VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 31.08.2016 - 7 K 893/15.A - asyl.net: M24524
https://www.asyl.net/rsdb/M24524
Leitsatz:

1. Frauen und Kinder dürfen nach den Regeln des Kanun in der Regel nicht getötet werden.

2. Wenn durch eine Tötung die Ehre wiederhergestellt ist, ist die Blutrache beendet.

3. Personen, die von Blutrache betroffen sind, sind regelmäßig gezwungen, in kompletter Isolation zu leben und haben keine Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

4. Im Zusammenhang mit Blutrachefehden werden vielfach unechte Dokumente oder echte Dokumente unwahren Inhalts ausgestellt. Die Seriosität von Bescheinigungen des Nationalen Versöhnungskomitees Albaniens (Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar, Comitee of Nationwide Reconciliation) ist fraglich.

5. Ein Schutzersuchen an die albanische Polizei ist angesichts der staatlichen Anstrengungen, im Rahmen des EU-Beitrittsverfahrens insbesondere Blutrache zu bekämpfen, nicht von vornherein aussichtslos, auch wenn in die Blutrachefehde involvierte Personen bei der Polizei beschäftigt sind.

6. Für die Kläger ist eine inländische Fluchtalternative gegeben, da sie wirtschaftlich gut gestellt sind und in ihrem Fall nicht von einer hartnäckigen Verfolgung ausgegangen werden kann.

Schlagwörter: Albanien, Blutrache, Verfolgungsgrund, soziale Gruppe, Kanun, Gewohnheitsrecht, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Kriterien ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegend schon deshalb ausgeschlossen, weil die von den Klägern geltend gemachte "Verfolgung" durch die Familien C./O. und N. nicht an ein Verfolgungsmerkmal i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpft. Denn die behauptete Verfolgungsfurcht beruht nicht auf der Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder einer politischen Überzeugung. In Betracht käme vorliegend allenfalls, die Familie des Klägers zu 1) als eine "soziale Gruppe" im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG anzusehen, als deren "Mitglied" die Kläger bedroht wären. [...]

Zwar ist davon auszugehen, dass eine Familie durch die alle Mitglieder verbindende Verwandtschaft ein unveränderbares Merkmal teilt. Eine "soziale Gruppe" im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vermag sie aber nur dann darzustellen, soweit sie in der Gesellschaft des Heimatlandes des Antragstellers auch als deutlich abgrenzbare Gruppe mit eigener "Gruppenidentität" wahrgenommen wird. [...]

Dies zugrunde gelegt, stellt die Familie des Klägers zu 1) keine "soziale Gruppe" i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar. Die Kläger werden - ihr Vorbringen als wahr unterstellt - von den Angehörigen der Getöteten, nicht auch von (irgendwelchen) anderen Bürgern in Albanien wird er in diesem Sinne "unterscheidend" wahrgenommen, dass sie Angehörige desjenigen sind, der Y.O. und H.N. im Jahre 2003 getötet hat. Die Unterscheidung, die auf Grund der angeblich drohenden Blutrache getroffen wird, entsteht schließlich erst durch die (vermeintliche) Verfolgungshandlung. Ein solcher Fall liegt aber nicht im Anwendungsbereich des in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG geschützten Rechtsguts (vgl. Sächs.OVG, Urteil vom 26.02.2013 - A 4 A 702/08 -, juris Rn. 45 BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B.0930091 -, juris Rn. 38; OVG Hamburg, Beschluss vom 05.12.2008 - 5 Bf 45/07. AZ -, juris Rn. 23 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.01.2006 - 1 LB 22/05 -, juris Rn. 39; VG Bremen, Urteil vom 11.08.2016 - 5 K 1170/16 -, juris Rn. 18; VG Ansbach, Urteil vom 10.07.2014 - AN 11 K 14.30425 -, juris Rn. 26; VG München, Urteil vom 11.10.2013 - M 23 K 11.30203 -, juris Rn. 18; VG Weimar, Urteil vom 31.08.2009 - 7 K 20238/07 We -, juris).

