VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 25.08.2016 - 20 K 6664/15.A - asyl.net: M24213
https://www.asyl.net/rsdb/M24213
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Verfolgungsgefahr bei Rückkehr nach Syrien aufgrund unterstellter Regimefeindlichkeit wegen illegaler Ausreise und Asylantragstellung im (westlichen) Ausland. Gefahrerhöhend wirkt sich hier auch ein möglicherweise (vermuteter) Loyalitätsbruch aus, da die Kläger als ehemaliger Berufssoldat bzw. als Oberschullehrerin Teil der militärischen bzw. administrativen Klasse in Syrien waren und deren Söhne sich dem Militärdienst entzogen haben.

Schlagwörter: Syrien, gefahrerhöhende Umstände, Flüchtlingsanerkennung, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, politische Verfolgung, Loyalitätsbruch, Risikoprofil, Homs, Berufssoldat, Wehrdienstverweigerung, Berufsgruppe,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Kriterien liegen die Voraussetzungen des § 3 AsylG hinsichtlich der Kläger vor. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Furcht der Kläger vor einer Verfolgung im Falle einer Rückkehr unter Berücksichtigung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Syrien, der Asylantragstellung, des Aufenthalts im westlichen Ausland sowie ihrer Herkunft aus Homs begründet ist.

Es entspricht unter Berücksichtigung der verschärften politischen Situation in Syrien seit Jahren der ständigen Entscheidungspraxis der Beklagten, dass Rückkehrer im Falle einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten haben und davon auszugehen ist, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst (vgl. hierzu auch: OVG NRW, Urteil vom 14.02.2012, 14 A 2708/10.A – Juris; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Syrien – Asylrelevante Informationen, Rückübernahmeabkommen, Identitätspapiere, Asyl-Like-Minded-Group und aktuelle Situation, April 2011).

Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich an dieser Einschätzung etwas geändert haben könnte. Im Gegenteil ist im Zuge der seit März 2011 anhaltenden Eskalation der politischen Konflikte in Syrien davon auszugehen, dass sich die Gefährdungslage weiterhin erheblich verschärft hat und der syrische Staat eine illegale Ausreise, Aufenthalt im westlichen Ausland und Asylantragstellung inzwischen generell als Ausdruck einer regimekritischen Überzeugung auffasst (vgl. zuletzt u.a. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 – 3 L 147/12 – Juris).

Die Gefährdung der Kläger knüpft daher zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch an eine bei ihnen vermutete politische Gesinnung und damit an eines der Konventionsmerkmale an, so dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen (vgl. hierzu u.a.: VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 - und vom 19.06.2013 – A 11 S 927/13 -; VGH Hessen, Beschluss vom 27.01.2014 – 3 A 917/13.Z.A.; OVG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 – 3 N 91.13 -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 – 2 L 16/13 -).

Soweit der hier streitgegenständliche Bescheid in Abweichung von der bisherigen Entscheidungspraxis der Beklagten die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ablehnt, entbehrt er einer nachvollziehbaren Begründung und nennt keinerlei Quellen, die diese Neubewertung stützen. Solche sind dem Gericht auch nicht bekannt. Aus Parallelverfahren ist dem Gericht bekannt, dass die Beklagte zur Begründung ihrer geänderten Entscheidungspraxis gelegentlich auf eine neue Passpraxis Syriens abstellt, die im Jahr 2015 zur Ausstellung von mehr als 800.000 Pässen geführt haben soll. Abgesehen davon, dass es sich bei vielen dieser Pässe um im Ausland ausgestellte Proxy-Pässe handeln dürfte und die Motive für die geänderte Passpraxis nicht zuletzt in finanziellen Erwägungen liegen, ist nach Auffassung des Gerichts irgendein Zusammenhang zwischen syrischer Passpraxis und Rückkehrgefährdung ohnehin nicht gegeben und rein spekulativ. Angesichts der ungebremsten Eskalation der politischen und militärischen Auseinandersetzungen in Syrien ist für das Gericht auch nicht im Ansatz erkennbar, dass das Informations- und Verfolgungsinteresse des um seinen Machterhalt kämpfenden syrischen Regimes an Rückkehrern aus dem westlichen Ausland nachgelassen haben könnte. Das Gegenteil ist anzunehmen.

