VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.08.2016 - 11 S 1225/16 - asyl.net: M24257
https://www.asyl.net/rsdb/M24257
Leitsatz:

Es stellt eine ungeklärte unionsrechtliche Rechtsfrage dar, ob im Falle einer unterlassenen Optionserklärung nach § 29 Abs. 2 StAG in der bis 19.12.2014 geltenden Fassung eine infolge des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit verlorene Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 (juris: EWGAssRBes 1/80) wieder auflebt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, türkische Staatsangehörige, Optionspflicht, Optionserklärung, Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei,
Normen: StAG § 29 Abs. 2, ARB 1/80 Art. 7 Satz 1, ARB 1/80 Art. 7,
Auszüge:

[...]

Der Senat ordnet die aufschiebende Wirkung der Klage in Bezug auf die Ziffer 2 der Verfügung an, weil nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand erhebliche rechtliche Bedenken gegen deren Rechtmäßigkeit bestehen, die es rechtfertigen, den Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache von gesetzlichen Vollzugsfolgen (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO) freizustellen. Denn es ist zumindest offen, ob der Antragsteller überhaupt ausreisepflichtig ist (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG) und daher die Voraussetzungen des § 59 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Dieses ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Zwischen den Beteiligten besteht Einvernehmen dahin gehend, dass der Antragsteller mit seiner Geburt und dem anschließenden gemeinsamen Wohnen auf die Dauer von drei Jahren bei seinen Eltern im Bundesgebiet die Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben hatte. Der Senat vermag nach Aktenlage auch keine dagegen sprechenden Anhaltspunkte zu erkennen. Nach Aktenlage erwarb der Antragsteller zum 12.04.2001 gem. § 40b StAG neben der weiter bestehenden türkischen Staatsangehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit und wurde deshalb nach § 29 Abs. 1 StAG in der bis 19.12.2014 geltenden Fassung optionspflichtig. Hiernach hätte er bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres, d.h. bis zum Ablauf des 28.11.2013 eine Erklärung nach § 29 Abs. 2 StAG abgeben und die Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit nachweisen müssen (vgl. auch Absatz 3), um die deutsche Staatsangehörigkeit beizubehalten. Da er bis zum Ablauf dieser Frist keine Erklärung abgegeben hatte, ging gem. § 29 Abs. 2 Satz 2 a.F. die deutsche Staatsangehörigkeit verloren.

Es muss aber in Betracht gezogen werden, dass der Antragsteller infolge dieses gesetzlich angeordneten Wegfalls der deutschen Staatsangehörigkeit wieder die Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 und damit ein Aufenthaltsrecht erworben hat. Zwar ist dem Antragsgegner und dem Verwaltungsgericht im Ausgangspunkt beizupflichten, dass derjenige, der zumindest auch die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, nicht mehr des besonderen Schutzes, den die Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 für den Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers begründen soll, bedarf. Die mit der besonderen Rechtsstellung verfolgte Integration des Familienmitglieds (wie aber auch des türkischen Arbeitnehmers, der mit seiner Familie im Aufnahmestaat leben kann) wird in gewisser Weise mit der Einbürgerung vollendet (vgl. EuGH, Urteil vom 15.01.2015 - C-171/13 <Demirci> -, juris). Diese Sichtweise ist aber nur dann ohne weiteres konsequent und schlüssig, wenn die Einbürgerung auf Dauer angelegt ist (vgl. auch VG Freiburg, Urteil vom 19.01.2010 - 3 K 2399/08 -, juris), auch wenn sicherlich ein späterer Verlust, etwa im Falle des Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit (vgl. etwa § 25 StAG) eintreten kann; dieses ändert aber nichts daran, dass die Einbürgerung zunächst auf Dauer angelegt ist. Ist diese aber, wie hier, nur auflösend bedingt durch die unterlassene Abgabe einer entsprechenden Erklärung bis zur Vollendung des 23. Lebensjahrs, so drängt sich die Frage auf, ob der unwiederbringliche Verlust der assoziationsrechtlichen Rechtsstellung noch mit deren Geltungsgrund zu vereinbaren ist; dieses gilt umso mehr, wenn der Erwerb der auflösend bedingten deutschen Staatsangehörigkeit nach § 4 Abs. 1 StAG kraft Gesetzes erfolgt. Aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union lassen sich keine eindeutige Aussagen entnehmen, die einen hinreichenden sicheren Schluss in die eine oder andere Richtung zulassen. Der Senat neigt allerdings zu der Sichtweise, dass ausgehend von den mit Art. 7 ARB 1/80 verfolgten Zielen und Zwecke mehr dafür spricht, von einem Wiederaufleben der Rechtsstellung auszugehen. Jedenfalls bedarf es hier im Hauptsacheverfahren zur abschließenden Klärung die Einholung eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs, sofern nicht die hier zugleich erfolgte Ausweisung die Rechtsstellung zum Erlöschen gebracht haben sollte (vgl. hierzu im Folgenden). [...]