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OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 10.03.2016 - 4 Bs 3/16 - asyl.net: M24403
https://www.asyl.net/rsdb/M24403
Leitsatz:

1. Von der Verteilung kann nicht nach § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG abgesehen werden, wenn der Antragsteller in einem anderen (benachbarten) Bundesland bestehende familiäre oder sonstige zwingende Gründe im Sinne der Vorschrift nachgewiesen hat.

2. Die Zusammenführung von Familienmitgliedern kann in diesem Fall nur durch eine Umverteilung nach § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG erreicht werden.

(Leitsätze der Redaktion; wird zitiert von BVerwG, Beschluss vom 22. August 2016 – 1 B 44/16 –, juris)

Schlagwörter: unerlaubte Einreise, Verteilungsverfahren, Familienangehörige, länderübergreifende Umverteilung,
Normen: AufenthG § 15a Abs. 1 S. 6, AufenthG § 15a Abs. 5 S. 1
Auszüge:

19 (a) Nach dem Wortlaut des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG kommt es maßgeblich darauf an, ob der Ausländer Gründe geltend macht, die einer Verteilung entgegenstehen. Insoweit ist die Regelung in Bezug auf die Frage offen, an welchem Ort diese Gründe bestehen, da der Gesetzgeber maßgeblich auf einer (Fort-) Verteilung an einen bestimmten Ort entgegenstehende Gründe abstellt. Allerdings dürfte die Erwähnung der Hausgemeinschaft zwischen Ehegatten oder Eltern und ihren minderjährigen Kindern als einen der "Fortverteilung" entgegenstehenden Grund darauf hindeuten, dass die u.a. nach Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigenden, einer Fortverteilung entgegenstehenden Gründe an dem Ort vorliegen müssen, an dem sich die die Verteilung veranlassende Behörde befindet bzw. an dem sich die Ausländerbehörde befindet, die die Verpflichtung aussprechen kann, dass der Ausländer sich zu der Behörde zu begeben hat, die die Verteilung veranlasst (§ 15a Abs. 1 Satz 6, Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG).

20 (b) Aus der Systematik der die Verteilung regelnden Vorschrift des § 15a AufenthG ergibt sich, dass das Verteilungssystem weder die Möglichkeit einer "gesteuerten" (Erst-) Verteilung durch das BAMF an ein anderes Bundesland als dasjenige vorsieht, das nach dem Verteilungsschlüssel zur Aufnahme verpflichtet ist, noch eine bilaterale Verteilung zwischen Bundesländern ermöglicht. Daher müssen bei der Erstverteilung familiäre Gründe, die nicht in dem Bundesland bestehen, in dem der Antragsteller seinen Antrag stellt, unberücksichtigt bleiben.

