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VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 16.08.2016 - 4 A 181/14 - asyl.net: M24449
https://www.asyl.net/rsdb/M24449
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG im Falle von Leukämie in Bezug auf Kosovo und Serbien. Im Kosovo besteht die konkreten Gefahr einer erheblichen Gesundheitsverschlechterung aufgrund generell fehlender Behandlungsmöglichkeiten. In Serbien besteht im konkreten Einzelfall (aufgrund der kosovarischen Staatsbürgerschaft) die Gefahr, dass die Behandlungskosten für die grundsätzlich vorhandene Therapie nicht übernommen werden.

Schlagwörter: Kosovo, Serbien, Leukämie, medizinische Versorgung, Abschiebungsverbot, Krebs, Chemotherapie, Behandlungskosten, kosovarische Staatsangehörige, Registrierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Klägerin zu 2. kann sich jedoch auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses aus gesundheitlichen Gründen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Kosovo sowie auf Serbien berufen. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen. Dies ist dann der Fall, wenn die befürchtete Verschlimmerung der gesundheitlichen Beeinträchtigung als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeit im Zielland der Abschiebung eintritt, die dem Ausländer drohende Gesundheitsgefahr erheblich ist, also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von erheblicher Intensität zu erwarten ist und wenn diese Gefahr konkret bevorsteht, d.h., wenn zu erwarten ist, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland wegen unzureichender Möglichkeit zur Behandlung der Leiden eintritt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.7.1999 - 9 C 2.99 -, in juris; Urt. v. 9.9.1997 - 9 C 48.96 -, lnfAuslR 1998, 125; Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383; Urt. v. 21.9.1999 - 9 C 8.99 -, NVwZ 2000, 206; Nds. OVG, Urt. v. 19.10.2001 - 8 L 2824/99 -, in juris). Durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I, S. 390) wurde diese Rechtsprechung vom Gesetzgeber übernommen und in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nunmehr bestimmt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vorliegt bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht dabei auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, DVBl. 2003, 463; Urt. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, DVBl. 2007, 254). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- und Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib und Leben besteht, mit einzubeziehen (Nds. OVG, Urt. v. 10.11.2011 - 8 LB 108/10 -; BVerwG, Besch/. v. 1.10.2001 - 1 B 185.01 -; in juris).

In Anwendung der vorgenannten Grundsätze ist nach den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen zum Gesundheitszustand der Klägerin zu 2. und den aktuellen Erkenntnismitteln zur medizinischen Versorgung im Kosovo sowie in Serbien in ihrem Einzelfall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf beide Länder festzustellen.

Das Gericht sieht bei der Klägerin zu 2. das Bestehen einer lebensbedrohlichen Erkrankung in Form einer chronischen myeloischen Leukämie, BCR/ABL-positiv (ICD 10: C92.1) durch die vorgelegten ärztlichen Unterlagen als erwiesen an. Aus diesen ergibt sich auch, dass die Erkrankung eine Behandlung in Form einer Chemotherapie, derzeit mit dem Medikamentenwirkstoff Imatinib (Markenname Glivec), erfordert. Zudem hat alle drei Monate eine molekulargenetische Kontrolle ihres Zustandes zu erfolgen. Aufgrund einer Blutarmut waren nach den vorgelegten Unterlagen zwischenzeitlich auch Transfusionen erforderlich. Eine sogenannte MMR (major molecular response) als Marker für eine Stabilisierung der Erkrankung und deutlich erhöhte Überlebenschancen (vgl. www.leben-mit-cml.de/therapieerfolg-messen/molekulares-ansprechen/definition, abgerufen am 8.9.2016) wurde bei der Klägerin ausweislich der letzten vorliegenden ärztlichen Stellungnahme vom 26. April 2016 nicht erreicht. Von einer solchen ist auszugehen, wenn der BCR/ABL-Wert (BCR-ABL ist ein Gen, welches nur die Leukämiezellen tragen) auf unter 0,1 % gesunken ist (vgl. ebd.). Bei der Klägerin zu 2. ist dieser Wert nach der Bescheinigung vom 26. April 2016 aber noch bei 21,3 % anzusetzen.

In Bezug auf den Kosovo ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln bereits nicht mit hinreichender Sicherheit von ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten für die Erkrankung der Klägerin zu 2. auszugehen. Dies ergibt sich maßgeblich aus der dem Gericht vorliegenden Antwort auf eine ZIRF-Anfrage der IOM vom 26. Mai 2014, wonach eine Behandlung für Krebspatienten mit einer CML im Kosovo sehr schwierig zu erlangen und teilweise nicht möglich ist.

