Abschiebungsverbot für sechsköpfige Familie aus Afghanistan:
1. Kein Flüchtlingsschutz für Angehörige der Hazara-Minderheit aus Afghanistan, da ihnen trotz Diskriminierung keine Gefahr der landesweiten Verfolgung droht.
2. Kein subsidiärer Schutz für Zivilpersonen, obwohl ein innerstaatlicher Konflikt in Afghanistan "zumindest nicht ausgeschlossen werden kann", da die Betroffenen keiner individuellen Bedrohung ausgesetzt sind.
3. Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG, da bei einer Familie mit minderjährigen Kindern im Hinblick auf die schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan davon auszugehen ist, dass den Betroffenen eine unmenschliche Behandlung droht (unter Bezug auf VGH Bayern Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - asyl.net: M22883, Asylmagazin 6/2015, S. 197 ff.).
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Aus der Zugehörigkeit der Antragsteller zur Volksgruppe der Hazaras folgt nicht die Gefahr einer landesweiten Verfolgung.
Die Antragsteller stammen aus der Provinz Parwan, am Rande der Hauptsiedlungsgebiete der Hazara.
Der Anteil der Hazaras an der Gesamtbevölkerung Afghanistans wird auf ca. 10 Prozent geschätzt (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 06.11.2015, Stand November 2015, Gz.: 508-516.8013 AFG). Ihr Hauptsiedlungsgebiet liegt im zentralen Hochland Afghanistans, dem Hazarajat. Es umfasst die Provinzen Bamyan, Uruzgan und Ghor, aber auch Teile von Herat, Farah, Kandahar, Ghazni, Wardak, Parwan, Baghlan, Balkh und Badghis. Aber auch in allen anderen Gebieten und insbesondere den Städten können Hazaras angetroffen werden (Sayed Askar Mousavi: The Hazaras of Afghanistan. An historical, cultural, economic and political study. New York 1997, S. XIII).
Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazaras hat sich die Lage nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes grundsätzlich verbessert. Sie seien in der öffentlichen Verwaltung zwar nach wie vor unterrepräsentiert, wobei nicht klar sei, ob dies eher eine Folge der früheren Marginalisierung oder eine gezielte Benachteiligung neueren Datums sei. Gesellschaftliche Spannungen bestünden fort und lebten in lokal unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 06.11.2015, Stand November 2015, Gz.: 508-516.8013 AFG).
Nach den Erkenntnissen des UNHCR würden Hazaras bis zu einem gewissen Grad weiterhin diskriminiert. Insbesondere Paschtunen hätten Vorbehalte gegenüber den in der Vergangenheit an den Rand gedrängten und diskriminierten Hazaras, die seit dem Sturz der Taliban 2001 deutliche wirtschaftliche und politische Fortschritte gemacht hätten. Die Hazaras würfen der Regierung vor, Paschtunen zum Nachteil anderer Ethnien, insbesondere der Hazaras, zu bevorzugen. In bestimmten Gebieten könne es zu Übergriffen von Taliban und anderen Regierungsgegnern kommen, die möglicherweise an die Volks- bzw. schiitische Religionszugehörigkeit anknüpften. Es gebe Berichte über Belästigungen, Einschüchterungen bis hin zu Tötungen. In den Provinzen Wardak und Ghazni gebe es immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen um Weideland zwischen paschtunischen Nomaden (Kuchis) und dort sesshaften Hazaras (vgl. UNHCR: Eligibilty Guidelines for assessing the international protection needs of asylum-seekers from Afghanistan, 19. April 2016, S. 67 f., 75 f.).
Im Jahr 2015 gab es Entführungen von Hazaras auf der Fernstraße zwischen Kabul und Kandahar sowie der Straße von Maidan Shahr nach Bamiyan in der Provinz Wardak. Mehrere Hazaras wurden vermutlich von Anhängern des sog. Islamischen Staates getötet. Weitere Entführungen durch vermutlich andere Tätergruppen gab es in den Provinzen Ghazni und Farah(vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 06.11.2015, Stand November 2015, Gz.: 508-516.80/3 AFG). Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen registrierte 2015 20 Entführungsfälle durch Regierungsgegner mit mindestens 146 entführten Hazaras, von denen 13 ermordet wurden. Sieben von ihnen wurden nach ihrer Verschleppung in die Provinz Zabul die Kehlen durchgeschnitten. Soweit bekannt, waren die Motive Lösegelderpressung, Gefangenenaustausch, unterstellte Zugehörigkeit zu den Sicherheitskräften oder die Weigerung illegale Abgaben zu entrichten. Bis auf einen ereigneten sich die Fälle in gemischtethnischen Gebieten der Provinzen Ghazni, Balkh, Sah Pul, Faryab, Uruzgan, Baghlan, Wardak, Jawzjan und Ghor (vgl. UNAMA (Februar 2016): Afghanistan. Annual Report 2015. Protection of Civilians in Armed Conflict. Kabul, S. 49 f.).