21 Nach § 15a AufenthG folgt die Verteilung einem komplexen, allein durch die Quotenberechnung der zentralen Verteilungsstelle gesteuerten System. Der Gesetzgeber ist im Rahmen des § 15a AufenthG davon ausgegangen, dass der Erstkontakt des zu verteilenden Ausländers mit der Ausländerbehörde erfolgt. Diese hat den Ausländer anzuhören und das Ergebnis der Anhörung an die die Verteilung veranlassende Stelle zu übermitteln (§ 15a Abs. 4 Satz 2 AufenthG), deren Bestimmung nach § 15a Abs. 1 Satz 5 AufenthG durch das jeweilige Bundesland erfolgt. Nach Maßgabe von § 15a Abs. 2 AufenthG können die Ausländerbehörden die Ausländer verpflichten, sich zu dieser Stelle zu begeben. In den Fällen, in denen die unerlaubt eingereisten Personen Gründe im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG nachweisen können und daher im Bereich der meldenden Ausländerbehörde verbleiben, teilt die von der Ausländerbehörde informierte zentrale Landesbehörde dem Bundesamt die Zahl der Personen und weitere Daten mit, um sie auf die - nach dem "Königsteiner Schlüssel" festgelegte - Quote des aufnehmenden Landes anrechnen zu lassen (vgl. § 15a Abs. 4 Satz 2 AufenthG: Kloesel/Christ/Häußer, Komm. zum Ausländerrecht, Stand Juni 2015, § 15a Rn. 25). Die nach Landesrecht bestimmten zentralen Behörden veranlassen die Verteilung der Ausländer auf die anderen Länder. Sie meldet die von den Ausländerbehörden weitergeleiteten oder gemeldeten Personen unter Berücksichtigung der in Abs. 4 Satz 2 und 3 beschriebenen Bedingungen bei der zentralen Verteilungsstelle zur Verteilung an. Von diesen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrens kann nach § 105a Abs. 1 AufenthG nicht durch Landesrecht abgewichen werden. Die Verteilung des Ausländers auf eines der Bundesländer erfolgt sodann nach § 15a Abs. 1 Satz 3 AufenthG durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als der vom Bundesministerium des Innern bestimmten zentralen Verteilungsstelle. Das BAMF benennt der die Verteilung veranlassenden Stelle gemäß § 15a Abs. 3 Satz 1 AufenthG die nach Absatz 3 Sätze 2 und 3 zur Aufnahme verpflichtete Aufnahmeeinrichtung. Insoweit wird danach differenziert, ob das Land, dessen Behörde die Verteilung veranlasst hat, seine Aufnahmequote erfüllt hat oder nicht. Ist diese nach den Feststellungen des BAMF nicht erfüllt, so ist die der die Verteilung veranlassenden Behörde nächstgelegene aufnahmefähige Aufnahmeeinrichtung des Landes aufnahmepflichtig (§ 15a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Hat das Land seine Aufnahmequote bereits erfüllt, ist die vom BAMF auf Grund der Aufnahmequote bestimmte Aufnahmeeinrichtung eines anderen Landes zur Aufnahme verpflichtet (§ 15a Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Die Benennung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung durch das BAMF (§ 15a Abs. 3 Satz 1 AufenthG) ist ein Verwal - tungsinternum und damit kein dem Ausländer gegenüber bekanntzugebender Verwaltungsakt (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 4.9.2014, 18 A 792/14, juris Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2014, § 15a AufenthG Rn.14; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, a.A. OVG Münster, Beschl. v. 3.9.2010, 19 B 1847/09). In dem Fall, in dem die Einrichtung eines anderen Landes aufnahmepflichtig ist, ordnet die Behörde, welche die Verteilung veranlasst hat, nach § 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG an, dass der Ausländer sich zu der durch die Verteilung festgelegten Aufnahmeeinrichtung zu begeben hat.

22 Aus der Systematik der Regelung ergibt sich somit, dass in dem – hier vorliegenden - Fall, in dem das Land, in dem der Antragsteller seinen Antrag gestellt hat, über keine freien Aufnahmekapazitäten verfügt, allein die zentrale Verteilungsstelle des BAMF (computergestützt) ermittelt, welches andere Bundesland, das nach der Aufnahmequotenberechnung noch über freie Kapazitäten verfügt, den Ausländer aufzunehmen hat.

23 Das System sieht lediglich zwei Ausnahmen vor: Liegen die Voraussetzungen des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG in dem Land (oder der Ausländerbehörde, § 15a Abs. 2 AufenthG), in dem der Antragsteller seinen Aufenthalt beantragt hat, vor, wird auf eine Verteilung verzichtet und ist das Land zur Aufnahme auch dann verpflichtet, wenn seine Aufnahmequote erschöpft ist. In diesem Fall werden diese Personen auf die Länder- oder Gemeindequote angerechnet, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesetzlich bestimmt ist (vgl. BT-Drs. 14/5266, S. 6: "Buchung über Quote"; vgl. zur Anrechnung: Kloesel/Christ/Häußer, Komm. zum AusländerR, Stand Juni 2015, § 15a Rn. 25). Eine weitere gesetzlich vorgesehene "Korrektur" einer Verteilung erfolgt in dem Fall, in dem die zuständigen Behörden des Landes, in dem sich der Ausländer aufzuhalten hat, diesem entsprechend § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG nach der Verteilung erlauben, seine Wohnung z.B. aus familiären Gründen in einem anderen Land zu nehmen ("Umverteilung"). In diesem Fall erfolgt eine Verrechnung dergestalt, dass nach dem erlaubten Wohnungswechsel der Ausländer von der Quote des abgebenden Landes abgezogen und auf die des aufnehmenden Landes angerechnet wird (§ 15a Abs. 5 Satz 2 AufenthG). Eine andere Form der Verrechnung oder Anrechnung von Personen, die der Verteilung nicht unterliegen oder sich aus familiären oder sonstigen Gründen an einem anderen Ort aufhalten wollen, kennt § 15a AufenthG nicht.

