um den Widerruf eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. und nicht – wie von § 73c Abs. 2 AufenthG vorausgesetzt – um den Widerruf eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG geht. Die erforderliche Regelungslücke liegt vor, da der Widerruf eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. gesetzlich nicht geregelt ist, nachdem § 73b AufenthG – wie dargelegt – ebenfalls nicht anwendbar ist.

64 Auch liegt eine vergleichbare Interessenlage vor. Während – wie dargelegt – eine Vergleichbarkeit des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. mit dem subsidiären Schutzstatus nicht gegeben ist, sind die alten "nationalen" Abschiebungsverbote und die in § 73c AsylG verbliebenen "neuen" Abschiebungsverbote vergleichbar. Zudem entsprechen die Voraussetzungen des § 73c Abs. 2 AsylG denjenigen, die § 73 Abs. 3 AsylVfG a.F. an den Widerruf eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. stellte. [...]

90 Im Falle einer Rückkehr des Klägers nach Tunesien besteht jedoch die Gefahr, dass sich die tunesischen Sicherheitsbehörden nicht auf eine Vernehmung des Klägers unter Beachtung der Menschenrechte beschränken werden. Zur Überzeugung der Kammer haben sich die Verhältnisse in Tunesien seit dem Ende der Regierung Ben Ali noch nicht so durchgreifend geändert, dass die vom Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Urteil vom 4. März 2009 – 11 K 4716/07.A – festgestellte beachtliche Wahrscheinlichkeit von Folter oder sonstiger unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bei einer solchen Vernehmung des Klägers durch die tunesischen Sicherheitsbehörden zwischenzeitlich entfallen ist. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass Tunesien seit dem Umsturz im Januar 2011, insbesondere durch die Verabschiedung der neuen Verfassung am 26. Januar 2014, Fortschritte auf dem Weg zu einer demokratischen Staatsordnung gemacht hat. Gleichwohl hat sich die Menschenrechtslage noch nicht so durchgreifend verbessert, dass Folter oder sonstige unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, insbesondere im Polizeigewahrsam oder im Gewahrsam sonstiger Sicherheitsbehörden bzw. anderer zuständiger Stellen, mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

91 Hierzu ist zunächst auf die Ausführungen des Auswärtigen Amtes im Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Tunesischen Republik vom 3. Februar 2016 (Stand Januar 2016) zu verweisen. Danach garantiere Art. 23 der tunesischen Verfassung vom 26. Januar 2014 den Schutz der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit, verbiete seelische oder körperliche Folter und schließe eine Verjährung des Verbrechens der Folter aus. Zwar habe Tunesien das Zusatzprotokoll zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigender Behandlung oder Strafe am 29. Juni 2011 ratifiziert und sich damit zur Errichtung eines nationalen Präventionsmechanismus verpflichtet. Dieser sei jedoch bis zum Abschluss des Lageberichtes noch nicht vollständig umgesetzt worden. Offizielle Statistiken oder sonstige Informationen zu Menschenrechtsverletzungen gegen Terrorverdächtige würden von tunesischen offiziellen Stellen nicht veröffentlicht. Aus den wiederholt abgegebenen Bekenntnissen zur Folterprävention und zum Kampf gegen die faktische Straflosigkeit von Folter folgert das Auswärtige Amt, dass die tunesische Regierung indirekt Verfehlungen einräumt.

92,93 Ferner legt des Auswärtige Amt dar, dass tunesische und internationale Medien sowie spezialisierte Nichtregierungsorganisationen wie die OMCT und die Organisation contre la Torture en Tunisie (OCTT) über Einzelfälle von Folter oder unmenschlicher Behandlung sowie bislang erfolglose Bestrebungen, rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen einzuleiten, berichten. Die OMCT habe nach eigenen Angaben zwischen September 2013 und September 2015 im Rahmen des Projekts "Assistance directe aux victimes de la torture et des mauvais traitements" insgesamt 118 Einzelfälle betreut. 69 Personen hätten eine finanzielle oder medizinische, 98 Personen eine juristische Unterstützung erhalten. In 71 Fällen seien Strafanzeigen erstattet worden. Die OCTT berichte seit Beginn des Jahres 2015 monatlich über ihr bekannt gewordene Einzelfälle. Nach eigenen Angaben habe sie im September 2015 mit 20 Fällen die bislang höchste Zahl von Beschwerden registriert. Auch in den Monaten Oktober, November und Dezember 2015 seien neue Beschwerden im niedrigen zweistelligen Bereich eingegangen. Ferner berichteten Menschenrechtsorganisationen von einzelnen dubiosen Todesfällen in Polizeigewahrsam oder Haft, bei denen eine Fremdeinwirkung nicht auszuschließen oder sogar wahrscheinlich sei (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebe- relevante Lage in der Republik Tunesien vom 3. Februar 2016 (Stand Januar 2016), Seite 16 f.).

