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VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 17.12.2014 - W 6 K 14.30391 - asyl.net: M24219
https://www.asyl.net/rsdb/M24219
Leitsatz:

1. Transsexuelle bilden im Iran, ebenso wie Homosexuelle, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer deutlich abgegrenzten sexuellen Identität eine bestimmte soziale Gruppe.

2. Von einer Transsexuellen kann nicht erwartet werden, auf das Ausleben ihrer sexuellen Ausrichtung im Iran zu verzichten oder ihre Transsexualität zu verheimlichen, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.

3. Die über die reine Anwendung von Strafvorschriften hinausgehende Verfolgung Transsexueller, insbesondere erlittene Vergewaltigungen von staatlicher Akteuren oder von Privatpersonen ohne Schutzgewährleistung durch den iranischen Staat, ist flüchtlingsschutzrelevant.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Iran, Transsexuelle, Asylrelevanz, politische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, sexuelle Orientierung, sexuelle Identität, soziale Gruppe, Flüchtlingseigenschaft,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat im Gerichtsverfahren, insbesondere im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ihr Vorfluchtschicksal glaubhaft geschildert. Dazu ist zu anzumerken, dass im Lichte der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U. v. 2.12.2014 - C-148/13, C 149-150/13, C- 150/13 - juris) zum einen darauf zu achten war, zu zudringliche, diskriminierende und menschenunwürdige Fragen gerade zum Intimbereich und zu Einzelheiten der sexuellen Erlebnisse, insbesondere den erlittenen Vergewaltigungen, zu vermeiden. Zum anderen ist bei der Würdigung der Aussagen der Klägerin auch im Vergleich zu ihren Angaben gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu bedenken, dass angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die die persönliche Intimsphäre einer Person, insbesondere ihrer Sexualität, betreffen, allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren und gewisse Sachverhalte gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht so deutlich bzw. anders angegeben hat, nicht geschlossen werden kann, dass sie deshalb unglaubwürdig ist Gerichtshofs (vgl. EuGH, U. v. 2.12.2014 - C-148/13, C 149-150/13, C-150/13 - juris). Die Klägerin hat auch in der mündlichen Verhandlung den Vollzug der jeweiligen ihr angetanen Vergewaltigung bei der Schilderung der betreffenden Situation teilweise erst auf ausdrückliche gerichtliche Nachfrage ausgesprochen.

Nach Überzeugung des Gerichts bestehen keine Zweifel, dass die Klägerin transsexuell ist, zunächst als Mann im Iran geboren war und sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen hat. Abgesehen von ihren eigenen glaubhaften Angaben und ihrer iranischen, amtlicherseits neu ausgestellten Geburtsurkunde (Shenasnameh) wird dies durch die beigezogene Ausländerakte bestätigt, der sich entnehmen lässt, dass die Klägerin in Deutschland noch zweimal in eine spezielle Fachklinik nach Frankfurt gefahren ist, um dort bei stationären Aufenthalten weitere Operationen vorzunehmen lassen. Diese Operationen, die sie nach ihren Angaben nun vollständig zur Frau machten, hat die Klägerin auch in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt.

Des Weiteren hat das Gericht keine Zweifel, dass die Klägerin im Iran sowohl vor der Operation als auch nach der Operation wiederholt diskriminierenden und erniedrigenden, gewaltsamen Übergriffen (einschließlich sexueller Gewalt) von Angehörigen der Sicherheitskräfte sowie von Privatpersonen ausgesetzt war bis hin zu wiederholten Vergewaltigungen (im Sinne des Deutschen Strafrechts nach § 177 StGB: vollzogener Beischlaf, Eindringen in natürliche Körperöffnungen - wobei nach Angaben der Klägerin bei ihr zwangsweise oraler und analer Geschlechtsverkehr erfolgte). Die Angaben der Klägerin zu der Situation von Transsexuellen allgemein und zu ihrer speziellen Situation decken sich zudem mit den in den beigezogenen Erkenntnisquellen enthaltenen Informationen. Die Aussage im streitgegenständlichen Bundesamtsbescheid, dass die Schilderungen der Klägerin unter der Schwelle der flüchtlingsschutzrechtlich und asylrechtlich relevanten Intensität lägen, ist angesichts der auch schon bei der Bundesamtsanhörung berichteten Vergewaltigungen sowohl durch Privatpersonen als auch durch staatliche Akteure nicht nachvollziehbar.