Das andauernde uferlose Verfolgungsinteresse des syrischen Regimes wird nicht zuletzt durch jüngste Berichte über Todesfälle und Folterungen in syrischen Gefängnissen bestätigt. Zehntausende sind seit dem Beginn des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert und schwerster Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt gewesen. Nach vorsichtigen Schätzungen sind mindestens 17.723 Menschen zwischen dem 15. März 2011 und dem 31. Dezember 2015 in der Haft getötet worden. Jeder, der unter dem Verdacht steht, regimekritisch zu sein, unterliegt dem Risiko willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderer Misshandlung, des Verschwindenlassens und des Todes während der Haft. Dabei sind die Gründe für den Verdacht einer regimekritischen Haltung oft extrem fadenscheinig. Unter Folter erzwungene falsche Anschuldigungen Dritter können ebenso der Grund für Festnahmen sein wie Anschuldigungen aus persönlicher Rache (vgl. amnesty international, It breaks the human - Torture, Disease and Death in Syria's Prisons, Index: MDE 24/4508/2016).

Unabhängig von den Verfolgungsgefahren für Rückkehrer droht syrischen Staatsangehörigen bzw. Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Syrien aber auch aus anderen Gründen systematische Verfolgung in Anknüpfung an Konventionsmerkmale. Sowohl das syrische Regime und regierungsnahe Kräfte als auch bewaffnete oppositionelle Gruppen, darunter der sog. "Islamische Staat" und die Al-Nusra-Front, verüben in den jeweils von ihnen beherrschten Gebieten in breitem Umfang Massaker an der Zivilbevölkerung und Angriffe auf Zivilpersonen, u.a. in Form von Mord, Geiselnahme, Folter, Zwangsverschleppung, sexueller Gewalt und Rekrutierung von Kindern. Dabei besteht eine Besonderheit des Konflikts darin, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung oder Zugehörigkeit unterstellen. Im Zuge dieser extensiven Anwendung von Sippenhaft sind Zivilisten bereits aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, ihrer Anwesenheit in einem Gebiet oder ihrer Herkunft aus einem Gebiet, das als regierungsfeindlich und/oder als Unterstützer oppositioneller bewaffneter Gruppen betrachtet wird, gezielten Verfolgungshandlungen durch Regierungskräfte im Rahmen von Bodenoffensiven, Hausdurchsuchungen und an Kontrollstellen ausgesetzt, darunter Inhaftierung, Folter, sexuelle Gewalt und extralegale Hinrichtungen, und sie laufen ernsthaft Gefahr, Opfer zielgerichteter Gewaltanwendung wie Massenhinrichtungen und Massaker zu werden. In gleicher Weise und mit derselben Brutalität gehen bewaffnete oppositionelle Gruppen vorsätzlich gegen Zivilpersonen vor aufgrund deren tatsächlicher oder vermeintlicher Unterstützung des Regimes oder einer sonstigen gegnerischen Konfliktpartei und ihrer ethnischen und/oder religiösen Zugehörigkeit. Entsprechend hat UNHCR wiederholt darauf hingewiesen, dass es wahrscheinlich ist, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 1 A (2) der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllen (vgl. zuletzt: UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, Stand November 2015).