Bei den oben geschilderten Entführungen und Ermordungen handelte es sich um lokal begrenzte Einzelfälle. Nach Bekanntwerden der Vorfälle in der Provinz Zabul kam es in der Hauptstadt Kabul und in anderen Städten zu Protesten tausender Menschen gegen diese Übergriffe (vgl. Human Rights Watch vom 13.11.2015: Afghan Killings Highlight Risks to Ethnic Hazaras, www.ecoi.net/local link/315034/453623 de.html, Abruf am 14.01.2016; UNAMA a.a.O., S. 50). Dies zeigt, dass der von sunnitischen Extremisten gegen die überwiegend schiitischen Hazaras gerichtete Hass in weiten Teilen der Gesellschaft keine Unterstützung findet. Die sonstigen in Einzelfällen weiterhin bestehenden Benachteiligungen stellen grundsätzlich keine Eingriffe von erheblicher Intensität dar. Anzeichen dafür, dass die Hazaras allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit landesweit einer gezielten Verfolgung unterliegen, liegen nicht vor (so auch VGH Mannheim, Urteil vom 26.02.2014, Az. A 11 S 2519/12; VGH München, Urteil vom 21.06.2013, Az.: 13a B 12.30170; VGH Kassel, Urteil vom 10.02.2011, Az.: 8 A 3279/09.A; VG Ansbach, Urteil vom 29.07.2015, Az.: AN 11 K 14.30665, VG Kassel, Urteil vom 10.06.2015, Az.: 6 K 638113.KS.A; VG Berlin, Urteil vom 21.01.2015, Az.. VG 6 K 188.13 A).
Die Heimatprovinz der Antragsteller liegt am Rande des Hauptsiedlungsgebietes der Hazara, damit gehören die Antragsteller zumindest dort keiner Minderheit an. Auch größere Städte, wie z.B. Kabul o.a. im übrigen Teil Afghanistans bieten aufgrund ihrer Anonymität und der ständigen Präsenz der Sicherheitskräfte und der Polizei gewöhnlich besseren internen Schutz vor Diskriminierung und Benachteiligung. [...]
Auch hätten die Antragssteller in Erwägung ziehen müssen, andere sichere Gebiete Afghanistans aufzusuchen, bevor sie die Flucht ins Ausland antraten. Entgegen den Angaben der Antragsstellerin ist dem Bundesamt bekannt, dass in Afghanistan es Gebiete gibt, die ausreichend durch den Staat gesichert sind und somit vor nichtstaatlichen Verfolgungsakteuren hätte Schutz bieten können, so zum Beispiel größere Städte wie Kabul oder Masar-e Sharif. [...]
Die Antragsteller müssen keine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit befürchten, weil sie als Zivilpersonen nicht von willkürlicher Gewalt im Rahmen eines in ihrem Herkunftsland bestehenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts betroffen sind.
Zwar ist davon auszugehen, dass in Afghanistan ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht oder zumindest nicht ausgeschlossen werden kann und die Antragsteller als Zivilpersonen sich daran nicht aktiv beteiligt haben.
Es drohen ihnen jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. [...]
In allen Teilen Afghanistans herrscht ein unterschiedlich stark ausgeprägter innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban sowie anderen oppositionellen Kräften. Für keine der afghanischen Provinzen kann jedoch generell ein Gefährdungsgrad für Zivilpersonen angenommen werden, der die Feststellung einer erheblichen individuellen Gefahr allein auf Grund einer Rückkehr in das Herkunftsgebiet und Anwesenheit dort rechtfertigt. [...]
Zusätzlich müssen individuelle gefahrerhöhende Umstände zu einer Zuspitzung allgemeiner konfliktbedingter Gefahren geführt haben, die die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr für die Antragsteller rechtfertigen.
Schließlich haben die Antragsteller auch keine persönlichen Umstände vorgetragen, die die Gefahr für sie so erhöhen, dass von individuellen konfliktbedingten Gefahren gesprochen werden kann.
Die Antragsteller haben, wie unter den Ausführungen zum Flüchtlingsschutz dargelegt, nicht glaubhaft dargelegt, bereits einen ernsthaften Schaden infolge des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erlitten zu haben, bzw. unmittelbar Gefahr gelaufen zu sein, einen solchen zu erleiden. Folglich haben sich die allgemeinen konfliktbedingten Gefahren in ihrer Person nicht schutzauslösend zugespitzt.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Antragsteller bei Rückkehr nach Afghanistan einer individuellen Gefahrerhöhung ausgesetzt wären.
Somit drohen den Antragstellern bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. [...]
Aufgrund der individuellen Umstände der Antragsteller ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedoch davon auszugehen, dass sich die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung außergewöhnlich erhöht und deswegen ein Abschiebungsverbot gern. § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.
Bei einer Familie mit minderjährigen Kindern ist aber im Hinblick auf die zu erwartenden schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen (vgl. VGH Bayern, 21.11.2014, 13a B 14.30284).
Wird mithin die Notwendigkeit, dass der Antragsteller zu 1.) für den Unterhalt der gesamten Familie aufkommen muss, zugrunde gelegt, würde die Familie bei Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt. Die humanitäre Lage dort lässt für sie ein menschenwürdiges Dasein nicht zu.
Unter den dargestellten Rahmenbedingungen, vor allem mit häufig nur sehr eingeschränktem Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung, ist die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für eine Familie mit kleinen Kindern im Allgemeinen nicht möglich. [...]