VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 25.07.2016 - 9 K 1184/16.A - asyl.net: M24412
https://www.asyl.net/rsdb/M24412
Leitsatz:

Ein abgeschobener Asylantragsteller kann beanspruchen, den Vollzug einer Abschiebungsanordnung rückgängig zu machen, wenn die Überstellungsfrist zuvor bereits erfolglos abgelaufen war.

(Amtlicher Leitsatz; unter Bezug auf BverwG zum Ablauf der Überstellungsfrist, Urteil vom 27.04.2016 - 1 C 24.15 - asyl.net: M23842, Asylmagazin 6/2016)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Fristablauf, Überstellung, Folgenbeseitigungsanspruch, Dublin II-VO, Dublin III-Verordnung, Wiederaufnahme, subjektives Recht, Individualschutz, Wiederaufnahmeersuchen, Zustimmungserklärung, Zuständigkeit, Übergang der Zuständigkeit, Zuständigkeitsübergang, Unzulässigkeitsentscheidung, Übernahmeersuchen, Aufnahmeersuchen,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 3, AsylG § 71 Abs. 5 S. 1, AsylG § 31 Abs. 1 S. 4, AsylG § 31 Abs. 6, AsylG § 27a, AsylG § 34a Abs. 1, AsylG § 34a Abs. 2 S. 1, AsylG § 34a Abs. 2 S. 2, VwGO § 80 Abs. 7, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Dem statthaften Anfechtungsantrag fehlt insbesondere nicht das Rechtsschutzbedürfnis; der Dublin-Bescheid vom 28. April 2016 ist aufgrund der Überstellung des Klägers nach Italien am 11. Mai 2016 nicht als erledigt anzusehen. Die Erledigung eines belastenden Verwaltungsakts tritt grundsätzlich noch nicht durch seine Vollziehung ein, sondern in aller Regel erst dann, wenn seine Vollziehung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (vgl. VG Trier, Urteil vom 27. Mai 2015 - 5 K 1176/14.RT -, juris, Rn. 22, m.w.N.).

So liegt der Fall hier nicht. Art. 29 Abs. 3 der Dublin III-VO bestimmt, dass in den Fällen, in denen eine Person irrtümlich überstellt oder einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung oder der Überprüfung einer Überstellungentscheidung nach Vollzug der Überstellung stattgegeben wird, der Mitgliedstaat, der die Überstellung durchgeführt hat, die Person unverzüglich wieder aufnimmt. Hier ist zwar, wie im Folgenden näher begründet wird, nicht die Dublin III-VO, sondern die - eine Art. 29 Abs. 3 der Dublin III-VO entsprechende Regelung nicht enthaltene - Dublin II-VO anwendbar. Die Kammer legt gleichwohl den in dieser Vorschrift enthaltenen Rechtsgedanken des europäischen Verordnungsgebers zu Grunde, wonach die Überprüfung einer Überstellungsentscheidung, also hier der Dublin-Bescheid, auch noch nach Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat möglich sein muss, wenn der überstellende Mitgliedstaat den Betroffenen irrtümlich überstellt (in diesem Sinne bezüglich der "Unzuständigkeitsentscheidung": VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 16. November 2015 - RN 5 K 15.50405 -, juris, S. 5, 1. Absatz).

Diese Voraussetzung liegt hier vor, weil die Überstellungsfrist, wie nachfolgend dargelegt wird, vor der Überstellung des Klägers nach Italien abgelaufen und die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags somit auf die Beklagte übergegangen ist.

Hinsichtlich der Abschiebungsanordnung spricht gegen eine Erledigung auch, dass diese gemäß § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG uneingeschränkt für alle Zukunft Grundlage künftiger Aufenthaltsbeendigung im Fall eines Folgeantrags sein soll (so Funke-Kaiser, in: Gemeinschafts-Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, Rdnr. 70 zu § 34a, Stand: Juni 2014).

