VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Beschluss vom 15.11.2016 - 3 L 711/16 - asyl.net: M24501
https://www.asyl.net/rsdb/M24501
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen die Feststellung, dass die Mutter eines EU-Bürgers nicht freizügigkeitsberechtigt ist:

Der Widerspruch einer Familienangehörigen eines EU-Bürgers (kosovarische Mutter eines italienischen Staatsangehörigen) gegen die Feststellung, dass sie nicht freizügigkeitsberechtigt ist, hat aufschiebende Wirkung.

(Leitsätze der Redaktion; Anm. des Einsenders: Dies bedeutet nunmehr, dass der Antragstellerin zunächst eine Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU auszustellen ist (was schon geschehen ist) und diese auch während der Dauer des Verfahrens das Recht auf Aufenthalt und das Recht auf uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang hat.)

Schlagwörter: Unionsbürger, Drittstaatsangehörige, Familienangehörige, Sonstige Familienangehörige, Suspensiveffekt, aufschiebende Wirkung, freizügigkeitsberechtigt, Freizügigkeitsbescheinigung, Sicherung des Lebensunterhalts, Feststellungsbescheid,
Normen: AufenthG § 30, FreizügG/EU § 5 Abs. 1 S. 2, FreizügG/EU § 7 Abs. 1, FreizügG/EU § 11 Abs. 2, AufenthG § 84 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 31 Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 1, VwGO § 80 Abs. 2, FreizügG/EU § 7 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist auch begründet. Dem Widerspruch der Antragstellerin kommt gem. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung zu. Dieser richtet sich gegen die Vollziehung eines belastenden Verwaltungsakts, nämlich der (verbindlichen) Feststellung gem.. § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, dass ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. [...]

Ein Wegfall der aufschiebenden Wirkung ergibt sich nicht aus § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 84 Abs. 1 AufenthG. Nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU findet, soweit dieses Gesetz keine besonderen Regelungen trifft, das Aufenthaltsgesetz Anwendung, wenn die Ausländerbehörde - wie hier - das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts festgestellt hat. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kommt aber nicht zur Anwendung, weil diese Vorschrift auf die Versagung eines Aufenthaltstitels und das damit einhergehende Erlöschen einer Duldungs- oder Aufenthaltstitelfiktion nach § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zugeschnitten ist. Eine Feststellung im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist damit nicht vergleichbar, da sie systematisch etwas anderes als die Ablehnung eines Aufenthaltstitels darstellt und eine - für das Aufenthaltsgesetz spezifische - Fiktionswirkung nicht auslösen kann.

Eine entsprechende Anwendung des § 84 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf die Feststellung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist nicht möglich, weil § 11 Abs. 2 FreizügG/EU gerade keine entsprechende, sondern eine direkte Anwendung des Aufenthaltsgesetzes vorsieht und für eine Analogie auch kein Bedürfnis besteht, wie sich aus den nachstehenden Erwägungen ergibt.

Ein Entfallen der aufschiebenden Wirkung ergibt sich nicht aus dem gesetzessystematischen Zusammenhang. Abgesehen davon, dass das Gesetz den Wegfall der aufschiebenden Wirkung ausdrücklich und eindeutig vorsehen müsste (vgl. BayVGH, Beschl. v. 29.7.1976 - 99 IX/76 - NJW 1977, 166; Kopp/Schenke, VwGO § 80 Rn. 65), lässt er sich insbesondere nicht aus § 7 Abs. 1 FreizügG/EU ableiten. Wird ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt, darf zwar nach § 7 Abs. 5 Satz 5 FreizügG/EU die Abschiebung nicht erfolgen, bevor über den Antrag entschieden wurde. Dass in Satz 5 der Vorschrift ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erwähnt ist, setzt aber nicht das Entfallen der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO voraus. Satz 5 macht auch Sinn, wenn er sich allein auf den Fall bezieht, dass die Behörde die Feststellung über das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO verknüpft hat (vgl. auch VG Münster, Beschl. v. 22.10.2008 - 8 L 481/08 - juris).

§ 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU soll Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen umsetzen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die die Ausreisepflicht begründende Entscheidung auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf nach Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, es sei denn, dass ein in der Vorschrift bezeichneter Ausnahmefall vorliegt. Die Richtlinie und damit auch § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU setzen aber die (nationalen) Regelungen zum vorläufigen Rechtsschutz voraus. Damit gelten im Rahmen des § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU der Regelfall der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels gem. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO und die im nationalen System der Verwaltungsgerichtsordnung vorgesehenen Ausnahmefälle des § 80 Abs. 2 VwGO; weder die Richtlinie noch § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU begründen darüber hinaus einen zusätzlichen Ausnahmefall. [...]

Damit wird aber nur die Ausreisepflicht vorverlagert, nicht jedoch deren Vollziehbarkeit. [...] Dass der Gesetzgeber selbst davon ausgeht, dass die Entscheidung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU außer in den Fällen der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung aufschiebende Wirkung hat, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zu § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU. Dort führt er an, mit der Änderung (durch das Richtlinienumsetzungsgesetz) werde das Entstehen der Ausreisepflicht zeitlich vorverlagert. Die Ausreisepflicht könne dann sofort durchgesetzt werden, es sei denn, es würden Rechtsmittel eingelegt (BT-Drs. 16/5065, S. 211).

Damit trennt der Gesetzgeber deutlich zwischen Entstehen der Ausreisepflicht und deren Vollziehbarkeit. Allein das Entstehen der Ausreisepflicht wird vorverlagert, nicht aber die Vollziehbarkeit. Dass bei Einlegung eines Rechtsmittels - hier des Widerspruchs der Antragstellerin - die Ausreisepflicht nicht sofort durchgesetzt werden kann, macht nur Sinn, wenn dem Rechtsmittel im Regelfall aufschiebende Wirkung zukommt.

Das mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz in Bezug auf § 7 Abs. 1 FreizügG/EU verfolgte gesetzgeberische Ziel, die durch die frühere Anknüpfung an die Unanfechtbarkeit bedingte zeitliche Verzögerung für eine Aufenthaltsbeendigung zu beseitigen, wird durch das dargelegte Verständnis der Vorschrift weiterhin erreicht. Erst die Änderung des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ermöglicht es der Ausländerbehörde, durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht herzustellen. Zuvor war ihr dies verwehrt, weil schon die Ausreisepflicht (und erst recht deren Vollziehbarkeit) zwingend an die Unanfechtbarkeit der Feststellung anknüpfte. [...]