Zuerkennung des subsidiären Schutzes im Rahmen einer Untätigkeitsklage.
1. Die derzeitige Arbeitsbelastung des BAMF ist kein zureichender Grund i.S.d. § 75 VwGO für die Nichtbescheidung eines Asylantrags.
2. Im Asylverfahren sind überwiegend gebundene Entscheidungen zu treffen, daher ist der Antrag auf Durchentscheidung zulässig. Einem Antrag auf Verbescheidung würde das Rechtsschutzbedürfnis fehlen.
3. Verneinung der Flüchtlingseigenschaft, da Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab nicht an die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe anknüpfe, obwohl bejaht wird, dass der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit als Taxifahrer zur Rekrutierung als besonders geeignet erscheint (was die Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG erfüllt).
4. In Somalia liegt ein innerstaatlicher Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG vor.
5. Ernsthafte individuelle Bedrohung liegt vor wegen Ablehnung für Al-Shabaab zu arbeiten und für Rückkehrende nach langem Auslandsaufenthalt.
6. Kein interner Schutz, da insbesondere Somaliland oder Puntland nicht oder nur schwer erreicht werden können.
[...]
Die Klage ist als Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO zulässig. […] Über den Asylantrag des Klägers vom 11. August 2014 hat die Beklagte ohne zureichenden Grund bis zum Ende der mündlichen Verhandlung nicht entschieden. Die bekannte derzeitige Arbeitsbelastung des Bundesamtes reicht nicht als zureichender Grund aus. Denn bei einer permanenten Überlastung bestimmter Behörden ist ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung eines Antrags im Sinne von § 75 Satz 3 VwGO grundsätzlich nicht anzunehmen, da es in einem solchen Fall Aufgabe des zuständigen Bundesministeriums bzw. der Behördenleitung ist, für hinreichenden Ersatz zu sorgen oder entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 30. Oktober 2014 - 24 K 992/14 A – juris). Das Bundesamt hat sich zudem nicht zum Vorliegen eines ggfs. rechtfertigenden Grundes für die verzögerte Bearbeitung und Entscheidung geäußert.
Die Klage ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt unzulässig, dass der Kläger mit seinem Antrag eine Durchentscheidung im Hinblick auf sein materielles Begehren (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) anstrebt. Das Gericht sieht sich auch angesichts der Besonderheiten des Asylverfahrens nicht gehindert, in der Sache durch zu entscheiden. Einer Klage nach § 75 VwGO auf Verbescheidung fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn sie auf eine gebundene Entscheidung gerichtet ist, der kein Ermessens-, Beurteilungs- oder Bewertungsspielraum innewohnt. Im Asylverfahren sind überwiegend gebundene Entscheidungen zu treffen. Das gilt insbesondere für das Asylverfahren des Klägers. [...]
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger ist in Somalia weder wegen seiner Religion noch seiner politischen Überzeugung noch aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden. Auch im Falle einer Rückkehr nach Somalia droht ihm eine solche Verfolgung nicht.
Eine Zwangsrekrutierung durch die Al-Shabaab stellt keine Verfolgung dar (BayVGH, Urt. v. 9. Juli 2012 - Az 20 B 12.30003; - VG Würzburg, Urt. v. 6. Dezember 2012 - W 3 K 11.30258 - alle nach juris). Zwangsrekrutierungen durch die Al-Shabaab erfolgen willkürlich (Schweizer Bundesamt für Migration: Focus Somalia - Menschenrechtslage in Süd- und Zentralsomalia vom 30 Juni 2011) und damit nicht in Anknüpfung (vgl. § 3a Abs. 3 AsylG) an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (VG Kassel, Urt. v. 3. März 2015 - 4 K 741/13.KS.A juris). Die versuchte Zwangsrekrutierung erfolgte damit nicht zielgerichtet in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, sondern weil der Kläger der Al-Shabaab aufgrund seiner Tätigkeit als Taxifahrer für diese zur Rekrutierung als Fahrer besonders geeignet erschien bzw. weil die Al-Shabaab generell Rekruten suchte.
Soweit mit der Klage jedoch die Zuerkennung des subsidiären Schutzes begehrt wird, ist sie begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gemäß § 77 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. [...]
Nach Maßgabe dieser Bestimmung steht dem Kläger ein Anspruch auf subsidiären Schutz zu, da ihm bei einer Rückkehr nach Somalia ein ernsthafter Schaden droht. Zur Überzeugung des Gerichts wäre dort das Leben oder die Unversehrtheit des Klägers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ernsthaft und individuell bedroht.
