EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 21.12.2016 - C-508/15; C-509/15 - asyl.net: M24526
https://www.asyl.net/rsdb/M24526
Leitsatz:

[Die Rechtsstellung nach Art 7 ARB 1/80 kann auch erst nach der Einreise begründet werden.]

Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, dem zum Zweck der Familienzusammenführung die Einreise in den  Aufnahmemitgliedstaat gestattet wurde und der seit seiner Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammengelebt hat, ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat verleiht, selbst wenn der Zeitraum von mindestens drei Jahren, während dessen dieser Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte, nicht unmittelbar auf die Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat folgte, sondern in einen späteren Zeitraum fällt.

(Amtlicher Leitsatz)

(beachte auch: Urteilsberichtigungsbeschluss des EuGH, curia.europa.eu/juris/document/document.jsf)

Schlagwörter: Türkischer Arbeitnehmer, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Familienzusammenführung, Aufenthaltserlaubnis,
Normen: ARB 1/80 Art. 7
Auszüge:

[...]

54 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 seinem Wortlaut nach klar, eindeutig und ohne dass dies an Bedingungen geknüpft wäre, den Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, denen der Nachzug gestattet wurde, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, nachdem sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz gehabt haben (erster Gedankenstrich), sowie das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sie seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (zweiter Gedankenstrich), verleiht (Urteil vom 17. April 1997, Kadiman, C-351/95, EU:C:1997:205, Rn. 27).

55 Nach dieser Bestimmung haben die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers somit vorbehaltlich der Erfüllung der in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat. Hierzu hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Rechte, die Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers hinsichtlich der Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat verleiht, notwendig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraussetzen, da dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung sonst jede Wirkung genommen würde (Urteil vom 19. Juli 2012, Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass der Erwerb der in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechte den drei kumulativen Voraussetzungen unterliegt, dass die betreffende Person Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers ist, dass sie von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten hat, zu diesem zu ziehen, und dass sie seit mindestens drei oder fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 29).

57 Was zunächst die Voraussetzung der Zugehörigkeit des türkischen Arbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Voraussetzung an den Begriff "Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt" anknüpft, dessen Tragweite der Tragweite dieses Begriffs im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 entspricht, nämlich als Bezeichnung der Gesamtheit der Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats nachkommen und somit das Recht haben, eine Berufstätigkeit in dessen Hoheitsgebiet auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, EU:C:2008:744, Rn. 22, 23 und 28).

58 Was anschließend die Voraussetzung angeht, dass der betreffende Familienangehörige die Genehmigung erhalten hat, zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass diese Voraussetzung bezweckt, diejenigen Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers vom Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auszunehmen, die unter Verstoß gegen die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet eingereist sind und dort wohnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2004, Cetinkaya, C-467/02, EU:C:2004:708, Rn. 23).

59 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass diese Bestimmung den Fall eines türkischen Staatsangehörigen erfasst, der als Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört oder angehört hat, entweder die Genehmigung erhalten hat, zum Zweck der Familienzusammenführung dorthin zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen, oder der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gelebt hat (Urteil vom 18. Juli 2007, Derin, C-325/05, EU:C:2007:442, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60 Zur Voraussetzung des Wohnsitzes hat der Gerichtshof schließlich entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verlangt, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers bei diesem mindestens drei Jahre lang ununterbrochen seinen Wohnsitz hat (Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, EU:C:2008:744, Rn. 30).

61 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt diese Bestimmung nämlich, dass sich die Familienzusammenführung, die der Grund für die Einreise des Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat war, während einer bestimmten Zeit im tatsächlichen Zusammenleben des Betroffenen mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft manifestiert und dass dieses Zusammenleben so lange andauert, wie der Betroffene nicht selbst die Voraussetzungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt dieses Staates erfüllt (vgl. u.a. Urteil vom 16. März 2000, Ergat, C-329/97, EU:C:2000:133, Rn. 36).

62 Der Gerichtshof hat insoweit ausgeführt, dass, damit der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers gemäß Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat erwirbt, der betreffende Arbeitnehmer zumindest während der dreijährigen Dauer des Zusammenlebens die Voraussetzung der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt erfüllt haben muss (Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, EU:C:2008:744, Rn. 37).

63 Im vorliegenden Fall steht fest, dass sowohl Frau Ucar als auch Herr Kilic die Genehmigung erhalten haben, zu ihren jeweiligen Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen, die alle türkische Staatsangehörige sind, und dass Frau Ucar stets mit ihrem Ehegatten und Herr Kilic stets mit seiner Mutter zusammengelebt hat.

64 Es steht ebenfalls fest, dass der Ehegatte von Frau Ucar und die Mutter von Herrn Kilic die ununterbrochene dreijährige Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, die ihren Familienangehörigen die in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Rechte verleiht, nicht unmittelbar nach der Ankunft der Kläger der Ausgangsverfahren im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, sondern zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt haben.