24 Daraus folgt, dass in den Fällen, in denen ein Antragsteller geltend macht, in einem anderen Bundesland befinde sich seine Familie oder bestehe ein wichtiger Grund für seinen Aufenthalt, die (Erst-) Verteilung nicht dergestalt gesteuert werden kann, dass der Ausländer durch die zur Verteilung bestimmte Stelle des Bundeslandes, in dem er seinen Antrag gestellt hat, unmittelbar in das Bundesland, in dem sich seine Familie aufzuhalten hat, verteilt werden kann. Auch kann die Verteilung durch die zentrale Verteilungsstelle des BAMF nicht dergestalt beeinflusst werden. Da eine Anrechnungsmöglichkeit im System des § 15a AufenthG nur für die gesetzlich bestimmten Fälle des § 15a Abs. 1 Satz 6, Abs. 2 Satz 2, Abs. 5 Satz 1 AufenthG vorgesehen ist, ist der Ausländer darauf zu verweisen, seine Umverteilung nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG an das Bundesland bzw. den Ort zu beantragen, in dem seine Familie lebt oder hinsichtlich dessen er einen zwingenden Grund nachweisen kann.

25 (c) Das so beschriebene Verständnis dieser Regelung folgt auch aus Sinn und Zweck der Vorschrift. § 15a AufenthG soll eine quotengerechte und -genaue Verteilung der unerlaubt eingereisten Ausländer u.a. auf die einzelnen Bundesländer ermöglichen. Die Quotierung folgt - vorbehaltlich der Vereinbarung eines abweichenden Schlüssels durch die Länder - dem für die Verteilung von Asylbewerbern geltenden ("Königsteiner") Schlüssel (§ 15a Abs. 1 Satz 4 AufenthG, § 45 AsylVfG). § 15a AufenthG ist allein durch diesen Grundsatz der Lastenverteilung bestimmt. Die mit dem Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) auf Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses (s. BT-Drs. 15/3479 S. 3, BR-Drs. 921/01, S. 21 f.; 22/1/03, S. 13) eingeführte Regelung des § 15a AufenthG geht auf einen Gesetzesantrag des Landes Nordrhein-Westfalen vom 31. Oktober 2000 zurück (BR Drs. 706/00), der zum Ziel hatte, die bis dahin bestehende Regelungslücke zu schließen, welche für unerlaubt eingereiste Ausländer bestand, die keinen Asylantrag gestellt hatten (BR-Drs. 706/00 S. 4). Der als § 56a AuslG vorgeschlagene Entwurf orientierte sich ausweislich seiner Begründung (BR-Drs. 706/00, S. 5) an den für die Verteilung von Asylbewerbern geltenden Vorschriften. Als Motiv für die Gesetzesänderung wird neben der Schaffung einer quotengerechten Rechtsgrundlage für unerlaubt eingereiste Ausländer, die von der Verteilungsregelung des AsylVfG nicht erfasst würden, die Dringlichkeit des Handlungsbedarfes wegen des erheblichen Finanzvolumens genannt. Ein Verzicht auf eine Verteilungsregelung würde zu deutlich spürbaren Lastenverschiebungen zwischen den Ländern führen (vgl. BT-Drs. 14/5266, S. 6). Der vom Bundesrat beschlossene Gesetzentwurf wurde von diesem im Februar 2001 unverändert in den Bundestag eingebracht (BT-Drs. 14/5266). Ca. ein Jahr später brachte die Bundesregierung - als Teil des Entwurfs des Zuwanderungsgesetzes - unter Bezugnahme auf § 56a AuslG sowie zwischenzeitlich in die Diskussion eingebrachte Anregungen zu einer Änderung den Entwurf als § 15a AufenthG in den Bundestag ein (BT-Drs. 14/7987, S. 8 f.).

