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LSG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.08.2016 - L 3 AS 376/16 B ER - asyl.net: M24209
https://www.asyl.net/rsdb/M24209
Leitsatz:

Ablehnung vorläufiger Leistungen im Eilrechtsschutzverfahren:

1. Abgeleitete Aufenthaltsrechte (hier aus Art. 10 Freizügigkeitsverordnung 492/2011/EU bei Stiefkindern) sind keine weiteren Aufenthaltsrechte nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, die die Anwendung des Leistungsausschlusses verhindern.

2. Der Leistungsausschluss verstößt weder gegen europäisches Recht noch gegen das Grundgesetz.

3. Ein Ausnahmefall, in dem nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII Leistungen gewährt werden können liegt nicht vor. Insbesondere rechtfertigt ein Aufenthalt von sechs Monaten nicht regelmäßig eine Ausnahme vom grundsätzlich angeordneten Leistungsausschluss (entgegen BSG Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - asyl.net: M 23659, Asylmagazin 6/2016).

Schlagwörter: Unionsbürger, Schulbesuch, Leistungsausschluss, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Ausnahme, Ausnahmefall, Aufenthaltsrecht, eigenständiges Aufenthaltsrecht, abgeleitetes Aufenthaltsrecht,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, VO 492/2011 Art. 10, SGB XII § 23 Abs. 1 S. 3, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

a) Auf ein weiteres Aufenthaltsrecht i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II können sich die Antragsteller nicht berufen. Ein solches folgt – entgegen der Ansicht des Sozialgerichts – insbesondere nicht aus Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 (früher Art. 12 VO [EWG] Nr. 1612/68). Unabhängig davon, ob das aus Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 (der nur von "Kindern eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist" spricht) folgende Aufenthaltsrecht auch für Stiefkinder gilt (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 1.7.2016 – L 26 AS 1421/16 B ER, juris RdNr. 9), handelt es sich hierbei jedenfalls um ein abgeleitetes Recht als Familienangehöriger, das kein weiteres Aufenthaltsrecht i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vermittelt:

aa) Die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfordert eine Prüfung des Grundes bzw. der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum bestehende Freizügigkeitsberechtigung nach dem Freizügigkeitsgesetz/ EU oder – nach dem Günstigkeitsvergleich nach § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU – eines Aufenthaltsrechts nach dem Aufenthaltsgesetz (so im Ansatz auch BSG, Urt. v. 3.12.2015 – B 4 AS 43/15 R, SozR 4-4200 § 7 Nr. 46, juris RdNr. 27 m.w.N.). Vom Ausschlusstatbestand in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst werden demgegenüber nur (originäre) Aufenthaltsrechte von Freizügigkeitsberechtigten i.S.d. § 24 Abs. 2 und § 14 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG und keine abgeleiteten Aufenthaltsrechte als Familienangehöriger.

bb) Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift: Dieser normiert einen Leistungsausschluss für "Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen". Aus der gesonderten Nennung der "Familienangehörigen“ folgt zum einen, dass deren abgeleitetes Aufenthaltsrecht nicht bereits von dem im Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zuvor genannten "Aufenthaltsrecht" erfasst sein soll. Zum anderen folgt daraus aber auch, dass Familienangehörige mit einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht ebenfalls von dem Leistungsausschluss erfasst sein sollen.

cc) Diese Auslegung entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, wie er aus der Begründung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales (BT-Drs. 16/688, S. 13) klar zum Ausdruck kommt: Danach soll mit der Neufassung des (damaligen) § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II (heute § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II) Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG umgesetzt werden, wonach im nationalen Recht Personen und ihre Familienangehörigen vom Bezug sozialer Leistungen ausgeschlossen werden können, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein auf den Zweck der Arbeitssuche gründet. Nach Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, Unionsbürgern, die in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b (d.h. solange sie nicht nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden) einen Anspruch u.a. auf Sozialhilfe zu gewähren. Auch hieraus ist zu entnehmen, dass abgeleitete Aufenthaltsrechte als Familienangehörige nicht als weitere – zum Bezug von Leistungen nach dem SGB II berechtigende – Aufenthaltsrechte gelten sollen.

