VG Oldenburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 - asyl.net: M24413
https://www.asyl.net/rsdb/M24413
Leitsatz:

Politische Verfolgung in Syrien auf Grund der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Syrien, Flüchtlingsanerkennung, Rückkehrgefährdung, Asylantrag, Auslandsaufenthalt, Militärdienst,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Flüchtlingseigenschaft ist zuzuerkennen, da sich der Kläger nach der Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen seiner vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens befindet, § 3 Abs. 1, 4 AsylG. Es kann dahinstehen, ob er Syrien wegen Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift verlassen hat; es droht ihm jedenfalls bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche. [...]

Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Furcht des Klägers vor einer Verfolgung im Falle einer Rückkehr unter Berücksichtigung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Syrien, der Asylantragstellung und des Aufenthalts im westlichen Ausland begründet ist.

Das Gericht schließt sich in dieser Frage der Rechtsprechung u.a. des Verwaltungsgerichts Regensburg (Urteile vom 6. Juli 2016 - RN 11 K 16.30889 - juris), des Verwaltungsgerichts Köln (Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 6664/15.A - juris, Rn. 17-33, und vom 25. Oktober - 20 K 2890/16.A- juris), des Verwaltungsgerichts Trier (Urteil vom 7. Oktober 2016 - 1 K 5093/16.TR), des Verwaltungsgerichts Schleswig (Gerichtsbescheid vom 22. September 2016 - 12 A 232/16 - juris) und des Verwaltungsgerichts Münster (Urteil vom 13. Oktober 2016 - 8 K 2127/16.A - juris) an und macht sich die detaillierten Begründungen dieser Urteile, gestützt auf die dabei angegebenen Erkenntnismittel, in vollem Umfang zu Eigen. [...]

Zudem ist zu berücksichtigen, dass gem. § 77 Abs. 1 AsylG die Sachlage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgebend ist, Auch nach materiellem Recht ist allein maßgeblich die zum Zeitpunkt einer Rückkehr bestehende Verfolgungssituation, die für den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in den Blick zu nehmen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2006 - 1 B 175/06 - juris, Rn 4). Derzeit ist aber von einer Sachlage auszugehen, die Anhaltspunkte für eine Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen nicht erkennen lässt. Bereits aus diesem Grund kann zum einen nicht damit gerechnet werden, dass in absehbarer Zukunft Rückkehrer in größeren Mengen nach Syrien zurückkommen (so auch VG Meiningen, Urteil vom 2. August 2016 - 1 K 20218/16 Me - V.n.b. UA S. 16f). Zudem wird eine Rückkehr syrischer Staatsangehöriger zum jetzigen Zeitpunkt in der Regel nicht erfolgen, weil ihnen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wird. Zum anderen ist es vor diesem Hintergrund nicht vorstellbar, dass die syrischen Sicherheitsbehörden davon ausgehen könnten, derzeit aus Europa zurückkehrende Flüchtlinge kehrten deshalb zurück, weil sie (nur) vom Bürgerkrieg geflohen seien, obwohl dieser weiterhin anhält bzw. sich durch die Bombardierung von Großstädten wie Homs und Aleppo sogar verstärkt hat. Der hier zu treffenden Prognose ist aber allein die derzeit vorliegende Sachlage zu Grunde zu legen und nicht eine von den aktuellen konkreten Umständen abstrahierende Mutmaßung, die vorläge, wenn außer Betracht bliebe, dass die Lage in Syrien weiterhin und wohl auch noch auf unabsehbare Zeit von militärischen Auseinandersetzungen geprägt ist. Es greift deshalb zu kurz, nur auf die massenhafte Ausreise seit Beginn des Bürgerkrieges abzustellen, um jetzt für die Flüchtlingsanerkennung zu fordern, dass individuelle Gründe hinzutreten müssten. Dies gilt jedenfalls solange, bis Anhaltspunkte bzw. Referenzfälle dafür vorliegen, dass sich die - derzeit nur vereinzelten - Rückkehrer nur noch abhängig von den Gründen für ihre Flucht bzw. ihre Rückkehr dem Vorwurf regimefeindlicher Betätigung im Ausland ausgesetzt sehen. Den vom Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht hierzu eingeholten Auskünften des Auswärtigen Amtes vom 7. November 2016 und des Deutschen Orient-Institutes vom November 2016 lassen sich Anhaltspunkte dafür nicht entnehmen. Es wird derzeit auch kaum möglich sein, zu dieser Frage valide Daten zu erhalten, da zum einen - wie bereits ausgeführt - die Zahl der Rückkehrer gering ist, es zudem aber auch niemanden geben dürfte, der hinreichend nachprüfbare und hinreichend objektive Erkenntnisse dazu erlangen könnte, was mit diesen Rückkehrern bei einem Grenzübertritt geschieht. Abzustellen ist folglich auf eine Gesamtschau der sich aus den vorhandenen Erkenntnismitteln ergebenden Situation, hier maßgeblich darauf beruhend, dass bislang annähernd einheitlich, auch in der Entscheidungspraxis des BAMF, angenommen worden ist, dass bei der Rückkehr des hier relevanten Personenkreises (Asylantragstellung im westlichen Ausland) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Maßnahmen politischer Verfolgung drohen, hinreichende Erkenntnisse dafür, dass, wann und warum dies sich geändert haben soll, aber nicht vorliegen.

