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VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 04.08.2016 - 5 K 524/16.A - asyl.net: M24552
https://www.asyl.net/rsdb/M24552
Leitsatz:

§ 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG verstößt nicht gegen Art. 13 Abs. 2 lit. c) Richtlinie 2013/32/EU.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Asylverfahren, Mitwirkungspflicht, Zustellung, Zustellfiktion, Unionsrecht, unionsrechtkonform, Auslegung, Aufenthaltsort, Adressänderung, Sprachfassung, Anschrift, behördliche Mitteilung, effet-utile-Grundsatz, Äquivalenzgrundsatz, Prozessrecht,
Normen: AsylG § 10 Abs. 2 S. 2, RL 2013/32/EU Art. 13 Abs. 2 Bst. c, AsylG § 74 Abs. 1, AsylG § 10 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Zustellfiktion des § 10 Abs. 2 AsylG greift unbeschadet dessen, dass ein vorausgegangener Zustellversuch am 22. Oktober 2015 daran scheiterte, dass der Kläger ausweislich der Postzustellungsurkunde "unbekannt verzogen" war. Die Behörde muss immer an die letzte Anschrift zustellen oder zusenden, auch wenn ihr bekannt ist, dass der oder die Betreffende dort gar nicht mehr wohnt, also im Grunde dieses Tun von vornherein zum Scheitern verurteilt ist (Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Stand: Mai 2011, § 10 Rn. 261). Ein Verstoß gegen Treu und Glauben wird nur dann erwogen, wenn die andere, nunmehr aktuelle Anschrift positiv und zuverlässig bekannt ist (Funke-Kaiser a.a.O. Rn. 262). Zum Zeitpunkt des Zustellversuchs am 30. November 2015 hatte das Bundesamt keinerlei Kenntnis von einer anderen Anschrift des Klägers.

§ 10 Abs. 2 AsylG verstößt auch nicht gegen Unionsrecht. § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG lässt die Zustellfiktion auch dann eingreifen, wenn die letzte bekannte Anschrift nicht vom Ausländer selbst, sondern von einer öffentlichen Stelle mitgeteilt wurde. Entgegen der Ansicht des Klägers liegt in dieser Bestimmung kein Verstoß gegen Art. 13 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013. Danach können die Mitgliedsstaaten "insbesondere festlegen, dass die Antragsteller verpflichtet sind, so rasch wie möglich die zuständigen Behörden über ihren jeweiligen Aufenthaltsort oder ihre Anschrift sowie sämtliche diesbezüglichen Änderungen zu unterrichten. Die Mitgliedsstaaten können festlegen, dass der Antragsteller an dem von ihm mitgeteilten letzten Aufenthaltsort erfolgte – bzw. an die mitgeteilte letzte Anschrift gerichtete – Mitteilungen gegen sich gelten lassen muss". Die in der Literatur vertretene Ansicht, dass eine Zustellfiktion nur bei vom Ausländer selbst mitgeteilten Anschriften unionsrechtskonform sei (Bruns in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. § 10 AsylG Rn. 28), teilt das Gericht nicht. Begründet wird diese Ansicht mit dem Wortlaut des Art. 13 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2013/32/EU, wobei auf die englische Sprachfassung verwiesen wird, die eindeutig sei (… adress which he or she indicated …).

Diese Argumentation unterliegt schon deshalb Zweifeln, weil andere Sprachfassungen auf den Mitteilungsstand bei der Behörde und nicht auf die Mitteilungshandlung des Antragstellers abstellen (so etwa die polnische Fassung des Art. 13 Abs. 2 lit. c) Satz 2 der Richtlinie 2013/32/EU, die ausschließlich die Passivform verwendet, ohne den Urheber der Mitteilung zu konkretisieren: "Die Mitgliedsstaaten können festlegen, dass der Antragsteller sämtliche Korrespondenz entsprechend am letzten mitgeteilten Aufenthaltsort oder unter der letzten mitgeteilten Adresse annehmen muss." ("Państwa członkowskie mogą postanowić, że wnioskodawca musi przyjmować wszelką korespondencję odpowiednio w ostatnim wskazanym miejscu pobytu lub pod ostatnim wskazanym adresem zamieszkania"). An dieser Stelle der englischen Sprachfassung den Vorrang einzuräumen, widerspräche indes den für das Unionsrecht anerkannten Auslegungsmethoden. [...]