26 Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 15a Abs. 1 Satz 6 und Abs. 5 des Entwurfs stimmen mit der heute geltenden Fassung des § 15a AufenthG überein. Sinn und Zweck der Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 6 AufenthG ist es (lediglich), die Ausländerbehörde oder diejenige Behörde, die die Verteilung veranlassen kann, zu der Prüfung zu verpflichten, ob sie im Hinblick auf die vom Ausländer nachzuweisenden Gründe, die gegen eine Verteilung an einen anderen Ort als demjenigen, an dem er sich (in ihrem Zuständigkeitsbereich) aufhält, sprechen, von der (Fort-) Verteilung oder der Meldung des Ausländers als zu verteilende Person absehen muss (vgl. in diesem Sinne auch Keßler, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 15a Rn. 27). Ist von einer Verteilung abzusehen, erfolgt eine Anrechnung des Ausländers zu Lasten des aufnehmenden Landes, bei Auslastung der Aufnahmequote als "Überquote".

27 Dem Bedürfnis, Gründe für eine Umverteilung des Ausländers in ein anderes Bundesland als dasjenige, dem er zugewiesen wurde, unabhängig von ihrem Entstehen nach der Verteilung zu berücksichtigen, trägt § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG Rechnung. Die zunächst als § 56a Abs. 5 AuslG geplante Neuregelung sah insoweit vor, dass Ausländer mit Erlaubnis "der zuständigen Behörden" nach der Verteilungsentscheidung Wohnsitz in einem anderen Land nehmen konnten. In der Entwurfsbegründung heißt es hierzu: "Abs. 5 trägt dem Umstand Rechnung, dass sich nach der Verteilungsentscheidung die Notwendigkeit einer 'Umverteilung' ergeben kann. Die möglichen Gründe für die von der zuständigen Behörde des aufnehmenden Landes im Einvernehmen mit der zuständigen Behörde des abgebenden Landes zu treffende Entscheidung sind in § 51 Abs. 1 AsylVfG benannt." (BT-Drs. 14/5266, S. 7).

28 § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG ist daher weder nach seinem Wortlaut noch nach Sinn und Zweck der Regelung allein auf den Fall beschränkt, dass die Gründe für eine Umverteilung, d.h. familiäre oder sonstige zwingende Gründe, erst nach der (Erst-) Verteilung entstehen oder vom Ausländer erst danach nachgewiesen werden. Ausreichend sind Gründe, die gegen den Verbleib in der durch die Verteilungsentscheidung bestimmten Aufnahmeeinrichtung sprechen (vgl. Kloesel/Christ/Häußer, a.a.O, § 15a Rn. 35). Das allein durch den Grundsatz der Lastenverteilung bestimmte Verteilungsverfahren ermöglicht in dem Fall, in dem (bei der Erstverteilung) u.a. Ehegatten sowie Eltern und ihre ledigen Kinder nicht nach § 15a Abs. 4 Satz 3 AufenthG als Gruppe gemeldet und verteilt werden können, die Zusammenführung von bereits im Bundesgebiet lebenden oder verteilten Familienmitgliedern nur über den Antrag auf Umverteilung. Allein diese gesetzlich vorgesehene "Korrektur" einer erfolgten Verteilung mit der Möglichkeit der Anrechnung auf die jeweilige Länderquote durch die zentrale Verteilungsstelle gewährleistet die Lastengleichheit aller Bundesländer. [...]