VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 19.10.2016 - 9 A 144/16 MD - asyl.net: M24349
https://www.asyl.net/rsdb/M24349
Leitsatz:

Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da ihm wegen seiner Ausreise und Asylantragstellung im westlichen Ausland Verfolgung durch den IS in seinem Heimatort droht und ihm landesweit kein Schutz offen steht.

Schlagwörter: Syrien, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, Islamischer Staat, IS, Asylantragstellung, Auslandsaufenthalt, Nordsyrien, Flüchtlingsanerkennung, subsidiärer Schutz, zugeschriebenes Verfolgungsmerkmal,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 28, AsylG § 28 Abs. 1a
Auszüge:

[...]

a) Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. […]

b) Dem Kläger droht zur Überzeugung des Gerichts hingegen bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. [...] Der Kläger wies bereits in seiner Anhörung bei der Beklagten darauf hin, dass das Gebiet, aus dem er stamme, sowohl vom IS als auch von der Regierung kontrolliert werde. Diesen Vortrag ergänzte er in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichts dahin, dass er nach Beendigung seines Studiums aus Angst vor der Einberufung zum Wehrdienst das Regimegebiet verlassen und sich in den zunächst von Oppositionellen, später vom IS kontrollierten Teil der Stadt begeben und dort über längere Zeit gelebt hat. Der Kläger schilderte insoweit nachvollziehbar, dass die Kämpfer des IS ihn und die dortige Bevölkerung nachdrücklich aufgefordert hätten, sich ihnen anzuschließen.

Nach den zugrunde zu legenden Erkenntnismitteln der Kammer hat der IS im Norden Syriens die Kontrolle über ein weitgehend zusammenhängendes Gebiet vor allem im nördlichen und zentralen Teil Syriens bis in den angrenzenden Irak hinein, einschließlich der ländlichen Gebiete der Gouvernements Raqqa und Deir ez-Zor -. dem Herkunftsort des Klägers - sowie des Südens des Gouvernements Hassakeh (vgl. UNHCR- Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. akt. Fassung, November 2015, S. 5 m.w.N.). Im Hinblick auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 AsyIG) ist anzunehmen, dass die Heimatstadt des Klägers weiterhin zu Teilen vom IS kontrolliert wird und besetzt ist. Dem Kläger drohen bei seiner Rückkehr Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG durch den IS, wobei dieser bei tatsächlicher oder vermeintlicher Infragestellung seines Herrschaftsanspruchs oder bei Verstoß gegen die von ihm aufgestellten Regeln die Betreffenden schwer bestraft, einschließlich öffentlicher Hinrichtung, Auspeitschung und Verstümmelung ohne die Chance auf ein (faires) Gerichtsverfahren (vgl. UNHCR, a.a.O. S. 10 f.). Angesichts der aktuellen und auch allgemein bekannten Erkenntnisse über die hemmungslose Gewaltanwendung des IS gegenüber Personen, die anderen Glaubens sind bzw. sich den vom IS vorgegebenen Regeln nicht vorbehaltlos unterwerfen, ist aus der Perspektive eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers die Furcht vor Verfolgung begründet. Seine Flucht aus dem Gebiet des IS und die Beantragung von Asyl in einem westlichen Staat dürfte nach dem. Vorstehenden mit der erforderlichen Beachtlichkeit vom IS als ein gegen diesen und dessen Ziele gewendetes Verhaften aufgefasst werden und den Kläger hierdurch der begründeten Furcht vor Verfolgung aussetzen. Deshalb ist davon auszugehen, dass für den Kläger in seiner Heimatstadt die beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung durch den 1S bei einer Rückkehr aus einem westlichen Staat nach Syrien besteht.

2. Mit den vorliegenden Erkenntnismitteln steht für den Kläger ein schutzbietender Dritter aufgrund der Kriegssituation zum Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 AsylG) nicht zur Verfügung. Nach § 3d Abs. 1 AsylG kann Schutz vor Verfolgung vom Staat (Nr. 1) oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) nur geboten werden, sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten. Nach Absatz 2 des § 3d AsylG muss der Schutz vor Verfolgung wirksam und nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

In Deir ez Zor konnten die Regierungstruppen seit dem vergangenen Jahr zwar immer wieder Erfolge verzeichnen, eine vollständige und dauerhafte Verdrängung des IS und auch anderer Rebellengruppen ist bisher, aber weder gelungen, noch steht diese in Aussicht.

3. Dem Kläger steht auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e AsylG offen, wobei hier dahinstehen kann, inwieweit er dort keine begründete Furcht vor Verfolgung haben muss. Zum einen ist bereits fraglich, ob der Kläger einen sicheren Zufluchtsort aufgrund der militärischen Auseinandersetzungen sicher erreichen kann. Zum anderen dürfte dem Kläger insbesondere wegen des in Syrien bestehenden permanenten Vertreibungsdrucks ein Ausweichen in einen andere Landesteil als seinem Herkunftsort nicht zumutbar sein, weil vernünftiger Weise nicht erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. [...]