94 Diese Darstellungen im Lagebericht des Auswärtigen Amtes werden bestätigt durch die Stellungnahmen, die die Kammer in diesem Verfahren eingeholt hat. In seiner Stellungnahme vom 18. Dezember 2015 legt das Auswärtige Amt dar, dass die tunesischen Behörden in Reaktion auf die Attentate auf das Bardo- Museum am 18. März 2015, in Port El Kantaoui/Sousse am 26. Juni 2015 und am 24. November 2015 gegen Angehörige der Präsidentengarde schon vor Inkrafttreten des neuen Antiterrorgesetzes am 7. August 2015 umfangreiche Maßnahmen zur Terrorbekämpfung eingeleitet und umgesetzt hätten. Diese hätten seit Beginn des Jahres 2015 laut Presseberichten zur Zerschlagung von mindestens 1000 Terrorzellen und zu mehr als 2000 Verhaftungen geführt. Allein seit Inkrafttreten des aktuellen Ausnahmezustandes am 24. November 2015 in Reaktion auf das Attentat gegen die Präsidentengarde seien bei über 1800 Razzien über 400 Personen unter Terrorverdacht festgenommen worden. Durch das tunesische Antiterrorgesetz seien die Befugnisse der Sicherheitsbehörden zum Teil gegenüber dem Vorgängergesetz aus dem Jahr 2003 ausgeweitet worden. So seien besondere technische Untersuchungsmethoden eingeführt und die Höchstdauer polizeilicher Untersuchungshaft von sechs auf 15 Tage erhöht worden. Zudem sei die Todesstrafe und die lebenslange Haftstrafe für terroristische Straftaten eingeführt worden. Für Terrorfälle sei eine besondere Untersuchungsinstanz eingerichtet worden, der 1600 Terrordelikte zur Untersuchung vorlägen. Dem Auswärtigen Amt lägen zwar keine eigenen Erkenntnisse zu der Frage vor, ob Terrorverdächtige weiterhin durch tunesische Sicherheitsbehörden gefoltert, misshandelt oder rechtswidrig inhaftiert worden seien. Auch in seiner Stellungnahme vom 18. Dezember 2015 verweist das Auswärtige Amt jedoch auf die im späteren Lagebericht zitierten Berichte der OMCT und der OCTT und äußert die Vermutung, dass die Dunkelziffer erheblich über den dort gemachten quantitativen Angaben liegen dürfte. Eine abstrakte Gefährdung von Terrorverdächtigen sei nicht auszuschließen. Auf die Frage der Kammer, wie sich die Praxis der tunesischen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden bei zurückkehrenden Terrorverdächtigen aus dem Ausland, insbesondere bei vermutetem Bezug zur Terrororganisation Al Kaida, derzeit konkret darstelle, heißt es in der Antwort des Auswärtigen Amtes, das tunesische Innenministerium gehe derzeit von etwa 800 Rückkehrern aus dem Gebiet Syrien/Irak aus. Nach Rückkehr werde zunächst die Identität der Person zweifelsfrei festgestellt und dann die Person zu ihrem Aufenthalt in Syrien/Irak befragt.