dd) Dies entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 15.9.2015 – C 67/14 – Alimanovic, juris RdNr. 49; Urt. v. 11.11.2014 – C-333/13 – Dano, juris RdNr. 69). Der EuGH hat in der Entscheidung vom 15.9.2015 (a.a.O.) unter Verweis auf die Entscheidung vom 11.11.2014 (a.a.O.) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt. Eine Gleichsetzung der auf der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 basierenden – abgeleiteten – Aufenthaltsrechte mit den bei Versagung des Zugangs zu Sozialleistungen zu einer Verletzung des Gleichbehandlungsgebots nach Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG führenden Aufenthaltsrechten nach Art. 7 Abs. 3 Buchstabe c oder Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG hat der EuGH in dieser Entscheidung nicht einmal erwogen und ist damit dem darauf gestützten Schlussantrag des Generalanwalts beim EuGH vom 26.3.2015 in der Rechtssache C-67/14 (juris, RdNr. 119 ff.) nicht gefolgt (vgl. hierzu auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 15.1.2015 – L 15 As 226/15 B ER, juris RdNr. 13). Entgegen der Auffassung des Generalanwalts ist das vom EuGH aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 (früher Art. 12 der Verordnung [EWG] Nr. 1612/68) abgeleitete Aufenthaltsrecht der Kinder (vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 23.2.2010 – C-480/08 – Teixeira, juris RdNr. 39, 46; Urt. v. 17.9.2002 – C-413/99 – Baumbast und R, juris RdNr. 63, 75, 94; Urt. v. 23.2.2010 – C 310/08 – Ibrahim, juris RdNr. 29, 31, 42 f., 52, 56, 59) nicht "allein an das Recht auf Zugang zur Ausbildung gebunden" (so aber der Schlussantrag vom 26.3.2015 in der Rechtssache C-67/14, juris RdNr. 120), sondern jedenfalls auch an den Arbeitnehmerstatus eines Elternteils des Kindes, der zumindest zu Beginn des Schulbesuchs bestanden haben muss. Es handelt sich daher um ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger.

ee) Bestätigt wird dies – worauf das BSG im Urt. v. 3.12.2015 – B 4 AS 43/15 R (juris RdNr. 32 m.w.N.) auch hinweist – durch Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG – im deutschen Recht umgesetzt durch § 3 Abs. 4 des Freizügigkeitsgesetzes/EU: Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG bestimmt, dass der Wegzug des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder sein Tod weder für seine Kinder noch für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt. § 3 Abs. 4 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (überschrieben mit "Familienangehörige") spricht ausdrücklich vom "Unionsbürger, von dem (die Kinder) ihr Aufenthaltsrecht ableiten". Jedenfalls bis zum Wegzug oder dem Tod des "Unionsbürgers" handelt es sich bei dem Aufenthaltsrecht zum Schulbesuch folglich um ein abgeleitetes Recht als Familienangehöriger.

b) Begründet das nach Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 aus dem früheren Arbeitnehmerstatus des Antragstellers zu 2. abgeleitete Aufenthaltsrecht der Antragstellerinnen zu 3. und 4. als Familienangehörige damit kein weiteres Aufenthaltsrecht i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, unterfallen damit sowohl der Antragsteller zu 2., dessen jetziges Aufenthaltsrecht nunmehr allein aus der Arbeitsuche folgt (oder folgen kann), als auch seine Familienangehörigen, die Antragstellerinnen zu 1., 3. und 4. dem Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. [...]

3. Der Leistungsausschluss verstößt – wie der Senat bereits entschieden hat (Beschlüsse v. 11.2.2016 – L 3 AS 668/15 B ER, juris RdNr. 18 ff. und v. 5.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER, juris RdNr. 20 ff.) – weder gegen europäisches Unionsrecht (EuGH, Urteil vom 15.9.2015 – C-67/14), noch gegen das Grundgesetz. [...]