Insofern kann zur Begründung der geänderten Entscheidungspraxis der Beklagten auch nicht auf eine neue Passpraxis Syriens abgestellt werden, die im Jahr 2015 zur Ausstellung von mehr als 800.000 Pässen geführt haben soll (vgl. VG Köln, Urteil vom 25. August 2016 - 20 K 6664/15.A - juris, Rn. 24). Denn auch insofern wird nicht die spezifische Situation eines vormalig Ausgereisten, der in Europa Asyl beantragt hat und nunmehr nach Syrien zurückkehrt, im Rahmen der anzustellenden Prognose in den Blick genommen, sondern auf Umstände abgestellt, die möglicherweise die Ausreise erleichtert haben können, denen für die Beurteilung der Situation im Fall der derzeitigen Rückkehr aber keine Aussagekraft zukommt. [...]

Im Falle des Klägers kommt hinzu, dass er sich im wehrpflichtigen Alter befindet und ihm auch in Anknüpfung daran im Falle der Rückkehr Maßnahmen politischer Verfolgung drohen. Nach der Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das Schleswig-Hosteinische Oberverwaltungsgericht vom November 2016 beschloss die syrische Regierung im März 2012, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet sei, auch wenn diese bereits ihren Wehrdienst abgeleistet haben. Der Kläger muss aber auch unabhängig von einer hieran gegebenenfalls drohenden Inhaftierung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Einberufung rechnen. So berichtet die Botschaft Beirut an das BAMF am 3. Februar 2016, dass bereits im November 2015 binnen weniger Wochen mehrere tausend Personen in Syrien zum Wehrdienst eingezogen worden seien (unbestätigte Zahlen variierten zwischen 7000 und 11000). Laut Augenzeugenberichten soll sich die Anzahl junger Männer in den Straßen Damaskus deutlich reduziert haben. Es werde berichtet, dass über die Überprüfung an den Checkpoints hinaus auch Wohnhäuser aufgesucht werden, um Wehrdienstverweigerer zu rekrutieren. Auch gebe es verlässliche Berichte, dass inhaftierte Personen aus dem Gefängnis heraus zum Militärdienst eingezogen worden seien. Selbst wenn der Kläger also Inhaftierung und Folter durch einen sofortigen Eintritt in die syrische Armee abwenden könnte, läge eine Verfolgungshandlung im Sinne von Paragraf 3a AsylG vor. Denn er wäre dann gezwungen, sich in einer Armee einzufügen, aus deren Reihen heraus Kriegsverbrechen und Folter begangen werden. So sieht § 3 Abs. 2 Nummer 5 AsylG ausdrücklich die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt als Verfolgungshandlung auf, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des Paragraf 3 Abs. 2 (Kriegsverbrechen usw.) fallen. Daraus ist zu folgern, dass auch die konkrete Gefahr der Rekrutierung in eine Armee, aus deren Reihen heraus mit Wissen und Billigung der militärischen Führung Kriegsverbrechen begangen werden, als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nummer 5 Asyl G anzusehen ist. Schon angesichts der allgemein zugänglichen täglichen Berichterstattung ist das Gericht überzeugt, dass im syrischen Bürgerkrieg auch seitens der Regierungstruppen fortgesetzt und systematische Kriegsverbrechen, wie beispielsweise die Bombardierung ziviler Versorgungseinrichtungen, Folter von Kriegsgefangenen etc. begangen werden. Für den Kläger, der bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Rekrutierung zur syrischen Armee zu rechnen hätte, besteht mithin zusätzlich die beachtliche Gefahr einer weiteren Verfolgungshandlung (vgl. hierzu auch VG Würzburg, Urteil vom 7. September 2016 - W 2 K 16.30603 - V.n.b. UA Bl. 8f). [...]