VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.10.2016 - A 10 S 332/12 - asyl.net: M24316
https://www.asyl.net/rsdb/M24316
Leitsatz:

Tamilische Volkszugehörige unterliegen im Oktober 2016 keiner Gruppenverfolgung durch den sri-lankischen Staat.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Gruppenverfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Asylanerkennung, Asylberechtigung, Flüchtlingsschutz
Normen: AsylG § 3, GG Art. 16a
Auszüge:

[...]

bb) Erst recht ist die Annahme einer Gruppenverfolgung zum derzeitigen Zeitpunkt (Oktober 2016) nicht gerechtfertigt.

(1) In Sri Lanka leben nach Auskunft des Auswärtigen Amts (Länderinformation, Stand: Februar 2015) 20,7 Millionen Menschen. Der Anteil der Sri-Lanka-Tamilen beträgt 11,2 % (auch Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7); es ist mithin von etwa 2,3 Millionen Volkszugehörigen auszugehen. "Indian Tamils" machen 4,2 % der Bevölkerung aus.

Am 08.01.2015 wurde Maithripala Sirisena bei der Präsidentenwahl, bei der die Wahlbeteiligung bei 81,5 % lag, zum Präsidenten Sri Lankas gewählt. Er setzte sich mit 51,28 % der Stimmen gegen den bisherigen Amtsinhaber Rajapaksa durch, der 47,58 % erhielt. Am 17.08.2015 fanden Parlamentswahlen statt, die nach Einschätzung des Auswärtigen Amts frei und fair waren (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6). Die Tamilenpartei ITAK erhielt 4,62 % der Stimmen und damit 16 Mandate, sie stellt mit Rajavarothiam Sampanthan den Oppositionsführer (a.a.O.).

Mit dem Amtsantritt Sirisenas am 09.01.2015 hat sich die politische Situation in Sri Lanka nach Einschätzung des Auswärtigen Amts (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5) erheblich zum Positiven verändert. Demokratie und Rechtsstaat seien gestärkt worden. Die Menschenrechte, insbesondere die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit würden wieder respektiert. Die Betätigungsmöglichkeiten der politischen Opposition seien nicht mehr eingeschränkt (a.a.O. S. 7). Menschenrechtsorganisationen hätten größere Freiräume (a.a.O. S. 6). So genannte Verschwundenen-Fälle seien seit dem Amtsantritt der neuen Regierung nicht mehr bekannt geworden (a.a.O. S. 12).

Das Auswärtige Amt merkt in seinem jüngsten Lagebericht aber auch an, dass insbesondere im Norden und Osten noch nicht alle Menschenrechtsverletzungen abgestellt seien (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Einzelne Menschenrechtsvertreter würden dort vom Sicherheitsapparat verfolgt und ihre Gesprächspartner würden gelegentlich noch von Sicherheitskräften ausgefragt (a.a.O. S. 6, auch S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte von Menschenrechtsverteidigern zu Überwachungen durch die Polizei und das Militär im Norden und Osten sowie Befragungen). Die Polizei wende mitunter noch immer unverhältnismäßigen Zwang an (a.a.O. S. 7; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Beschwerden über die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt bei Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit Demonstrationen). Als Beispiel nennt das Auswärtige Amt die Beendigung friedlicher Studentendemonstrationen mittels Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken (a.a.O. S. 7); es verweist zudem auf Angaben Internationaler Organisationen und Presseberichte, wonach Folter weiterhin gelegentlich zur Erpressung von Geständnissen angewandt wird (a.a.O. S. 11; vgl. auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, mit dem Hinweis auf Berichte über Folter und andere Misshandlungen). Auch sollen Misshandlungen bei der Festnahme von Verdächtigen sowie in Gefängnissen weiter vorkommen (a.a.O. S. 12).

Amnesty International (Amnesty Report 2016, Sri Lanka) verweist darüber hinaus auf Berichte über ungeklärte Todesfälle in Polizeigewahrsam; Häftlinge würden häufig an Verletzungen sterben, die den Schluss zuließen, dass sie gefoltert und misshandelt worden seien.

Nach Angaben des Auswärtigen Amts hat die neue Regierung zahlreiche Schritte unternommen, um die Wiederversöhnung zwischen den verschiedenen Gemeinschaften im Land voranzubringen (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 5). Sie suche aktiv den Dialog mit der tamilischen Diaspora (auch a.a.O. S. 10). Amnesty International berichtet zudem darüber (Amnesty Report 2015, Sri Lanka), dass im Jahr 2015 am Jahrestag der Beendigung des bewaffneten Konflikts öffentliche Gedenkfeiern von Tamilen im Wesentlichen erlaubt waren (vgl. auch Human Rights Watch, Sri Lanka After the Tigers, 19.02.2016, mit dem Hinweis, dass Gedenkfeiern für verstorbene Tamilen mittlerweile erlaubt seien), und fügt hinzu, dass über eine starke Polizeipräsenz bei derartigen Zusammenkünften berichtet worden sei (vgl. auch Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Insbesondere Human Rights Watch macht aber auch darauf aufmerksam, dass ein Erfolg versprechender Versöhnungsprozess, der unter anderem auch eine Aufarbeitung der beiderseitigen Kriegsverbrechen beinhaltet, noch nicht wirklich ins Werk gesetzt worden ist (vgl. etwa die Beiträge "Time to seize the Moment" [25.05.2016] und "Unfinished Business in Sri Lanka" [01.09.2016]).