Vor diesem Hintergrund erhellt zugleich, dass eine Flüchtlingsanerkennung auch dann nicht gerechtfertigt wäre, wenn man nicht eine Bedrohung durch zwei Familien annähme, sondern von staatlicher Verfolgung - konkret durch die Polizei - ausginge. Denn auch unter diesem Blickwinkel fehlte es an einer Anknüpfung an asylrelevante Merkmale. [...]

b) Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG. Sie haben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG in ihrem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht (nachfolgend aa). Zudem fehlt es an der Voraussetzung, dass der albanische Staat erwiesenermaßen nicht schutzfähig oder -willig ist, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 3, § 3d AsylG (bb). Schließlich müssen sich die Kläger auf internen Schutz verweisen lassen, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG (cc). [...]

Nach diesen Maßstäben liegen stichhaltige Gründe für die Annahme, die Kläger seien im Falle ihrer Rückkehr nach Albanien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen Behandlung in Gestalt eines Racheaktes ausgesetzt, nicht vor. Das Gericht geht auf Grundlage der im Klageverfahren gewonnenen Erkenntnisse zwar davon aus, dass

- im Jahre 2001 O.T. , der Vater des Klägers zu 1), durch Q.C./O. ermordet wurde,

- am 06. August 2003 B.T., der Bruder des Klägers zu 1), den Sohn H. des Q.C./O. tötete und den Polizeichef von E. - H.N. - so schwer verletzte, dass dieser am nächsten Tag seinen Verletzungen erlag,

- sich B.T. mehrere Monate nach der Tat stellte und wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde.

(1) Indes rechtfertigt dieser Sachverhalt nicht die Annahme, den Klägern drohe Blutrache seitens der Familie C. /O. Vielmehr spricht alles dafür, dass die Auseinandersetzung beendet ist. [...]

Daraus folgt zunächst, dass für die Klägerin zu 2) und 3) ohnehin keine Gefahr beachtlich wahrscheinlich angenommen werden kann. Frauen und Kinder dürfen nach den Regeln des Kanun in der Regel nicht getötet werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Albanien: Blutrache, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 13. Juli 2016, Seite 3; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Albanien - Blutrache, April 2014, Seite 11; Bundesasylamt der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, August 2013, Seite 21; zur Rechtsprechung jüngst VG Oldenburg, Urteil vom 29.08.2016 - 15 A 3997/16 -, juris Rn. 27).

Soweit die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 13. Juli 2016, Seite 5, ausführt, Personen jeglichen Alters und beider Geschlechter seien von einer Blutfehde betroffen, rechtfertigt das keine andere Einschätzung. Denn konkretisierend wird lediglich ausgeführt, Hunderte von Kindern seien aufgrund von Blutfehden gezwungen, zu Hause zu bleiben und müssten u.a. auf den Schulbesuch verzichten. Selbst wenn darüber hinaus für möglich erachtet werden sollte, dass Frauen und Minderjährige auch von Racheakten betroffen sein sollten, stellt das den Regelfall, dass dies eben nicht geschieht, nicht in Frage (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Gießen vom 15.09.2005: Blutrache an Frauen nur in Einzelfällen, deren Zahl sehr gering ist).

Für männliche und damit potentiell betroffene Familienmitglieder gilt: Ist durch eine Tötung die Ehre wiederhergestellt, so hat es damit sein Bewenden, die Blutrache ist mit anderen Worten beendet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 13. Juli 2016, Seite 3).

So liegt der Fall hier. [...]

Schließlich ist zu konstatieren, dass das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 04. November 2014 in Übereinstimmung mit dem bisher erarbeiteten Befund mitgeteilt hat, dass das zuständige albanische Polizeidirektorat über keinerlei Hinweise verfüge, dass die Familie T. mit der Familie C./O. in einem Blutrachekonflikt lebe. [...]

