OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 20.09.2016 - 1 L B 88/15 - asyl.net: M24382
https://www.asyl.net/rsdb/M24382
Leitsatz:

1. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis setzt voraus, dass die jeweiligen Erteilungsvoraussetzungen im maßgeblichen Beurteilungzeitpunkt vorliegen. Unter diesen Voraussetzungen ist auch eine rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Vergangenheit möglich. Nicht entscheidend ist insoweit, wann der Nachweis der Ausländerbehörde vorgelegt wird.

2. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der in § 82 AufenthG geregelten Mitwirkungspflicht. obwohl es auch im Interesse der antragstellenden Person liegt, das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen möglichst frühzeitig vorzutragen und zu belegen, da sie ansonsten für zurückliegende Zeiträume auch in Beweisnot über das Vorliegen der Voraussetzungen geraten kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: rückwirkende Erteilung, Aufenthaltserlaubnis, Reisefähigkeit, Attest, Krankheit, Beweislast, Darlegungspflicht, verspätetes Vorbringen, Präklusion,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 82 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Ansicht der Beklagten findet in § 82 AufenthG und der hierzu vorliegenden Rechtsprechung und Literatur keine Stütze. § 82 AufenthG regelt die Mitwirkung des Ausländers im behördlichen Verfahren. Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist der Ausländer verpflichtet, seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise unverzüglich beizubringen. Nach § 82 Abs. 1 Satz 2 AufenthG kann die Ausländerbehörde ihm dafür eine angemessene Frist setzen. Nach § 82 Abs. 1 Satz 4 AufenthG können nach Ablauf der Frist geltend gemachte Umstände und beigebrachte Nachweise unberücksichtigt bleiben.

Die Ausländerbehörde hat dem Kläger im vorliegenden Fall, darauf hat bereits das Verwaltungsgericht hingewiesen, keine Frist nach dieser Regelung gesetzt. Die Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar erläutert, dass hiervon in der Verwaltungspraxis der Ausländerbehörde regelmäßig kein Gebrauch gemacht werde. Die Regelung sei nicht praktikabel. Hierfür spricht auch, dass § 82 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nur die Möglichkeit einer (formellen) Präklusion für die jeweilige Verwaltungsinstanz eröffnet (vgl. Ziffer 82.3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009), die Regelung also auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren grundsätzlich keine Auswirkungen hat (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, RdNr. 23 zu § 82 AufenthG; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand der Einzelkommentierung August 2013, RdNr. 21 zu § 82; Kluth in BeckOK-AuslR, Stand 15.08.2016, RdNr. 26 zu § 82 AufenthG; differenzierend Hailbronner, Ausländerrecht, Stand der Einzelkommentierung April 2009, RdNr. 36 ff. zu § 82 AufenthG). Nimmt die Behörde die Ausschlussmöglichkeit nach § 82 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nicht in Anspruch, muss sie jedes Vorbringen und alle Beweismittel bei ihrer Entscheidung zugrunde legen (vgl. nur Hailbronner, a.a.O., RdNr. 44; Funke-Kaiser, a.a.O., RdNr. 92). [...]

Zuletzt ist auf Folgendes hinzuweisen: Die hier vorliegende Entscheidung bedeutet nicht, dass verzögerter oder mangelhafter Vortrag des betroffenen Ausländers ohne rechtliche Auswirkungen bleibt. Das Verwaltungsgericht hat bereits darauf hingewiesen, dass die Vorlage von Nachweisen erst im gerichtlichen Verfahren dazu führen kann, dass sich der Rechtsstreit erledigt und der Kläger die Kosten zu tragen hat (vgl. hierzu :auch Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand August 2012, Rn. 93 zu § 82). Daneben liegt es ohnehin im Interesse des Ausländers, das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen möglichst frühzeitig vorzutragen und zu belegen, da er das Risiko der Unaufklärbarkeit der Anspruchsvoraussetzungen trägt (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 1. September 2011 - 5 C 27.10 -, BVerwGE 140, 311, 318 f., RdNr. 25 zu§ 37 Abs. 1 StAG i.V.m. § 82 AufenthG). Er ist für das Vorliegen der Voraussetzungen darlegungs- und beweispflichtig und kann - dies macht der vorliegende Fall deutlich - im Hinblick auf zurückliegende Zeiträume in Beweisnot geraten. Auch kann es schwierig sein, sich für die Vergangenheit eine richterliche Überzeugung davon zu bilden, dass eine behauptete anspruchsbegründende Tatsache mit der erforderlichen Sicherheit auch vorlag. [...]