VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 21.12.2016 - 23 K 8700/16.A (ASYLMAGAZIN 6/2017, S. 235) - asyl.net: M24556
https://www.asyl.net/rsdb/M24556
Leitsatz:

1. Flüchtlingsanerkennung für einen Asylsuchenden aus Marokko, der erst im Asylfolgeverfahren angegeben hat, homosexuell zu sein. Es liegen neue Beweismittel vor (der Lebenspartner des Betroffenen als Zeuge und eine ärztliche Sexualanamnese), die seine Homosexualität bestätigen.

2. In Marokko bestehen strafrechtliche Vorschriften, die spezifisch Homosexualität unter Strafe stellen und nach aktuellen Erkenntnissen in der Praxis angewandt werden. Daher droht Homosexuellen in Marokko die Gefahr der unverhältnismäßigen und diskriminierenden Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: homosexuell, Marokko, Sachverständigengutachten, Strafbarkeit, Flüchtlingsanerkennung, Homosexualität, Asylfolgeantrag, neue Beweismittel, Zeugen, Zeuge, Zeugen, soziale Gruppe, Verfolgungshandlung, Freiheitsstrafe, Sexualanamnese, Lebenspartnerschaft,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 71 Abs. 1 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4 Bst. a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4 Bst. b, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist für den Kläger ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, da die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.

Nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG ist das Verfahren wieder aufzugreifen, wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden.

Die Beweismittel liegen in Form des angebotenen Zeugenbeweises durch den gleichgeschlechtlichen Partner des Klägers vor. Dieser Zeuge ist neu, er konnte ihm vorherigen Verfahren noch nicht vernommen werden. Das Beweismittel hätte zudem in den vorherigen Verfahren eine günstigere Entscheidung herbeiführen können, da dem Kläger zuvor (VG Düsseldorf, Beschluss vom 13. September 2013 - 11 L 1646/13.A) - wie auch jetzt vom Bundesamt - seine Homosexualität nicht geglaubt wurde. Die Entscheidung ist auch günstiger, da dem Kläger aufgrund seiner Homosexualität Flüchtlingsschutz zuzuerkennen ist. [...]

Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) und b) AsylG darstellen, soweit in dem Herkunftsland strafrechtliche Bestimmungen bestehen, die spezifisch Homosexualität betreffen. Dabei stellt der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 AsylG dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht werden und die im Herkunftsland tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige und diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt damit eine relevante Verfolgungshandlung dar. Von dem Schutzsuchenden kann dabei nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in dem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. November 015 - 7a K 2425/15.A -, unter: nrwe.de, m.w.N. auf EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – C-199/12 bis 201/12 -, unter: curia.eu, und VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Januar 2015 - 13 K 5723/13.A -, unter: nrwe.de).

Nach dieser Maßgabe ist davon auszugehen, dass dem Kläger aufgrund seiner Homosexualität in Marokko eine Verfolgung droht.

In Marokko bestehen strafrechtliche Vorschriften, die spezifisch Homosexualität unter Strafe stellen und in der Praxis angewandt werden. Nach Art. 489 des marokkanischen Strafgesetzbuchs wird jede Person, die mit einem Individuum desselben Geschlechts "unzüchtige oder widernatürliche" Handlungen begeht ("acte impudique ou contre nature avec un individu de son sexe") zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren und einer Geldstrafe bestraft. Nach den vorliegenden aktuellen und insoweit übereinstimmenden Erkenntnisquellen wird der Straftatbestand in der Praxis angewandt. Nach der Auskunft von Amnesty International vom 1. April 2015 ist es in den Jahren 2014 und 2013 mehrfach zu Strafverfahren wegen homosexuellen Handlungen gekommen, bei denen eine Freiheitsstrafe verhängt wurde. Dies stimmt überein mit der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 6. November 2014. Danach wurden unter anderem in den Jahren 2014 und 2013 Strafverfahren wegen homosexuellen Handlungen geführt und Freiheitsstrafen verhängt. Die Auskunft bezieht sich weiter auf Angaben des marokkanischen Justizministeriums, wonach es in 2011 zu 81 Gerichtsverfahren aufgrund von homosexuellen Handlungen kam. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 11. September 2014 liegen jedenfalls vereinzelte Meldungen zu strafrechtlichen Verurteilungen wegen homosexueller Aktivitäten vor (zuletzt im Juli 2014). In den Jahren 2007 und 2014 kam es danach zu Verhaftungen wegen homosexueller Handlungen (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. November 2015 - K 2425/15.A -, unter: nrwe.de).

Entsprechend ist davon auszugehen, dass Personen, die ihre Homosexualität in Marokko offen ausleben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung und Bestrafung ausgesetzt sind. Ob diese Gefahr dadurch verringert werden könnte, dass die Homosexualität nicht offen ausgelebt wird, ist hingegen unbeachtlich. Denn nach der genannten Rechtsprechung kann gerade nicht verlangt werden, dass die sexuelle Identität geheim gehalten oder besondere Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. November 2015 - 7a K 2425/15.A -. unter: nrwe.de).

Dabei ist jedoch stets Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, so schildert, dass der behauptete Asylanspruch davon lückenlos getragen wird. [...]

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Es steht nach dem Gutachten des Dr. … und dessen Sexualanamnese zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger, der bereits im Vorfeld versuchte, eine Lebenspartnerschaft mit seinem Lebenspartner eintragen zu lassen, was allein an einem fehlenden Pass für den Kläger scheiterte, homosexuell ist, in Marokko aufgrund seiner Person und der nach außen hervortretenden Homosexualität bei einer Rückkehr entsprechend Verfolgung zu befürchten hat.

Der Kläger kann nicht auf internen Schutz vor Verfolgung gemäß § 3e AsylG verwiesen werden. Der Kläger hat in keinem Teil seines Herkunftslandes Schutz vor Verfolgung. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen kann Homosexualität in Marokko in keinem Landesteil offen und ohne die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgelebt werden. [...]