65 Es ist somit festzustellen, ob für den Erwerb eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die Voraussetzung der Zugehörigkeit des türkischen Referenzarbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt, wie von der Ausländerbehörde vertreten und von der deutschen Regierung geltend gemacht wird, zwingend sowohl zum Zeitpunkt der Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat als auch während der unmittelbar auf diesen Zeitpunkt folgenden drei oder fünf Jahre erfüllt sein muss.

66 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Voraussetzung in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht ausdrücklich vorgesehen ist.

67 Sodann ist Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 im Hinblick auf das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel und das mit ihr geschaffene System auszulegen.

68 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das System des schrittweisen Erwerbs von Rechten nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem doppelten Zweck dient. Erstens sollen nach der genannten Vorschrift bis zum Ablauf des ersten Zeitraums von drei Jahren Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen. Zweitens soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Der damit verfolgte Hauptzweck ist also, die Stellung des Familienangehörigen, der sich in dieser Phase bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, dadurch zu festigen, dass er die Mittel erhält, um dort selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sich folglich eine gegenüber der Stellung des Wanderarbeitnehmers selbständige Stellung aufzubauen (Urteil vom 19. Juli 2012, Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 38 bis 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69 Außerdem soll im Hinblick auf den mit dem Beschluss Nr. 1/80 verfolgten allgemeinen Zweck, der darin besteht, die im sozialen Bereich bestehende Regelung für die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen zu verbessern, um schrittweise die Freizügigkeit herzustellen, das insbesondere durch Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführte System also für Voraussetzungen sorgen, die die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat erleichtern (Urteil vom 29. März 2012, Kahveci, C-7/10 und C-9/10, EU:C:2012:180, Rn. 34).

70 Eine Auslegung von Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 wie die von der deutschen Regierung vorgeschlagene, wonach sich ein türkischer Staatsangehöriger wie Frau Ucar oder Herr Kilic unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens allein aufgrund der Tatsache, dass der Zeitraum von drei Jahren, während dessen der türkische Referenzarbeitnehmer eine ununterbrochene Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, nicht unmittelbar auf den Zeitpunkt der Familienzusammenführung gefolgt ist, nicht auf die durch diese Bestimmung verliehenen Rechte berufen kann, ist im Hinblick auf das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel zu restriktiv.

71 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die betreffenden Familienangehörigen, die nicht die in Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Voraussetzungen erfüllen, in keinem Fall das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat hätten, so dass sie ihre Stellung in diesem Mitgliedstaat nicht festigen könnten, selbst wenn sie dort seit vielen Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben, dort grundsätzlich gut integriert sind und seit dem Tag ihrer Ankunft im Aufnahmemitgliedstaat mit dem türkischen Staatsangehörigen zusammengelebt haben, und zwar während eines Zeitraums, während dessen dieser Staatsangehörige über mindestens drei oder fünf Jahre eine ununterbrochene Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat. Dies wäre mit dem Ziel des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht vereinbar.

72 Indessen lässt sich weder dem Wortlaut dieser Bestimmung noch dem Beschluss Nr. 1/80 allgemein entnehmen, dass die Verfasser dieses Beschlusses beabsichtigten, die Familienangehörigen einer so großen Gruppe von türkischen Arbeitnehmern von den in Art. 7 Abs. 1 dieses Beschlusses vorgesehenen Rechten auszuschließen.

73 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hängt außerdem die Ausübung der Rechte, die den türkischen Staatsangehörigen nach dem Beschluss Nr. 1/80 zustehen, nicht davon ab, aus welchem Grund ihnen die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung im Aufnahmemitgliedstaat ursprünglich erteilt wurde (Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, EU:C:2008:744, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die türkischen Staatsangehörigen erfasst, die im Aufnahmemitgliedstaat die Eigenschaft als Arbeitnehmer haben, ohne jedoch zu verlangen, dass sie als Arbeitnehmer in die Union eingereist sind, so dass sie diese Eigenschaft nach ihrer Einreise in die Union erlangt haben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2008, Payir u. a., C-294/06, EU:C:2008:36, Rn. 38).

75 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass für den Erwerb eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 durch einen Familienangehörigen des türkischen Referenzarbeitnehmers die Voraussetzung der Zugehörigkeit dieses Arbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt nicht zwingend zum Zeitpunkt der Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat und während der unmittelbar auf diesen Zeitpunkt folgenden drei oder fünf Jahre erfüllt sein muss.

76 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die erster Frage in der Rechtssache C-508/15 zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, dem zum Zweck der Familienzusammenführung die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat gestattet wurde und der seit seiner Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammengelebt hat, ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat verleiht, selbst wenn der Zeitraum von mindestens drei Jahren, während dessen dieser Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte, nicht unmittelbar auf die Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat folgte, sondern in einen späteren Zeitraum fällt. [...]