Auch aktuelle Untersuchungen der Vereinten Nationen bestätigen, dass in Syrien neben der allgegenwärtigen Gefahr für die Zivilbevölkerung, durch willkürliche Gewalt im Rahmen des dortigen bewaffneten Konflikts Schaden an Leib und Leben zu nehmen, gezielte Verfolgungshandlungen sowohl durch das syrische Regime als auch durch bewaffnete oppositionelle Gruppen, allen voran die Al Nusra-Front und der sog. Islamische Staat, an der Tagesordnung sind. Zehntausende wurden und werden in Gefängnissen und Haftzentren des Regimes gefoltert, misshandelt und getötet und anderen Formen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wie Verschwindenlassen, sexuelle Gewalt oder Belagerungen und Aushungern ganzer Städte und Dörfer. Diese gezielten Verfolgungshandlungen knüpfen regelmäßig an einen oder mehrere der Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention an, von der Religionszugehörigkeit, über die ethnische Zugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe wie das Geschlecht, die sexuelle Identität oder bestimmte Berufsgruppen bis hin zu der tatsächlichen oder den Opfern von den verschiedenen Verfolgungsakteuren zugeschriebenen politischen Überzeugung (vgl. UN-Menschenrechtsrat, "Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic" vom 11.02.2016 und Bericht vom 03.02.2016 "Out of Sight, Out of Mind: Deaths in Detention in the Syrian Arab Republic").

Die bisher von der Beklagten ihren Entscheidungen über die Asylbegehren von Syrern zugrunde gelegte Annahme,

"In allen Landesteilen Syriens findet Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG statt. In den Landesteilen, in denen das Assad-Regime herrscht, geht die Verfolgung von der Regierung aus. In den Landesteilen, die von den Rebellen beherrscht werden, geht die Gefahr von diesen aus. Auch ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Rückkehrern nach längerem Auslandsaufenthalt grundsätzlich eine oppositionelle regimefeindliche Haltung unterstellt wird." (Vermerk vom 12.02.2016 im Verfahren 6205810-475),

ist demnach unverändert aktuell und begründet weiterhin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Zu berücksichtigen ist hier zudem, dass die Kläger aus Homs stammen und dort gelebt haben. In Homs hat der Aufstand gegen das syrische Regime seinen Anfang genommen. Die Stadt gilt als "Hauptstadt der Revolution" und war einer jahrelangen Belagerung durch Regierungskräfte ausgesetzt, die erst in jüngster Zeit beendet zu sein scheint (vgl. spiegel online vom 09.12.2015: Hunderte Rebellen ziehen sich aus Homs zurück – www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-hunderte-rebellen-ziehen-sich-aus-homs-zurueck-a-1066904.html; Süddeutsche Zeitung online vom 09.12.2015, Deal mit Assad - Syrische Rebellen verlassen Homs – www.sueddeutsche.de/politik/buergerkrieg-deal-mit-assad-syrische-rebellen-verlassen-homs-1.2774406).

Die Kläger unterliegen bereits wegen ihrer Herkunft aus Homs und der ihnen infolgedessen zugeschriebenen Regimegegnerschaft einer erhöhten Gefährdung.

Gefahrerhöhend wirkt sich zudem aus, dass die Kläger als ehemaliger Berufssoldat bzw. als Oberschullehrerin Teil der militärischen bzw. administrativen Klasse in Syrien waren, so dass sich der – jedenfalls vermutete – Loyalitätsbruch durch die illegale Ausreise und Asylantragstellung, aber auch durch die Unterstützung der Söhne bei deren Entziehung vom Militärdienst besonders gravierend auswirken kann.

Die von den Klägern bereits in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt dargelegte Gefährdung wegen der ihnen zugeschriebenen Regimegegnerschaft ist daher zutreffend und aufgrund der gegenwärtigen Situation in Syrien auch ausreichend zur Darlegung der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft. Die in dem angegriffenen Bescheid thematisierten Glaubwürdigkeitsdefizite, u.a. weil entgegen der Angaben des Klägers zu 1) Senioren nicht mehr zum Militärdienst eingezogen würden, sind vor dem Hintergrund aller obigen Ausführungen gänzlich irrelevant und berühren allenfalls nicht entscheidungserhebliche Nebenaspekte. Abgesehen davon erscheint die Befürchtung des Klägers zu 1), als ehemaliger Berufssoldat noch eingezogen zu werden, trotz seines Alters insofern nicht abwegig, als die Einsatzmöglichkeiten für ehemalige – erfahrene - Militärangehörige auch jenseits des offenen Kampfgeschehens in Syrien vermutlich vielfältig sind. [...]