Aufgrund der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ist das Gericht der Überzeugung, dass ein innerstaatlicher Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG in Somalia vorliegt (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urt v. 17 März 2016 - 20 B 13.30233 -; VG Darmstadt, Urt. v. 24. September 2015 - 3 K 1089/13 DA.A - Bay. VGH, Urt, v. 14. Januar 2013 - 20 B 12.30349 -; VG Augsburg, Urt. v 29 Januar 2014 - Au 7 K 13.30389 -; VG München, Urt. v. 20. September 2013 - M 11 K 13.30514 -; VG Aachen, Urt. v. 13. April 2015 - 7 K 711/14.A -; VG Kassel, Urt. V 3. März 2015 - 4 K 867/13.KS.A; VG Frankfurt, Urt. v. 16. April 2015 - 9 K 3437/14.F; a.A. VG Regensburg, Urt. v. 8. Januar 2015 - RN 7 K 14.30016 -, alle zit. nach juris). [...]
Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen stellt sich die allgemeine Situation in Somalia aktuell im Wesentlichen wie folgt dar: Somalia ist spätestens seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ohne flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Autorität der Zentralregierung wird vom nach Unabhängigkeit strebenden "Somaliland" im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen Al Shabaab-Miliz in Frage gestellt. Das Land zerfällt faktisch in drei Teile, nämlich das südliche und mittlere Somalia, die Unabhängigkeit beanspruchende "Republik Somaliland" im Nordwesten und die autonome Region Puntland im Nordosten. In Puntland gibt es eine vergleichsweise stabile Regierung; die Region ist von gewaltsamen Auseinandersetzungen deutlich weniger betroffen als Süd-/Zentralsomalia. In "Somaliland" wurde im somaliaweiten Vergleich das bislang größte Maß an Sicherheit, Stabilität und Entwicklung erreicht. In Süd- und Zentralsomalia kämpfen die somalischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung der Militärmission der Afrikanischen Union AMISOM gegen die Al Shabaab-Miliz. Die Gebiete sind teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der Al Shabaab-Miliz oder anderer Milizen. Die meisten größeren Städte sind schon längere Zeit in der Hand der Regierung, in den ländlichen Gebieten herrscht oft noch die Al Shabaab. In den "befreiten" Gebieten finden keine direkten kämpferischen Auseinandersetzungen mehr statt. Die Al Shabaab verübt jedoch immer wieder Sprengstoffattentate auf bestimmte Objekte und Personen, bei denen auch Unbeteiligte verletzt oder getötet werden (siehe Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 1. Dezember 2015 - Stand: November 2015, S. 4 f.; Österreichisches Bundesasylamt, Analyse der Staatendokumentation - Somalia - Sicherheitslage, 25 Juli 2013, S 29 siehe auch EGMR, Urteil vom 5. September 2013 - Nr. 886/11, [K.A.B ./. Schweden] - Rn. 87 ff.; Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urt. v. 16. Dezember 2015 - 10 A 10689/15 - juris = Asylmagazin 2016, 29).
Es ist vom Vorliegen eines bewaffneten Konflikts in der für die Beurteilung maßgeblichen Heimatprovinz Hiiraan und in der Heimatstadt Halgan auszugehen. Nach dem EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Süd- und Zentralsomalia (Stand: August 2014; S. 79 f.) konnten im Verlauf der "Operation Adler" AMISOM und somalische Streitkräfte (SNAF) ihre Kontrolle in der Region Hiiraan ausdehnen. Die neu eroberten Städte sind jedoch Inseln im Al-Shabaab-Territorium. Die Hauptstraße von Belet Weyne nach Buulo Barde wird als ständig, vor allem aus Osten, von Al Shabaab bedroht beschrieben. Auf der anderen Seite stellen sich lokale Clans nunmehr offen Al Shabaab entgegen und bekämpfen sie sogar. Belet Weyne befindet sich unter der Kontrolle dschibutischer und äthiopischer AMISOM-Kontingente und der SNAF. Es gibt in Belet Weyne auch funktionierende somalische Polizeikräfte (SPF). Darüber hinaus ist dort auch ein AMISOM-Polizeikontingent stationiert. Das dschibutische AMISOM-Kontingent bietet Beratung und Ausbildung für die somalischen Sicherheitskräfte an und hat bereits mehr als 1.200 Mann ausgebildet. Die Verwaltung steht unter der Leitung des Gouverneurs der Region Hiiraan, der ein enger Verbündeter der Zentralregierung ist. Die so beschriebene Lage mit militärischen Auseinandersetzungen zwischen AMISOM-Streitkräften und der Al Shabaab einerseits und rivalisierenden Clanmilizen andererseits sowie die insgesamt fragile Situation, die sich nach den jüngsten Berichten auch nicht im Wesentlichen geändert hat (vgl. EASO Country of Origin Information Report Somalia Security Situation, Februar 2016, S. 58 f.), rechtfertigten die Annahme eines bewaffneten Konflikts in der Provinz Hiiraan (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urt. v. 17. März 2016 - 20 B 13.30233 -, juris).