Weder der allgemeine Aufbau noch der Zweck der Regelung lassen vorliegend den Schluss zu, dass die Mitgliedsstaaten allein dann den Zugang oder die Zustellung fingieren dürfen, wenn der Antragsteller selbst die Anschrift mitgeteilt hat. Gegen eine solche Verengung der Zustellmöglichkeiten spricht bereits, dass Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU lediglich Beispiele von Sanktionen aufzählt, ohne einen abschließenden Katalog festzulegen. In Art. 13 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2013/32/EU heißt es nämlich ausdrücklich: "Die Mitgliedsstaaten können insbesondere festlegen". Das Wort "insbesondere" findet sich aber, soweit ersichtlich, in allen Sprachfassungen.

Teleologisch betrachtet beschäftigt sich Art. 13 der Richtlinie 2013/32/EU allein mit den Obliegenheiten des Antragstellers. Der Richtliniengeber hatte also keinen Anlass, in diesem Kontext auch den Fall zu regeln, dass die Anschrift behördlich mitgeteilt wird (so auch VG Düsseldorf, Urteil vom 1. April 2016 – 17 K 6458/15.A). Dem Schweigen zur behördlichen Mitteilung ausschließenden Charakter beizumessen, verstieße im Übrigen gegen den effet utile. Die erste Unterkunft nach Ankunft und Registrierung eines Antragstellers wird nämlich regelmäßig behördlich zugewiesen. Unterließe es der Antragsteller, diese erste Anschrift mitzuteilen und wäre seine Mitteilungshandlung der einzig zulässige Anknüpfungspunkt für wirksame Zustellungen, könnten ihm im Falle eines verschwiegenen Umzugs keinerlei behördliche Schreiben wirksam zugestellt werden.

Auch rechtssystematische Gründe sprechen dagegen, Art. 13 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2013/32/EU als abschließende Regelung zum Zustellungsrecht zu verstehen. Vielmehr enthält sich das Unionsrecht von Vorgaben, wie die Mitgliedsstaaten die Zustellung oder die Bekanntgabe einer Entscheidung regeln, namentlich ob und unter welchen Umständen die Zustellung bzw. die Bekanntgabe fingiert werden darf. Dies gilt auch für die Richtlinie 2013/32/EU, die an keiner Stelle Regelungen dazu trifft, wie die Entscheidungen der Asylbehörden den Antragstellern rechtsgültig bekannt gegeben werden sollen. Gleichzeitig geht die Richtlinie aber auch dann von der Wirksamkeit einer Entscheidung aus, wenn der Adressat nach Lage der Dinge von der Entscheidung keine positive Kenntnis erlangen kann. So sieht die Richtlinie eine ggf. ablehnende Entscheidung ausdrücklich für den Fall vor, dass der Antragsteller untertaucht (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 lit. b) der Richtlinie 2013/32/EU).

Schließlich gebietet primäres Unionsrecht es nicht, Art. 13 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2013/32/EU etwa erweiternd oder § 10 Abs. 2 AsylG mit seiner Zustellfiktion einschränkend auszulegen. Unionsrechtlich ist es nämlich anerkannt, dass ein nationales Gericht von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, nicht absehen muss, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Unionsrecht abgestellt werden könnte. Bei der Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, haben die Mitgliedstaaten freilich dafür zu sorgen, dass die betreffenden Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und dass sie nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der Rechte, welche die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Grundsatz der Effektivität) (EuGH, Urteil vom 16. März 2006 – C-234/04 – zit. nach juris). Diese Mindestvorgaben wahrt § 10 Abs. 2 AsylG. Die Vorschrift ist auf die nationalrechtlich verbürgte Asylanerkennung nach Art. 16a GG und auf die Abschiebungsverbote etwa des § 60 Abs. 7 AufenthG ebenso wie auf die unionsrechtlichen Schutzgarantien anzuwenden. Ebenso wenig wird die Ausübung unionsrechtlich begründeter Schutzpositionen praktisch unmöglich gemacht. Der Asylantragsteller hat es selbst in der Hand, die verfahrensrechtlichen Nachteile abzuwenden, indem er die neue Anschrift dem Bundesamt unverzüglich mitteilt oder sich unter der alten Anschrift nach eingehender Post erkundigt. Dies wird durch den vorliegenden Fall augenfällig belegt. Der Kläger trägt selbst vor, sich am 22. Oktober 2015, dem Tag des ersten fehlgeschlagenen Zustellversuchs, nicht mehr unter seiner alten Anschrift aufgehalten zu haben. Bis zur Zustellung des angefochtenen Bescheides am 30. November 2015 hatte der Kläger mehr als einen Monat Zeit, seine aktuelle Anschrift dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anzuzeigen. [...]