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VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 20.10.2016 - Au 5 K 16.31745 - asyl.net: M24527
https://www.asyl.net/rsdb/M24527
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für eine Familie mit Säugling aus Afghanistan, die lange im Iran gelebt hat, weil der als einziger erwerbsfähige Familienvater nicht den Lebensunterhalt für die dreiköpfige Familie sichern kann, insbesondere auch aufgrund einer gesundheitlichen Einschränkung.

(Leitsätze der Redaktion; Urteil erging ohne mündliche Verhandlung; unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des VGH Bayern, u.a. Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - asyl.net: M22883, Asylmagazin 6/2015, S. 197 ff.)

Schlagwörter: Afghanistan, Kind, Kleinkind, Säugling, extreme Gefahrenlage, Iran, langjähriger Auslandsaufenthalt, Familie, Versorgungslage, Kabul, Entwurzelung, Abschiebungsverbot, Existenzminimum, besonders schutzbedürftig, unterstützender Familienverband, Auslandsaufenthalt, familiärer Rückhalt, Familienangehörige,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Bei der Beurteilung, ob eine extreme Gefahrenlage insbesondere bei einer Rückkehr nach Kabul besteht, ist zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes von Ehe und Familien nach Art. 6 Grundgesetz (GG) nur gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Ehepartner nach Afghanistan zurückkehren können (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris). Ihre einzelne und isolierte Rückkehr ist weder realistisch noch von Rechts wegen einzufordern. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan geht es damit nicht nur um die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Klägers zu 1. Bei der Beantwortung der Frage, ob das Existenzminimum am Zufluchtsort gesichert sein wird, sind alle Familienmitglieder bzw. der Familienverband zu berücksichtigen (VG Augsburg, U.v. 24.5.2012 - Au 6 K 11.30369 - juris Rn. 29) Damit kann auch eine bestehende Unterhaltspflicht des erwerbstätigen Klägers zu 1. nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - juris Rn. 21). Bei der anzustellenden Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in dessen Heimatstaat drohen, ist regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen. [...]

Es ist davon auszugehen, dass der Kläger zu 1. und dessen Ehefrau, die eine am ... 2016 geborene Tochter zu versorgen haben, als Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würden, die eine Abschiebung in den Heimatsaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt. Insoweit kann nicht lediglich auf eine mögliche Erwerbstätigkeit des Klägers zu 1. abgestellt werden. Es ist nicht sichergestellt, dass der Kläger zu 1. bei einer Rückkehr nach Afghanistan den Lebensunterhalt für sich, seine Ehefrau, den gerade einmal 3 Monate alten Säugling wird erwirtschaften können. Zwar verfügt der Kläger zu 1. nach seinen Angaben über eine Berufsausbildung als Schweißer und war bislang selbstständig tätig. Generell sind die Arbeitsmöglichkeiten in Afghanistan jedoch sehr begrenzt. Beim Kläger zu 1. kommt hinzu, dass er zuletzt nach seinen eigenen Angaben nicht auf dem afghanischen Arbeitsmarkt tätig war, sondern im Iran. Dies dürfte für zusätzliche Schwierigkeiten bei der Eingliederung in den afghanischen Arbeitsmarkt führen. Am ehesten sind auf diesem noch junge kräftige Männer in einfachen Tätigkeiten, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt sei, zu vermitteln. Für den Kläger zu 1. kommt seiner Ausbildung entsprechend allenfalls eine Tätigkeit im Baugewerbe in Betracht. In dieses strömen jedoch nach der aktuellen Erkenntnislage eine große Zahl der Rückkehrer und jungen Männer ohne entsprechende Berufsausbildung. Bei den angebotenen Erwerbstätigkeiten handelt es sich meist um Tätigkeiten als ungelernte Hilfskräfte bzw. Tagelöhner, die allenfalls das Existenzminimum des Arbeitssuchenden selbst sichern können. Dem Gericht erscheint es ausgeschlossen, über eine derartige Tätigkeit des Klägers zu 1. den Lebensunterhalt für eine dreiköpfige Familie zu sichern. Eine Erwerbstätigkeit der Klägerin zu 2. scheidet mangels entsprechender Berufsausbildung - die Klägerin zu 2. hat bislang lediglich als Hausfrau gearbeitet - und der Betreuung der 3 Monate alten Tochter von vorneherein aus. Hinzu kommt, dass die Kläger in Afghanistan nach ihren glaubhaften Darlegungen über keinen eine Rückkehr unterstützenden Familienverband verfügen. [...] Damit wäre die Familie bei einer Rückkehr nach Afghanistan mehr oder minder auf sich allein gestellt. Da die Familie nur über einen Erwerbsfähigen verfügt, der überdies an gesundheitlichen Einschränkungen leidet, ist das Existenzminimum der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan insbesondere auch unter Berücksichtigung der erforderlichen Betreuung und Versorgung des 3 Monate alten Säuglings keinesfalls gesichert. [...]

Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für die Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. Beim humanitären Rückkehrprogramm REAG handelt es sich lediglich um eine Reisebeihilfe, die sich für die Kläger auf insgesamt 500,00 € belaufen würde. Das GARP-Programm sieht Starthilfen im Umfang von 500,00 € für Erwachsene und von 250,00 € für Kinder unter 12 Jahren vor. Nach dem ERIN-Programm wird freiwilligen Rückkehrern eine Sachleistungsbeihilfe im Umfang von bis zu 2.000,00 € gewährt. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Kläger zu 1. haben dürfte, auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und der wohl über Jahre fortdauernden Erwerbssituation seiner Familie mit lediglich einem Erwerbstätigen und bislang einem Kleinstkind, lassen auch diese Rückkehrbeihilfen, auf die überdies kein Rechtsanspruch besteht (Bundesamt, Auskunft gegenüber VG Augsburg vom 12.8.2016) als nicht ausreichend erscheinen, um dauerhaft ein Überleben der Familie der Kläger in Afghanistan zu gewährleisten. [...]