Eine Erledigung des Bescheides vom 28. April 2016 folgt auch nicht aus dem Umstand, dass die Überstellungsfrist bereits abgelaufen ist. Eine solche Annahme verbietet sich hier schon deshalb, weil das Bundesamt auch aktuell an seiner Rechtsauffassung festhält, dass die Überstellungsfrist nicht abgelaufen sei und seine Dublin-Entscheidungen rechtmäßig seien, und den Kläger nach Italien überstellt hat. [...]

Schließlich ist die Klage auch innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe (vgl. § 34a Abs. 2 Satz 1 und 3, § 74 Abs. 1 AsylG) und somit fristgerecht erhoben worden. Nachdem die Beklagte den Bescheid vom 28. April 2016 nicht, wie gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylG vorgegeben, dem Kläger ordnungsgemäß zugestellt, sondern nur seiner Prozessbevollmächtigten einen Abdruck zugeleitet hat, ist die Zustellung gleichwohl gemäß § 8 des Verwaltungszustellungsgesetzes geheilt worden, nachdem diese dem Kläger den Bescheid am 23. Mai 2016 per Post und zusätzlich am 18. Juli 2016 per Fax übersandt hat. Vor diesem Hintergrund ist von einer Bekanntgabe des in Rede stehenden Bescheides an den Kläger auszugehen, die jedenfalls nicht mehr als eine Woche vor Klageerhebung am 27. Mai 2016 erfolgt ist. [...]

Für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers ist nicht Italien, sondern die Beklagte zuständig. Dies folgt aus dem Ablauf der Überstellungsfrist. [...]

Die Überstellungsfrist begann (erstmalig) mit der - hier unterstellten - fiktiven Annahme des Wiederaufnahmegesuchs und somit zwei Wochen nach dem an Italien gerichteten Übernahmeersuchen vom 16. Dezember 2013 (vgl. nochmals Art. 20 Abs. 1 Buchst. c Dublin II-VO).

Der am 12. Februar 2014 und somit rechtzeitig gestellte Antrag des Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gegen die im Bescheid vom 5. Februar 2014 enthaltene Abschiebungsanordnung im Sinne des §§ 34a Abs. 1 und 2 Satz 1 AsylG unterbrach den Lauf der Überstellungsfrist jedoch, und mit der Bekanntgabe des entsprechenden Eilbeschlusses vom 4. April 2014 an die Beklagte am selben Tag (der Bundesamts-Eingangsstempel "3. April 2014" dürfte auf einem Büroversehen beruhen) wurde diese Frist neu in Lauf gesetzt. [...]

Die somit am 4. April 2014 neu in Lauf gesetzte Überstellungsfrist lief am 4. Oktober 2014 ab. Eine erneute Unterbrechung dieser Frist erfolgte nicht durch den Abänderungsantrag des Klägers vom 18. Juni 2014. Denn ein Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO hat nicht die Wirkungen des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG (so BVerwG, Urteil vom 27. April 2016 - 1 C 24.15 -, juris, Rn. 18). [...]

Lief die Überstellungsfrist nach allem am 4. Oktober 2014 ab, so bleiben die nachfolgenden, im Tatbestand dieses Urteils dargestellten weiteren Eilentscheidungen und Eilanträge in diesem Zusammenhang unbeachtlich. Denn der an den erfolglosen Ablauf der Überstellungsfrist geknüpfte Zuständigkeitswechsel kann nicht durch Ingangsetzen einer neuen Überstellungsfrist wieder zu Fall gebracht werden (so BVerwG, Urteil vom 27. April 2016 - 1 C 24.15 -, juris, Rn. 17).