(2) Es kann auch nicht angenommen werden, die Kläger - nach dem zuvor zur Gefährdung von Frauen und minderjährigen Kindern Gesagten in erster Linie der Kläger zu 1) - seien im Fall ihrer Rückkehr nach Albanien der Gefahr der Blutrache seitens der Familie N. ausgesetzt.

Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass H.N. am 06. August 2003 von B.T. angeschossen worden und einen Tag später seinen Verletzungen erlegen ist. Geht man von einer unbeabsichtigten Tötung des H.N. aus, wie der Täter B.T. selbst betont hat, so ist eine Gefährdung schon deshalb zu verneinen, weil eine Tötung ohne Absicht nach dem Kanun straflos ist und keine Blutrache auslöst (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Albanien - Blutrache, April 2014, Seite 10; Redi Isak, Der Kanun in Albanien - Gewohnheitsrechts im modernen Staat?, März 2011, S. 59 m.N. (abrufbar im Internet unter www.design.kyushu-u.ac.jp/%7Ehoken/Kazuhiko/2011DerKanun.pdf (Zugriff am 30.08.2016))).

Die Kammer bezweifelt aber ungeachtet dessen eine Gefährdung der Kläger. Ihre Ausreise ist erst im Dezember 2012 und damit über neun Jahre nach der Tat erfolgt. Gemessen an diesem langen Zeitraum ist das Vorbringen der Kläger und weiterer Familienangehöriger bei der Anhörung vor dem Bundesamt zu konkreten Übergriffen oder Vorfällen überaus dürftig. Das ist umso bemerkenswerter, als die Familie N. nur wenige hundert Meter entfernt von den Klägern - die Mutter des Klägers zu 1) Q.N. hat bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt von "300 oder 400 Metern" gesprochen (BA X Blatt 36) - gewohnt haben soll.

Das Gericht nimmt den Klägern aber nicht ab, dass sie "immer wieder" von der Polizei aufgesucht worden sein sollen und es "immer wieder" zu Mitnahmen des Klägers zu 1) auf die Wache gekommen sein soll. Ihr Vorbringen ist insoweit durchweg unsubstantiiert. [...]

(2) Dem Vorbringen der Kläger ist auch nicht zu entnehmen, dass sie in Albanien als Folge der Tötung des H.N. eingeschlossen gelebt haben.

Personen, die konkret von Blutrache betroffen sind, sind regelmäßig gezwungen, in kompletter Isolation leben und haben keine Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, da sie jederzeit mit einem Vergeltungsschlag rechnen müssten. Im Falle der Drohung mit Blutrache sind die betroffenen Familien von heute auf morgen isoliert und praktisch in ihren Wohnhäusern oder im Gartenbereich gefangen. Diese Isolation der Familien ist ein wesentliches Kennzeichen einer Blutrachefehde (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Albanien - Blutrache, April 2014, Seite 12).

Eine solche Isolation kann hier nicht festgestellt werden. [...]

(3) Auch aufgrund der undatierten Bescheinigung des Nationalen Versöhnungskomitees in E. in albanischer Sprache und englischer Übersetzung (in der Dokumentenmappe zum Verfahren der Q.T. , BA XII) kann nicht von einer konkreten Gefährdungslage ausgegangen werden. Es fehlt an konkreten Angaben zur Entwicklung des in Rede stehenden Konflikts nach der Tat. Solche Angaben wären insbesondere deshalb erforderlich gewesen, weil zwischen der Tat und der Ausreise der Kläger rund neun Jahre liegen, wobei für die Ausreise nach Angaben der Kläger das Scheitern der Vermittlungsbemühungen maßgeblich gewesen sein soll. Ungeachtet dessen beschränkt sich der Verfasser auf die pauschale Feststellung, dass nach Ansicht des Ausschusses eine Bedrohung für das Leben der Kläger und der gesamten Großfamilie bestehe. Darüber hinaus enthält sie allgemeine Ausführungen zu der nach Auffassung des Versöhnungskomitees fehlenden Schutzfähigkeit der albanischen Polizei und zu anderen Blutrachekonflikten.