Die Klägerin hat bei ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung nicht bloß abstrakt von einem ausgedachten, flüchtlingsrelevanten Sachverhalt berichtet, sondern durchaus in umfangreichen Ausführungen detailreich ihre Vorfluchtgeschichte geschildert. Anders als bei einem erfundenen Schicksal erwähnte die Klägerin dabei auch immer wieder nebensächliche Details und lieferte so eine anschauliche Schilderung ihrer Erlebnisse. Hinzu kommen die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik auch verbunden mit einem Einblick in ihre Gefühlslage und Gedankenwelt. Teilweise kamen der Klägerin bei den Schilderungen die Tränen, die sie aber augenscheinlich zu unterdrücken suchte. Dies spricht dafür, dass es ihr nicht um eine künstliche emotionale Aufbauschung eines erdachten Ereignisses ging. Die Klägerin zeigte sich persönlich berührt und emotional betroffen. Gerade die nicht verbalen Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit der Klägerin und für den wahren Inhalt ihrer Angaben. Dabei kommt das Auftreten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und die Art und Weise ihrer Aussage in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung allenfalls ansatzweise zum Ausdruck. Erwähnenswert ist auch noch, dass die Klägerin die Erzählung von den erlittenen Vergewaltigungen zum Teil auch mit einer gewissen Abgestumpftheit hervorbrachte, die aufgrund ihres Lebenswegs nicht gegen, sondern für sie spricht. [...]

3. Die Angaben der Klägerin decken sich mit den Informationen aus den vorliegenden Erkenntnisquellen, die sich zusammengefasst wie folgt darstellen:

Im Iran ist die Transsexualität im Gegensatz zur Homosexualität legalisiert. Die Homosexualität ist eine Todsünde. Die Transsexualität ist im Iran eine Krankheit. Dies ist auf einen entsprechenden Rechtsspruch des früheren Ayatollah Khomeini zurückzuführen, der zu Geschlechtsumwandlungen feststellte: "Die sexuelle Identität jeder Person beruht auf ihrer Wahrnehmung von sich selbst" (Die Welt vom 13.2.2014 "Iranische Nationalspielerinnen als Männer entlarvt"; Handelsblatt vom 7.9.2009 "Iran: Wo die Geschlechtsumwandlung boomt").

Jedoch sieht sie Realität im Iran anders aus, zumal Transsexuelle oftmals auch - insbesondere vor der Operation (wie auch von der Klägerin geschildert) - für Homosexuelle gehalten werden. Die Homosexualität ist aber im Iran pönalisiert und mit der Todesstrafe belegt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran vom 11.2.2014, Stand: Oktober 2013). Diskriminierende Gesetze und entsprechendes politisches Vorgehen gegen Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten im Iran erhöhen das Risiko, Opfer von Belästigungen oder sogar von tödlicher Gewalt zu werden; sexuelle Minderheiten im Iran werden sowohl von staatlichen als auch von privaten Akteuren schikaniert. Die Gefahren drohen auch vermeintlichen Homosexuellen (vgl. zur Verfolgung Homosexueller VG Würzburg, U. v. 14.11.2012 - W 6 K 12.30072 - juris m. w. N. sowie VG München, U. v. 6.5.2014 - M 2 K 13.30691 - juris; VG Hamburg, U. v. 2.4.2014 - 10 A 465/12 - juris; VG Köln, U. v. 13.3.2014 - 16 K 5798/12.A - juris; VG Dresden, U. v. 9.5.2013 - A 6 K 1378/11; VG Trier U. v. 21.2.2013 - 2 K 1183/12.Tr; VG Wiesbaden U. v. 8.2.2013 - 6 K 786/12.WI.A; VG Augsburg, U. v. 12.11.2012 - Au 7 K 12.30252 - juris; VG Bayreuth, U. v. 5.3.2012 - B 3 K 11.30113 - juris). Gerade Transsexuelle geraten unter den Verdacht, homosexuell zu sein (vgl. die Zeit vom 10.7.2009 "Roxana fällt auf").

Sexuelle Minderheiten werden im öffentlichen Raum häufig Opfer von verbalen, gewalttätigen oder gar sexuellen Übergriffen durch Polizisten oder Sicherheitskräfte sowie von Familienmitgliedern oder anderen Privatpersonen. Sie haben dabei keine Möglichkeit gegen diese Übergriffe Schutz zu suchen, was zu einer Straflosigkeit der Täter führt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nufer/Lipp, Zulässigkeit der Wegweisung eines homosexuellen Iraners, Newsletter 30.5.2011).