3. Ein Anordnungsanspruch ergibt sich im vorliegenden Fall auch nicht aus § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII. [...]

Im vorliegenden Fall sind indes keine Anhaltspunkte glaubhaft gemacht oder sonst ersichtlich, nach denen im vorliegenden konkreten Einzelfall eine Gewährung von Sozialhilfe trotz des gesetzlich ausdrücklich geregelten Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bzw. gleichlautend für das SGB XII in § 23 Abs. 3 Satz 1 ausnahmsweise gerechtfertigt sein könnte.

bb) Angesichts des gesetzlich ausdrücklich geregelten Leistungsausschlusses für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und deren Familienangehörige, Sinn und Zweck dieser Regelung, einer "Einwanderung in die Sozialsysteme" unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die die Freizügigkeit für EU-Bürger innerhalb des EU-Binnenmarktes bietet, entgegenzuwirken (vgl. hierzu bereits den Beschluss des Senats vom 5.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER, juris RdNr. 18, sowie LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4.2.2015 – L 2 AS 14/15 B ER und LSG Baden- Württemberg, Beschluss vom 29.6.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B) und der sich aus den Gesetzesmaterialien klar ergebenden Intention des Gesetzgebers, einen solchen Leistungsausschluss sicherzustellen (vgl. hierzu zu § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB II BRDrucks. 617/06, S. 15:

"Die Einfügung normiert einen der Regelung im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch entsprechenden Leistungsausschluss für Ausländer und stellt damit zugleich sicher, dass Ausländer, die nach § 7 Absatz 1 Satz 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch haben, auch aus dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch keine Ansprüche herleiten können."),

kann den Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII in diesem Zusammenhang allenfalls ein Ausnahmecharakter beigemessen werden, so dass es hierfür besonderer Umstände bedarf, um von dem grundsätzlich geltenden Leistungsausschluss abzuweichen. Solche Umstände sind im vorliegenden Verfahren aber weder glaubhaft gemacht, noch sonst ersichtlich.

b) Der entgegenstehenden Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, juris RdNr. 36 ff.) vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Eine vom BSG als Begründung für eine Ermessensreduktion auf Null herangezogene – nach der Entscheidung des BSG nach sechs Monaten regelmäßig eintretende – Verfestigung des Aufenthalts (a.a.O. RdNr. 53) kann nach Auffassung des Senats in Bezug auf einen Anspruch auf Sozialhilfe nicht Grundlage einer Ausnahmeentscheidung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII sein. Denn abgesehen davon, dass sich für eine regelmäßige Verfestigung des Aufenthalts nach sechs Monaten aus den einschlägigen gesetzlichen Regelungen keinerlei Anhaltspunkte ableiten lassen (im Gegenteil dürfte sich das Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a und Satz 2 FreizügG/EU für arbeitslose und arbeitsuchende Unionsbürger nach sechs Monaten eher lockern) und aus einem solchen Aufenthaltsrecht im Hinblick auf die gerade für diese Fälle geltenden Leistungsausschlüssen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII jedenfalls für einen Anspruch auf Sozialhilfe keine Rückschlüsse ziehen lassen, handelt es sich hierbei um eine abstrakt-generelle Erwägung, die eine Ausnahme in einem konkreten Einzelfall angesichts des auch für diesen Fall gesetzlich grundsätzlich angeordneten Leistungsausschlusses nicht rechtfertigen kann. Denn dadurch würde die gesetzliche Regelung nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII mit abstrakt-generellen Erwägungen – jedenfalls was Unionsbürger betrifft, die sich länger als sechs Monate im Bundesgebiet aufhalten – in ihr Gegenteil verkehrt und damit eine (abstrakt-generelle) Regelung zur Anwendung gebracht, für die es so in den gesetzgebenden Körperschaften keine politische Mehrheit gegeben hat. [...]