Überdies darf nicht außer Betracht bleiben, dass nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln gerade auch im Zusammenhang mit Blutrachefehden vielfach unechte Dokumente oder echte Dokumente unwahren Inhalts ausgestellt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht im Hinblick auf die Einstufung von Albanien als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylVfG vom 16. August 2016 (Stand: Mai 2016), Seite 14).

Die Seriosität von Bescheinigungen des Nationalen Versöhnungskomitees (Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar, Comitee of Nationwide Reconciliation) ist ernsthaft in Frage gestellt, seitdem der Vorsitzende O.Q. und drei weitere Personen am 18. Februar 2014 wegen des Verdachts der Korruption und Fälschung von Dokumenten festgenommen wurden (vgl. hierzu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Albanien - Blutrache, April 2014, Seite 13 f. m.w.N., Seite 15 f. m.w.N.).

Daran gemessen ist die von den Klägern vorgelegte Bescheinigung zur Glaubhaftmachung des Bestehens einer Blutrachefehde ungeeignet (vgl. zu anderen Fällen der Blutrache VG München, Beschluss vom 18.11.2015 - M 2 S 15.31508 -, juris Rn. 26). [...]

bb) Ungeachtet dessen ist die Zuerkennung subsidiären Schutzes auch gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. §§ 3c Nr. 3, 3d AsylG ausgeschlossen. Die Kläger sind wegen der ihnen (angeblich) drohenden Gefährdung an die Sicherheitsbehörden ihres Heimatlandes zu verweisen. Nach dem Wortlaut des § 3c Nr. 3 AsylG ("erwiesenermaßen") muss feststehen, dass der albanische Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, vor befürchteten Übergriffen nichtstaatlicher Akteure Schutz zu bieten bzw. dagegen einzuschreiten oder solchen vorzubeugen (§ 4 Abs. 3, § 3c Nr. 3, § 3d Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AsylG). Den Antragsteller trifft insoweit die Darlegungslast, d.h. er muss konkrete Tatsachen und Umstände bezeichnen, aus denen sich ergibt, dass er sich erfolglos um Schutz bei staatlichen oder quasistaatlichen Stellen bemüht hat. Er muss die persönlichen Umstände, Verhältnisse, Erlebnisse mit Blick auf das Schutzbegehren schlüssig und hinsichtlich Ort und Zeit detailliert und vollständig darlegen (vgl. VG Aachen, Urteil vom 30.01.2012 - 6 K 812/11.A -, juris Rn. 47; Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 4 Rn. 35; Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 141 (Stand: April 2011)).

Gemessen daran lässt sich nicht feststellen, dass ein Schutzersuchen an die albanische Polizei von vornherein aussichtslos wäre (vgl. ebenso Saarl. OVG, Beschluss vom 18.12.2015 - 2 A 128/15 -, juris Rn. 12; OVG NRW, Beschluss vom 23.02.2015 - 11 A 334/14.A -, juris Rn. 8 ff.; VG München, Beschluss vom 02.08.2016 - M 15 S 16.31763 -, juris Rn. 16; VG Trier, Urteil vom 02.05.2016 - 6 K 349/16.A -, juris; VG Schwerin, Urteil vom 29.03.2016 - 5 A 2716/15 As SN -, juris Rn. 21 ff.; VG E. , Beschluss vom 30.10.2015 - 17 L 3499/15.A -, juris Rn. 21; VG E. , Urteil vom 12.03.2015 - 6 K 8197/14.A -, juris Rn. 64 ff.; VG Osnabrück, Urteil vom 31.08.2015 - 5 A 94/15 -, juris; a.A. VG Bremen, Urteil vom 11.08.2016 - 5 K 1170/16 -, juris Rn. 22; VG Braunschweig, Urteil vom 21.04.2016 - 6 A 53/15 -, juris; VG Magdeburg, Urteil vom 22.09.2015 - 3 A 179/14 MD -, juris).