Schließlich ist die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers von der Beklagten auch nicht mit seiner Überstellung nach Italien auf diesen Mitgliedstaat übergegangen. Denn abgesehen davon, dass Italien dieser Überstellung (in Kenntnis des Ablaufs der Überstellungsfrist) nicht ausdrücklich zustimmt hat, steht einem solchen Zuständigkeitsübergang entgegen, dass die Überstellung des Klägers nach Italien aufgrund der Zuständigkeit der Beklagten rechtswidrig war. Für den Fall einer solchen irrtümlichen Überstellung folgt aus dem (wie oben ausgeführt auch hier anzuwendenden) Rechtsgedanken der in Art. 29 Abs. 3 Dublin III-VO enthaltenen Regelung, dass die Zuständigkeit hier nicht auf Italien übergegangen ist, sondern die Beklagte im Gegenteil verpflichtet ist, den Kläger unverzüglich wieder aufzunehmen.

Der Kläger kann sich auch auf die Zuständigkeit der Beklagten berufen. Dabei bedarf keiner näheren Erörterung, ob den Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin II-VO generell individualschützende Wirkung zukommt und der Schutzsuchende in jedem Fall eine Prüfung durch den zuständigen Mitgliedstaat verlangen kann (vgl. zur Dublin III-VO: EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 - C-63/15 <Ghezelbash> und C-155/15 <Karim> -).

Denn der nach den Dublin-Bestimmungen zuständige Mitgliedstaat darf einen Schutzsuchenden jedenfalls dann nicht auf eine Prüfung durch einen anderen (unzuständigen) Mitgliedstaat verweisen, wenn dessen (Wieder-)Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht. [...]

Der Kläger hat einen Anspruch, die Beklagte zu verpflichten, den am 11. Mai 2016 erfolgten Vollzug der Abschiebungsanordnung vom 5. Februar 2014 rückgängig zu machen.

Grundlage für diesen Anspruch ist der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch i.V.m. mit dem Rechtsgedanken der in Art. 29 Abs. 3 Dublin III-VO enthaltenen Regelung. Der Folgenbeseitigungsanspruch setzt voraus, dass durch einen hoheitlichen Eingriff - hier die Überstellung des Klägers nach Italien am 11. Mai 2016 - ein subjektives Recht des Betroffenen verletzt worden und dadurch für diesen ein andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist, dessen Beseitigung tatsächlich und rechtlich möglich ist. Der Folgenbeseitigungsanspruch knüpft mithin nicht allein an die Rechtswidrigkeit des Eingriffsaktes an, sondern an die Rechtswidrigkeit des dadurch geschaffenen Zustands. In einem solchen Fall kann der in seinem subjektiven Recht verletzte Betroffene verlangen, dass derjenige rechtmäßige Zustand wiederhergestellt wird, der unverändert bestünde, wenn es zu dem rechtswidrigen Eingriff und dem damit verbundenen, andauernden rechtswidrigen Zustand nicht gekommen wäre (so OVG NRW, Beschluss vom 22. Oktober 2014 - 18 B 104/14, juris, Rn. 6 ff., m.w.N.).

Die für einen solchen Anspruch notwendigen Voraussetzungen liegen vor. Die nach dem Vorstehenden gegebene Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung des Asylantrags des Klägers (jedenfalls) wegen Ablaufs der Überstellungsfrist führt nicht nur zur Rechtswidrigkeit seiner Überstellung, sondern auch des Fernhaltens des Klägers von der erneuten Einreise in das Bundesgebiet. Die Folgenbeseitigung ist auch tatsächlich möglich. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger über seine Prozessbevollmächtigte mit den zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen wird und diese seine Wiedereinreise unter Übernahme der Kosten ermöglichen werden. Die Folgenbeseitigung ist schließlich nicht rechtlich unmöglich. Insbesondere steht der Wiedereinreise des Klägers nicht die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegen. Denn abgesehen davon, dass die Wiedereinreise über eine Befristung der Wirkungen der Abschiebung oder eine Betretenserlaubnis ermöglicht werden könnte, setzt die grundsätzlich allein aufgrund des faktischen Vollzugs der Abschiebung eintretende Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine rechtmäßige Abschiebung voraus, die hier nicht vorliegt (vgl. VG Augsburg, Beschluss vom 1. Februar 2010 - Au 5 S 10.30014 -, juris, Rn. 33 u. 47, m.w.N.). [...]