Transsexualität ist im Iran legalisiert, jedoch ist die Toleranz gegenüber Transsexuellen in der Praxis bei Weitem nicht so ausgeprägt (vgl. Die Welt vom 13.2.2014 "Iranische Nationalspielerinnen als Männer entlarvt"). Im Iran gibt es Verhaftungen von Männern, die verdächtigt sind, homosexuell zu sein. Es besteht ein Klima sanktionierter Diskriminierung und einer Toleranz gegenüber verbreitetem diskriminierenden Verhalten gegen Transsexuelle, auch seitens von Regierungsstellen und Strafverfolgungsbehörden. Transsexuelle werden oft als Sexarbeiter bzw. Sexarbeiterinnen missbraucht und sind oft Zielscheibe von sexueller Gewalt, nicht nur von Freiern, sondern auch von der Polizei und den so genannten Sittenwächtern (vgl. Queeramnesty vom 29.12.2013 "Offener Brief an den Präsidenten der Islamischen Republik Iran - Internationale NGOs äußern ihre Besorgnis über die andauernde und systematische staatliche Verfolgung von LGBTI" und Queeramnesty vom 21.1.2013 "Geschlechtsumwandlungen im Iran"; Handelsblatt vom 7.9.2009 "Iran: Wo die Geschlechtsumwandlung boomt").

Des Weiteren ist auf einen Bericht von Accord vom 20.10.2013 ("Anfragebeantwortung zum Iran: Lage von Personen, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen haben") zu verweisen. Dort wird unter Bezug auf andere Quellen unter anderem ausgeführt, dass Transsexuelle verhaftet, auch von Sicherheitsbeamten in der Haft gefoltert oder körperlich misshandelt worden sind sowie Schläge und sexuelle Angriffe und Vergewaltigungen erlitten haben. Transsexuelle Frauen sind insbesondere durch Schikanen von Sicherheitskräften gefährdet, einschließlich Vergewaltigungen. In der iranischen Gesellschaft herrscht eine negative Stigmatisierung gegenüber Transsexuellen und Geschlechtsumwandlungen. Die Schikanen gegen und die Verfolgung von Personen, die eine Geschlechtsumwandlung haben durchführen lassen, sind besorgniserregend. Herabwürdigende und unmenschliche Behandlung und Formen von Folter sind nicht ungewöhnlich.

Auch Human Rights Watch vom 15.12.2010 ("Iran: Diskriminierung und Gewalt gegen sexuelle Minderheiten") berichtet, dass unter anderem Transsexuelle sowohl von staatlichen als auch von privaten Akteuren schikaniert werden und ungestraft davonkommen. Es kommt zu sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen. Es besteht ein bemerkenswerter Gegensatz zwischen der offiziellen Haltung des Irans zu sexuellen Minderheiten und den realen Verhältnissen im Land. Manchmal setzen Angehöriger sexueller Minderheiten die Betroffenen weiteren Schikanen, Misshandlungen, Erpressung, psychischem Druck und Folter aus.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30.6.2007 ("Iran: Sanktionen beim Verstoß gegen moralische Normen") geht davon aus, dass alle Menschen, die nicht in die gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen passen, im Iran auf große Probleme stoßen, auf tägliche Ausgrenzung, strukturelle Diskriminierung und im besten Fall Nichtbeachtung. Sie werden oft als Homosexuelle betrachtet und als solche geächtet und verfolgt. Auch nach einer durchgeführten Operation eines Transsexuellen ist eine Akzeptanz durch das gesellschaftliche Umfeld nicht zu erwarten. Es besteht kein Schutz vor staatlicher Verfolgung. Auf der letzten Seite der Identitätskarte von Personen, die das Geschlecht geändert haben, wird vermerkt, mit welchem Geschlecht diese Person geboren worden sind und dass sie sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen haben. Ein entsprechendes Dokument, das die Geschlechtsumwandlung der Klägerin belegt, hat diese auch in der mündlichen Verhandlung vorgelegt.

Die vorliegenden vorstehend nur teil- bzw. ausschnittsweise referierten Erkenntnisse stehen im Einklang mit dem Vorbringen der Klägerin. Trotz der formal bestehenden Akzeptanz der Transsexualität im Iran hat sie eindrücklich von den soeben zitierten Stigmatisierungen, Diskriminierungen, körperlichen Übergriffen, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen sowohl von Privatpersonen als auch von staatlichen Akteuren berichtet. [...]