Im Juni 2014 wurde Albanien der Status des Beitrittskandidaten zur Europäischen Union verliehen. Die Entscheidung des Europäischen Rats war Anerkennung der von Albanien unternommenen Reformmaßnahmen und gleichzeitig eine Ermutigung, notwendige Reformen weiter voranzutreiben. Aus den sich auf den Zeitraum Oktober 2013 bis September 2014 beziehenden Fortschrittsberichten der EU-Kommission ergibt sich, dass Albanien, auch wenn in vielen Bereichen noch Mängel festzustellen sind, u. a. Reformmaßnahmen im Bereich der Justiz und der öffentlichen Verwaltung umgesetzt und Fortschritte im Kampf gegen die Korruption und die organisierte Kriminalität erreicht hat. Denn der albanische Staat hat Reformwillen nicht nur gezeigt, sondern auch Reformen, gerade im Bereich der Justiz und Verwaltung, nachweisbar auf den Weg gebracht (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Februar 2015 - 11 A 334/14.A -, juris m.w.N; BAMF, Blickpunkt Albanien - Blutrache, S. 17 ff.; Home Office, Country Information an Guidance - Albania: Blood feuds, 2014, Seite 6).

Diese Anstrengungen erstrecken sich nicht zuletzt unter dem Eindruck gestiegener Asylbewerberzahlen in Europa auch auf das Phänomen der Blutrache, die der albanische Staat verstärkt bekämpft. Der albanische Staat hat spezielle Rechtsvorschriften erlassen bzw. auf den Weg gebracht. So wurde im Zuge der Novellierung des albanischen Strafgesetzbuchs im Jahre 2012 die vorsätzliche Tötung im Kontext mit Blutrache oder Blutfehde mit nunmehr nicht weniger als dreißig Jahren Freiheitsstrafe pönalisiert (Art. 78a). Schon die Androhung von Blutrache wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft (Art. 83a) (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Albanien - Blutrache, April 2014, Seite 18; Bundesasylamt der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Albanien, August 2013).

Zuletzt hat der Rechtsausschluss des albanischen Parlaments im Februar 2015 eine Gesetzesvorlage zur Bekämpfung der Blutrache beschlossen und dem Parlament vorgelegt. Demnach fordert das Parlament die Ermittlungsbehörden zu einer Zusammenarbeit mit der Staatspolizei und zur Untersuchung sämtlicher Blutrachefälle auf (vgl. top-channel.tv/english/artikull.php - "Albania drafts resolution on prevention of blood feud" (Zugriff am 30. August 2016)).

Die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen haben sich in ihrer Wirksamkeit verbessert. Gerade in Städten Nordalbaniens (T., M., L.) findet eine aktive Arbeit der Ermittlungsbehörden gegen Blutrache statt. Die Regierung hat die Ermittlungsbehörden zur Strafverfolgung von Blutrachefällen angewiesen, so dass im Jahre 2014 eine Reihe von Tätern angeklagt wurde (vgl. Home Office, Country Information and Guidance - Albania: Blood feuds, 2014, Seite 6).

Seitens des Ombudsmannes (People´s Advocate) wurden zahlreiche Anstrengungen unternommen, staatliche Institutionen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Auf sein Bestreben wurde eine Task-Force für die Verfolgung und Untersuchung von Fällen eingerichtet, in denen die Behörden nicht ausreichend eingegriffen hatten (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Albanien - Blutrache, April 2014, Seite 18).