Auch das Tatbestandsmerkmal der "ernsthaften individuellen Bedrohung" des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegt vor. Dieses erfordert entweder eine solche Gefahrendichte, dass jedermann alleine aufgrund seiner Anwesenheit im jeweiligen Gebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, oder persönliche Umstände, die das derartige Risiko erheblich erhöhen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188, EUGH Urt. v 17 Februar 2009 – C-465/07 -. InfAuslR 2009, 138).
Ob eine Gefahrendichte im Sinne der genannten Vorschrift in Somalia zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) gegeben ist, kann offen bleiben. Jedenfalls kann der Kläger gefahrerhöhende individuelle Umstände geltend machen. Hierbei ist es ausreichend, dass sie glaubhaft gemacht werden. Ein Flüchtling muss deshalb unter Angabe genauer Einzelheiten einen schlüssigen und in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Heimatland politische Verfolgung droht. Andererseits darf das Gericht hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, Urt. v. 16. April 1985 - Az. 9 C 109.84 -, juris). In der Regel kommt deshalb dem persönlichen Vorbringen des Asylbewerbers, seiner Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit sowie der Art seiner Einlassung besondere Bedeutung zu (vgl. zu alledem BayVGH Urt. v. 5 Juli 2012 - Az. 20 B 12.30029 -, juris). Hier hat der Kläger schlüssig und in sich stimmig begründete Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass seine fehlende Bereitschaft für die Al Shabaab als Fahrer zu arbeiten, ihn für die Miliz als Zielperson für Anschläge qualifiziert. Eine andere, zufällig an seiner Stelle seinen Wagen fahrende Person ist durch die Al Shabaab getötet worden, nachdem er nach Ablauf der Bedenkzeit keine Bereitschaft gezeigt hatte, dem Verlangen der Al Shabaab nachzukommen. Eine Erhöhung des Risikos ergibt sich zudem auch aus seiner Situation als Rückkehrer nach einem langen Auslandsaufenthalt. Die Al Shabaab sieht Rückkehrer aus westlichen Ländern als Spione der Regierungstruppen an (EASO, August 2014, S. 113 m.w.Nw.).
Aufgrund dieser Umstände und der oben wiedergegebenen Verhältnisse in Somalia ist somit offensichtlich, dass für den Kläger bei einer Rückkehr in dieses Land die ernsthafte Gefahr besteht, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Der Miliz kommt als nichtstaatlicher Akteur die Möglichkeit zu, mit Verfolgungsmacht gegen missliebige Personen vorzugehen. Gleichzeitig gefährdet sie die Bevölkerung zusätzlich durch kriegerische Aktionen und Anschläge. Insoweit gehört diese Miliz zu der Akteuren, von denen Verfolgung ausgehen kann, was auch im Rahmen des subsidiären Schutzes zu beachten ist. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG (VG Gießen, Urt. v. 14. April 2014 - 1 K 1880/12.GI.A -, juris).
Es ist dem Kläger auch nicht möglich, sich dieser Gefahrenlage durch die Rückkehr in einen anderen Teil seines Heimatlandes zu entziehen (§§ 4 Abs. 3 i.V.m. 3e Abs. 1 AsylG). Denn die Kampfhandlungen und Willkürmaßnahmen der Milizen sowie die Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen somalischen Clans machen es generell schwierig bis unmöglich, Zufluchtsgebiete etwa in Somaliland oder Puntland zu erreichen. Zudem sind wegen der allgemeinen schwierigen Wirtschafts- und Versorgungslage die Überlebensmöglichkeiten von Personen, die nicht vor Ort im Rahmen familiärer Verbindungen unterstützt werden können, sehr in Frage gestellt. Lokale Rivalitäten stellen zusätzlich auch in vermeintlich sicheren Zufluchtsgebieten für Rückkehrer je nach Clanzugehörigkeit schwer einzuschätzende, möglicherweise aber lebensbedrohende Gefahren dar, zumal nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 1. Dezember 2015 (S. 12 f.) derartige relativ sichere Zufluchtsgebiete ohnehin sehr schwierig zu bestimmen sind. Je nach Ausweichgrund und eigenen persönlichen Umständen sei in einem anderen Gebiet des Landes dann durchaus mit Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen des humanitären Bürgerrechts zu rechnen. Selbst in Somaliland oder Puntland herrsche zwar relative Bewegungsfreiheit, doch sei es schwierig bis unmöglich, diese Gebiete tatsächlich zu erreichen. Letztlich sind zudem die Aufnahmekapazitäten der Zufluchtsgebiete ohnehin sehr begrenzt, da mehr als eine Million Binnenvertriebene bereits in Flüchtlingslagern und Camps Unterschlupf gesucht haben (vgl. VG Darmstadt, Urt. v. 18. Mai 2016 - 3 K 977/14.DA.A – juris). [...]