In Bezug auf Serbien geht das Gericht dagegen von der grundsätzlichen Verfügbarkeit der für die Klägerin zu 2. überlebenswichtigen Therapie der CML mit dem Medikamentenwirkstoff Imatinib aus. Dies ergibt sich aus der Auskunft der Deutschen Botschaft Belgrad an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 27. Februar 2014 sowie der vorliegenden Antwort auf eine ZIRF-Anfrage der IOM vom 25. Mai 2016, wonach das Medikament Glivec grundsätzlich verfügbar ist und eine Behandlung in der Klinik für Hämatologie in Belgrad erfolgen kann.

Das Gericht kann nach den neuesten vorliegenden Erkenntnismitteln jedoch nicht mit der - angesichts der im Einzelfall der Klägerin zu 2. bestehenden Schwere der Erkrankung - erforderlichen Sicherheit davon ausgehen, dass eine derartige Therapie für sie in Serbien auch erreichbar ist. Insofern ist zu beachten, dass bereits nach der Auskunft der Deutschen Botschaft Belgrad vom 27. Februar 2014 für das mit dem Medikament Glivec vergleichbare Medikament Anzovip 100 mg für 120 Tabletten mit Kosten von 1.884,00 Euro zu rechnen war. Zwischenzeitlich dürfte insofern noch von einer Preissteigerung auszugehen sein. Die Klägerin muss nach dem Attest vom 26. April 2016 täglich 400mg des Wirkstoffs Imatinib einnehmen, so dass die vorstehend wiedergegebenen Kosten als monatliche Mindestkosten anzusehen sind. Die Kläger selber gaben in der mündlichen Verhandlung am 7. März 2016 die Kosten des Medikaments mit etwa 4.000,00 Euro monatlich an. Zwar besteht ausweislich des aktuellen Lageberichtes des Auswärtigen Amtes (a.a.O.) in Serbien eine gesetzliche Pflicht-Krankenversicherung und Angehörige der Roma haben im serbischen Gesundheitssystem grundsätzlich die gleichen Rechte wie Angehörige der serbischen Mehrheitsbevölkerung. Auch aus der ZIRF-Auskunft vom 25. Mai 2016 ergibt sich, dass die im Falle der Klägerin zu 2. erforderliche Therapie grundsätzlich von der staatlichen Krankenkasse übernommen wird. Im Lagebericht (a.a.O.) wird ferner ausgeführt, dass für den Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung in Serbien - wie für die Inanspruchnahme anderer Sozialleistungen auch - eine Registrierung am melderechtlich erfassten Wohnsitz erforderlich ist. Bisher nicht melderechtlich registrierte Personen, namentlich Angehörige der Roma, können eine Eintragung im Personenstandsregister unter vereinfachten Bedingungen bewirken. Auch Personen ohne Personalausweis wurde die Anmeldung erleichtert. Angehörige der Roma können sich zudem auch ohne einen festen Wohnsitz unter Angabe des Ortes ihres vorläufigen Aufenthaltes registrieren lassen. Im Falle der Klägerin zu 2. besteht jedoch die Besonderheit, dass sie vom Beklagten als kosovarische Staatsangehörige geführt wird und somit in Serbien als Binnenvertriebene gilt. Bei diesem Personenkreis können ausweislich der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 10. März 2016 (Serbien: Registrierung und Zugang zu Gesundheitsdiensten für rückkehrende Roma mit kosovarischer Staatsangehörigkeit) besondere Schwierigkeiten bei der Registrierung zur Erlangung von Sozialleistungen bestehen und das Registrierungsverfahren kann in gewissen Fällen mehr als ein Jahr andauern. Zwar ist in dem Bericht insofern nur von Einzelfällen die Rede, angesichts der bei der Klägerin zu 2. bestehenden lebensbedrohlichen Schwere ihrer Erkrankung erscheint insofern jedoch im vorliegenden Einzelfall keine ausreichende Sicherheit gegeben, dass sie tatsächlich rechtzeitig eine entsprechende Übernahme ihrer erheblichen Behandlungskosten durch die serbische Krankenversicherung erreichen kann. Diese Einschätzung wird auch nicht durch die vom Landkreis ... abgegebene Kostenübernahmeerklärung vom 21. Juni 2016 entkräftet, da sich diese nur auf die ersten sechs Monate nach einer Ausreise bezieht. Auch wenn die drohende Gesundheitsverschlechterung i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG "alsbald" nach einer Rückkehr in das Heimatland zu erwarten sein muss, sieht das Gericht im Einzelfall der Klägerin ein Erfordernis für eine längerfristige Sicherstellung der Kostentragung für ihre Leukämietherapie. [...]