Die Kammer verkennt nicht, dass die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 13. Juli 2016 die Maßnahmen der albanischen Regierung für unzureichend erachtet hat (vgl. Seite 7 f.). Ob dem ungeachtet der oben beschriebenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Blutrache gefolgt werden kann, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn jedenfalls im vorliegenden Einzelfall können sich die Kläger nicht auf diesen Standpunkt zurückziehen. Denn konkrete Tatsachen und Umstände, aus denen sich ergibt, dass sie sich erfolglos um Schutz bei staatlichen oder quasistaatlichen Stellen bemüht haben, sind nicht dargetan. Solche Bemühungen sind auch dann zu erwarten, wenn Personen unmittelbar in die Blutrache involviert sind, die bei der Polizei beschäftigt sind. Denn es kann nicht ohne Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte angenommen werden, dass auch andere Polizisten bereit wären, allein wegen der Beteiligung eines Kollegen Unrecht geschehen zu lassen. Dass die Kläger tatsächlich sich bemüht haben, Schutz zu erlangen, ist nicht klar. So ist im Asylverfahren lediglich vorgetragen worden, der Kläger zu 1) habe mehrfach bei der Polizei angerufen, woraufhin aber nichts geschehen sei. "Mehrfache" Anrufe - zeitlich nicht näher eingegrenzt - für einen Zeitraum von über neun Jahren ist arg wenig. Jedenfalls haben die Kläger offenbar die Möglichkeit nicht genutzt, sich mit einer Beschwerde an den zur Untersuchung von Missständen bei der Polizei eingerichteten Ombudsmann einzuschalten oder sich an die Sonderabteilung des albanischen Generaldirektorats für Blutrachefälle zu wenden (vgl. VG Schwerin, Urteil vom 29.03.2016 - 5 A 2716/15 As SN -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 21.10.2015 - 33 L 300.15 A -, juris Rn. 16).

cc) Außerdem hätten die Antragsteller bei einer Rückkehr nach Albanien auch die Möglichkeit, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen, wenn sie an ihrem Herkunftsort weitere Übergriffe befürchten (vgl. VG München, Beschluss vom 27.11.2015 - M 5 S 15.31551 -, juris Rn. 17; VG E. , Beschluss vom 14.10.2015 - 17 L 3111/15.A - juris Rn. 20; VG E. , Urteil vom 12.03.2015 - 6 K 8197/14.A - juris Rn. 63; VG Oldenburg, Urteil vom 10.04.2015 - 5 A 1688/14 - juris).

Eine Übersiedlung in andere Teile des Landes unterliegt keinen rechtlichen Einschränkungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht im Hinblick auf die Einstufung von Albanien als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylVfG vom 16. August 2016 (Stand: Mai 2016), Seite 11).

Die Antragsteller können jedenfalls durch Verlegung ihres Wohnsitzes in die Hauptstadt Tirana oder andere urbane Zentren in Albanien, wo ein Leben in gewisser Anonymität möglich ist, eine etwaige Gefahr für Leib oder Leben abwenden (vgl. VG München, Beschluss vom 27.11.2015 - M 5 S 15.31551 -, juris Rn. 17).

Soweit die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 13. Juli 2016 auch eine inländische Fluchtalternative in Frage stellt, rechtfertigt das keine abweichende Einschätzung. Die Kläger sind nach eigenen Angaben wirtschaftlich gut gestellt. So besitzt die Familie zwei Gebäudekomplexe in Albanien und hat von ihrer Arbeit in der Landwirtschaft gut gelebt. Folglich dürfte ihnen der Erwerb von Grund und Boden auch (oder stattdessen) in einem anderen Landesteil möglich sein. Sie sind auch nicht darauf angewiesen, etwa in U. in einen Stadtteil zu ziehen, in dem bereits andere Personen aus ihrem Dorf oder Clan leben (vgl. zu dieser Erwägung Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft der SFH-Länderanalyse, Albanien: Blutrache, 13. Juli 2016, Seite 9).

Der Umstand, dass die Kläger in Deutschland Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, heißt nicht, dass sie auch in Albanien von staatlicher Hilfeleistung abhängig wären.

Soweit das Auswärtige Amt in seinem jüngsten Lagebericht vom 16. August 2016 (Stand: Mai 2016), Seite 11, davon spricht, die Flucht an einen anderen Ort im Inland biete wenig Schutz, ist in den Blick zu nehmen, dass diese Aussage für den Fall hartnäckiger Verfolgung getroffen worden ist, von der hier nun wahrlich nicht die Rede sein kann. [...]