95 Die von der Kammer unmittelbar bei der OMCT eingeholte Stellungnahme vom 10. Februar 2016 bestätigt die Darstellung des Auswärtigen Amtes in dessen Lagebericht und dessen vorgenannter Stellungnahme. Es bestehe unter örtlichen und internationalen Beobachtern einstimmig die Ansicht, dass Folter und Misshandlungen während des alten Regimes systematisch praktiziert worden seien und sich daran Spezialkräfte, Ordnungskräfte, normale Beamte, Offiziere und Strafvollzugsbedienstete sowie deren Führungskräfte beteiligt hätten. Nach der Revolution sei die Folterproblematik weder minutiös noch methodisch aufgearbeitet worden, um dieses Phänomen auszulöschen. Der am 14. Januar 2011 eingeleitete Wandel habe eine Reihe neuer Errungenschaften und Anti-Folterstandards gebracht, die dank der Forderungen der Bevölkerung und des Drucks der Zivilgesellschaft, aber auch dank einer gewissen politischen Sensibilisierung erzielt worden seien. Trotz dieser Fortschritte dauerten Folter und Misshandlungen in Tunesien auch nach der Revolution bis heute an. Es gebe weiterhin neue Fälle von Folter und Misshandlung. Selbst die tunesische Regierung spreche in einem Bericht von 2014 an die Antifolterkommission von der Aufarbeitung von 230 Fällen von Folterungen. Trotz einer Vielzahl von Gerichtsverfahren wegen Folter und Misshandlungen gebe es keine seriösen und effizienten Ermittlungen. In Fällen von Folter und Misshandlungen sei die Justiz von einer an Rechtsverweigerung grenzenden Langsamkeit. Entschädigungen seien den Opfern nicht gezahlt worden. Es habe viele Kommuniqués, Berichte oder Pressekonferenzen darüber gegeben, dass auch nach der Revolution Folter sowie Straffreiheit der Täter in Tunesien fortbestünden. Angesichts der Terroranschläge, die sich insbesondere vor 2015 im Wesentlichen gegen Politiker, Ordnungs- und Streitkräfte richteten, seien die Ermittlungen der zuständigen Stellen von einer gewissen Rach- bzw. Vergeltungssucht gegenüber Terrorverdächtigen bestimmt gewesen. Menschenrechtsverletzungen bei der Inhaftierung, in Haft und bei den Ermittlungen im Zuge von Terrorismusfällen seien zu beobachten gewesen. Gesetzesabweichungen und -überschreitungen gegenüber aufgrund des Antiterrorgesetzes Inhaftierten seien 2015 vermehrt aufgetreten. Die Politiker negierten zwar die Existenz von Folter und Misshandlungen nicht, hätten jedoch die Neigung, deren Umfang herunterzuspielen. Das einzige Mal, in dem die Behörden öffentlich einen Fall von Folter zugegeben hätten, sei der unter dem Namen ... bekannt gewordene Terrorismus-Fall aus Februar 2012, als es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Terroristen, Kräften der Garde Nationale und der Armee gekommen sei. Das nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung geschaffene Ministerium für Menschenrechte und Übergangsjustiz habe zu diesem Fall einen Ermittlungsausschuss gebildet, der zugegeben habe, dass in dieser Sache Beschuldigte gefoltert worden seien. Die faktische Straffreiheit von Folter und Misshandlungen nähre den starken Wunsch einiger Personen aus dem Sicherheitsbereich, nicht unbedingt jener, die im Rampenlicht oder an der Spitze der Hierarchie stünden, die vermeintlichen Vorteile, die sie vor der Revolution hatten, wieder zu bekommen. Die Ordnungskräfte instrumentalisierten Emotionen und den Umstand, dass sie Hauptziel der Terroristen seien, um Folterungen und Misshandlungen, insbesondere in Terrorismusfällen, zu legitimieren.

96 Zu berücksichtigen sei auch, dass recht viele junge Tunesier nach der Revolution beschlossen hätten, Tunesien zu verlassen, um sich dem Jihad in Irak, Libyen und Syrien anzuschließen. Rückkehrer würden systematisch von der Anti-Terrorbrigade festgenommen und im Rahmen des Antiterrorgesetzes verfolgt. Ehemalige tunesische Guantanamo-Gefangene würden trotz einer Amnestie nach der Revolution eingeschüchtert, belästigt und müssten Hausdurchsuchungen und Verhöre unterschiedlichster Art über sich ergehen lassen.

97 Insgesamt sei die Liste der Anklagen lang und es scheine, dass seit 2015 härtere Urteile ergingen als früher. Hier sei insbesondere zu berücksichtigen, dass für Terrorismus im Anti-Terrorgesetz 2015 die Todesstrafe vorgesehen sei, vor deren Verhängung zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Richter nicht zurückschreckten. Obwohl die Todesstrafe seit 1991 nicht mehr vollstreckt werde, gebe es seit einigen Monaten Stimmen, die für die Rückkehr zur Vollstreckung der Todesstrafe, insbesondere bei Terrordelikten, einträten.