Nach Einschätzung des Auswärtigen Amts gibt es gegenüber Tamilen im Norden und Osten seit dem Amtsantritt Sirisenas ´"keine direkten staatlichen Repressionen mehr" (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7). In Sri Lanka gebe es keine diskriminierende Gesetzgebung, Verwaltungspraxis oder Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis (a.a.O. S. 8). Der von der Polizei angewendete unverhältnismäßige Zwang richte sich nicht gegen eine bestimmte Gruppe (a.a.O. S. 7). Während die Anwendung von Folter früher vor allem Tamilen betroffen habe, sollen mittlerweile Singhalesen in gleichem Maß betroffen sein (a.a.O. S. 11 unter Berufung auf Berichte von Human Rights Watch und lokale Menschenrechtsorganisationen; Human Rights Watch [Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016] spricht von "continued reports of the torture of detainees" [fortgesetzten Berichten über die Folter von Inhaftierten]).

Das Auswärtige Amt führt weiter aus, dass der infolge des langjährigen Bürgerkriegs umfassende Sicherheitsapparat nach Ende des Konflikts 2009 kaum reduziert wurde und insbesondere im Norden und Osten noch stark vertreten ist (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 6, auch S. 7; vgl. auch Human Rights Watch, Unfinished Business in Sri Lanka, 01.09.2016). Es verweist zudem darauf, dass nach Angaben der sri-lankischen NGO Groundviews 2015 noch immer mindestens 181 von ehemals ca. 12.000 LTTE-Mitgliedern oder -Symphatisanten, die sich bei Kriegsende gestellt hätten, ohne Gerichtsurteil inhaftiert seien; bis November 2015 seien 38 davon gegen Kaution freigelassen worden (a.a.O. S. 12).

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe weist in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 "Sri Lanka: Gefährdung bei Rückkehr und Zugang zu medizinischer Versorgung in Haft" darauf hin (S. 3), dass Berichte der NGO Freedom from Torture und International Truth & Justice Project Sri Lanka vom Januar 2016 insgesamt 27 Fälle dokumentierten, in denen tamilische Personen durch sri-lankische Sicherheitskräfte gefoltert, willkürlich verhaftet oder entführt worden seien. Der jüngste in dem letztgenannten Bericht dokumentierte Fall (von insgesamt 20 Fällen) habe sich im Dezember 2015 zugetragen (vgl. a.a.O. S. 4). Während der Verhöre seien mehrere der Betroffenen beschuldigt worden, die LTTE wiederaufbauen zu wollen oder das Land in Unruhe zu bringen. 19 der Personen seien Opfer von Entführungen mittels weißer Lieferwagen geworden ("White Van Abduction"). 16 der Personen hätten in der Vergangenheit eine Funktion der LTTE auf niedriger Stufe gehabt.

Der Prevention of Terrorism Act (s. o. aa und a) ist weiterhin in Kraft (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 7 und 12; auch Amnesty Report 2016, Sri Lanka, und Human Rights Watch, UN Human Rights Council: High Commissioner’s Report on human rights of Rohingya Muslims and other minorities in Burma/Maanmar and on Sri Lanka, 30.06.2016). Das Auswärtige Amt führt aus, die Regierung gebe an, 181 Personen seien auf seiner Grundlage inhaftiert, wobei die Mehrheit tamilischer Herkunft sei, die Zivilgesellschaft gehe hingegen von rund 250 Personen aus (a.a.O. S. 7). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist darauf, dass verschiedene Schätzungen "sich auf bis über 200 Personen" beliefen (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6). Amnesty International zitiert eine Erklärung des Oppositionsführers Sampanthan vor dem Parlament, dass noch 217 Personen auf der Grundlage der Bestimmungen des PTA inhaftiert seien (Amnesty Report 2016, Sri Lanka). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wird er "weiterhin eingesetzt, um tamilische Personen zu verhaften, welche der angeblichen Verbindungen zur LTTE verdächtigt werden" (Auskunft vom 22.04.2016, S. 6; entsprechend Amnesty Report 2016, Sri Lanka; ferner Human Rights Watch, Time to seize the Moment in Sri Lanka, 25.05.2016). Die Flüchtlingshilfe verweist auch auf eine sri-lankische Zeitung, die von Verhaftungen von Militärpersonal unter dem PTA berichtet hat.