98 Wie die OMCT weist auch Amnesty International im Jahresbericht 2016 zu Tunesien darauf hin, dass weiterhin Berichte über Folter und Misshandlungen an Gefangenen im Gewahrsam eingingen. Die meisten Vorfälle hätten sich in den ersten Tagen der Untersuchungshaft und bei den Verhören ereignet. Beispielhaft berichtet Amnesty International über die Folter von fünf Terrorismusverdächtigen:

99 "Fünf Männer, die am 27. Juli 2015 unter Terrorismusverdacht festgenommen worden waren, warfen den Verhörbeamten vor, sie geschlagen und durch simuliertes Ertrinken (Waterboarding) gefoltert zu haben. Nach ihrer Entlassung am 4. August reichten sie Beschwerden ein. Noch am selben Tag wurden sie von der Antiterrorpolizei erneut festgenommen und an ihren vorherigen Haftort zurückgebracht. Am 5. August wurden die Männer gerichtsmedizinisch untersucht und am 10. August kamen sie vorläufig wieder frei. Ein parlamentarischer Sonderausschuss wurde mit der Untersuchung der Foltervorwürfe beauftragt, bis Ende 2015 waren jedoch noch keine Ergebnisse veröffentlicht worden."

100 Diese Stellungnahmen vermitteln der Kammer aufgrund ihrer Qualität ein ausreichendes Bild, um eine eigene Prognose zur Gefährdung des Klägers bei einer Rückkehr nach Tunesien abgeben zu können. So ist weder die Auskunft des Auswärtigen Amtes von offenkundig zu hoher diplomatischer Rücksichtnahme getragen noch diejenige der OMCT als Stellungnahme einer Nichtregierungsorganisationen in die Richtung auffällig, durch übertriebene Schilderung der Gegebenheiten in Tunesien ihren eigenen Zweck zu rechtfertigen. Denn an den entscheidenden Stellen beider Auskünfte werden jeweils den Defiziten auch zweifellos vorhandene Fortschritte gegenübergestellt. Gleichzeitig werden Defizite bei den Erkenntnismöglichkeiten benannt und wird insoweit auf eine eigene inhaltliche Positionierung verzichtet. Durch diese ausgewogene Abfassung der Stellungnahmen besteht kein Anlass, die Glaubhaftigkeit und Objektivität der Stellungnahmen in Zweifel zu ziehen.

101 Aus dieser Berichterstattung ergibt sich zur Überzeugung der Kammer, dass insbesondere Personen, die eines islamistischen Hintergrundes verdächtig sind, in besonderer Weise gefährdet sind, Opfer von Folter oder unmenschlicher oder unangemessener Behandlung zu werden. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass die tunesische Regierung ein großes Interesse hat, Erkenntnisse über islamistische Strukturen in Tunesien zu erhalten. Dies folgt insbesondere daraus, dass die Sicherheitsbehörden nicht zuletzt aufgrund der vorgenannten Anschläge auf das Bardo-Museum, in Port El Kantaoui/Sousse und gegen die Präsidentengarde die innere Sicherheit Tunesiens als durch islamistische Organisationen oder Einzelpersonen gefährdet ansehen müssen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Anschläge gegen touristische Ziele wie derjenige in Port El Kantaoui/Sousse einen der Hauptwirtschaftszweige Tunesiens treffen. Da eine wirtschaftliche Destabilisierung auch den begonnenen Demokratisierungsprozess bedroht, ist das Vorgehen gegen islamistische Kreise für die tunesischen Sicherheitsbehörden von herausragender Bedeutung. Da der Kläger im Verdacht steht, eine exponierte Position bei Al Kaida bekleidet zu haben, werden die tunesischen Sicherheitsbehörden in besonderem Maße verleitet sein, den diese Kontakte bestreitenden Kläger durch Anwendung unzulässiger Vernehmungsmethoden zur Preisgabe von bei ihm vermuteten Informationen zu bewegen. [...]

104 Aus dem Vorgenannten folgt zur Überzeugung der Kammer, dass sich die Lage in Tunesien nicht so grundlegend und auch verfestigt geändert hat, dass der Kläger bei einer Rückkehr nicht mehr Gefahr liefe, gefoltert oder unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden. Gerade die – teilweise sensationslüsterne – Darstellung des Klägers als Leibwächter von Osama Bin Laden in der deutschen Presse begründet die Gefahr – ohne dass es für das vorliegende Verfahren auf die Richtigkeit der Presseberichterstattung ankäme –, dass tunesische Sicherheitsbehörden den Kläger in nicht menschenrechtskonformer Weise vernehmen werden, um auf diese Weise an Informationen zu islamistischen Gruppierungen oder Einzelpersonen aus dem Umkreis von Al Kaida in Tunesien zu gelangen. Nach alledem sind die Voraussetzungen für einen Widerruf der im Bescheid vom 21. Juni 2010 getroffenen Feststellung, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. hinsichtlich Tunesien vorliegt, derzeit nicht erfüllt. Bei einer durchgreifenden Änderung der Situation in Tunesien ist indes zukünftig ein erneuter Widerruf unter den geschilderten – recht strengen – Voraussetzungen möglich. [...]