Rückkehrer müssen nach Einschätzung des Auswärtigen Amts grundsätzlich keine staatlichen Repressalien gegen sich fürchten, jedoch müssen sie sich nach Rückkehr Vernehmungen durch die Immigration, das National Bureau of Investigation und das Criminal Investigation Department stellen; ob es zur Anwendung von Gewalt kommt, ist nicht bekannt (Lagebericht vom 30.12.2015, Stand November 2015, S. 13). Mit solchen Vernehmungen ist insbesondere zu rechnen, wenn die rückkehrende Person keinen gültigen sri-lankischen Reisepass vorlegen kann; Fälle diskriminierender Behandlung solcher Personen (auch von Tamilen) sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt (a.a.O. S. 14). Bei der Einreise mit gültigem sri-lankischem Reisepass würden die Einreiseformalitäten zumeist zügig erledigt; dies gelte auch für Zurückgeführte (a.a.O. S. 14).

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt in ihrer Auskunft vom 22.04.2016 aus (S. 1), dass es auch nach Amtsantritt des neuen Präsidenten zu Verhaftungen von tamilischen Rückkehrenden kam. Die Verhaftungen schienen oft mit angeblichen Verbindungen zur LTTE zusammenzuhängen. Eine zuvor erfolgte illegale Ausreise könne bei der Rückkehr ebenfalls zu einer Verhaftung führen. Die Flüchtlingshilfe führt nach diesen einleitenden Bemerkungen unter Berufung auf verschiedene Quellen einzelne Fälle auf. So verweist sie zunächst auf einen Bericht der Zeitung Ceylon News vom 19.04.2016, wonach ein aus Mullaitivu stammender Tamile bei seiner Rückkehr aus Doha am 12.04.2016 durch das Terrorist Investigation Department am Flughafen aufgegriffen und anschließend sieben Stunden verhört worden sei (a.a.O. S. 1 f.). Anschließend sei er mit der Aufforderung freigelassen worden, am nächsten Morgen das TID-Büro in Colombo aufzusuchen. Am folgenden Tag sei er dort verhaftet worden. Die Flüchtlingshilfe spricht außerdem etwa den Fall eines tamilischen Journalisten an, der nach seiner Rückkehr nach Sri Lanka durch die sri-lankischen Behörden verhaftet worden sei (a.a.O. S. 2). Der Journalist und Aktivist sei im Jahr 2012 nach Australien geflohen und habe sich aufgrund der positiven Signale der aktuellen sri-lankischen Regierung für die Rückkehr entschieden. Er sei nach der Inhaftierung auf Kaution freigelassen worden. Ihm seien aber Auslandsreisen für fünf Jahre untersagt worden und er müsse sich jeden Monat im berüchtigten vierten Stock des Hauptquartiers des CID in Colombo melden. Unter Berufung auf TamilNet führt die Flüchtlingshilfe auch aus, dass viele tamilische Rückkehrende aus dem Nahen Osten in der jüngsten Zeit durch den sri-lankischen Militärgeheimdienst verhaftet worden seien (a.a.O. S 2). Die Flüchtlingshilfe zitiert schließlich etwa auch aus einem Bericht der International Crisis Group, wonach weiterhin rückkehrende tamilische Personen unter Anwendung des Prevention auf Terror Act (PTA) wegen des Verdachts auf zurückliegende LTTE-Verbindungen verhaftet würden; viele würden in durch das Militär betriebene Rehabilitationsprogramme geschickt.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe trägt in der Auskunft vom 22.04.2016 auch vor, dass das International Truth & Justice Project Sri Lanka im Januar 2016 zu dem Schluss gekommen sei, dass tamilische Personen, welche aus dem Ausland zurückkehrten, überwacht würden (a.a.O. S. 4). So gebe es weiterhin ein umfangreiches Netzwerk von tamilischen Informanten, welche Rückkehrende beobachteten. Das sichere Verlassen des Flughafens sei deswegen keine Garantie für die spätere Sicherheit. Die Flüchtlingshilfe gibt ferner die Einschätzung von International Truth & Justice Project wieder, dass es für tamilische Personen im Ausland noch nicht sicher sei, nach Sri Lanka zurückzukehren, wenn die betroffene Person in der Vergangenheit eine Verbindung zur LTTE aufweise (a.a.O. S. 5).

(2) Diese Erkenntnisse lassen, selbst wenn sich alle Angaben zu flüchtlingsschutzrelevanten Menschenrechtsverletzungen als zutreffend erweisen sollten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den Schluss auf eine Gruppenverfolgung von Tamilen, auch nicht vom männlichen Tamilen aus dem Norden, zu. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nach wie vor nicht feststellen. Auch die Zahl an Verhaftungen und Überwachungen von Tamilen sowie an ihnen gegenüber vorgenommene Handlungen, die als Folter einzustufen sind, lässt nicht annähernd auf die Gefahr schließen, dass (nahezu) jedes Gruppenmitglied mit solchen Maßnahmen zu rechnen hat. Dabei ist auch zu bedenken, dass nicht jede Verhaftung mit anschließendem Verhör schon eine Menschenrechtsverletzung darstellt.

Der nach den vorliegenden Erkenntnismitteln bestehenden, im Vergleich zu den Jahren 2008 und 2010 deutlich verbesserten Gesamtsituation der Tamilen in Sri Lanka hat der Kläger nichts entgegengehalten.

III. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG. [...]