VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Beschluss vom 19.12.2016 - 4 L 639/16 - asyl.net: M24567
https://www.asyl.net/rsdb/M24567
Leitsatz:

Eine Abschiebung kann ausgesetzt werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers in einem familiengerichtlichen Verfahren zur Feststellung der Abstammungsverhältnisse ist und ihm nicht zugemutet werden kann, das Verfahren vom Ausland her zu betreiben. Das kann dann der Fall sein, wenn die Verbringung in das Ausland zu einer de facto Entscheidung in dem Verfahren vor dem Familiengericht führen kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Verfahren auf Vaterschaftsfeststellung einem Verfahren auf Einräumung des Umgangsrechts vorgreiflich ist. Geschützt sind insoweit auch die Interessen des ausländischen Vaters in der Aufbauphase der Eltern Kind Beziehung.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Eltern-Kind-Verhältnis, Duldung, Familienrechtsstreit, Umgangsrecht, Vaterschaft, einstweilige Anordnung,
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 60a, EMRK Art. 8, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung des Antragstellers unter Zugrundelegung der Sachlage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG derzeit rechtlich unmöglich ist, vor. [...]

Die Schutzwirkungen des Art. 6 GG entfalten sich auch nicht erst dann, wenn sonst grundsätzlich zu fordernde regelmäßige persönliche Kontakte im Rahmen des Üblichen, die die Übernahme der elterlichen Erziehungs- und Betreuungsverantwortung zum Ausdruck bringen, bereits tatsächlich bestehen. Vielmehr greifen die Schutzwirkungen mit den ihnen im Einzelfall zukommenden Gewicht schon dann, wenn der Umgang des ausländischen Elternteils mit seinem Kind zur Verwirklichung des Umgangsrechts und der Umgangspflicht (§ 1684 Abs. 1 BGB) in der Aufbauphase erst angebahnt wird. Dies setzt voraus, dass der ausländische Elternteil sich zur Wahrnehmung seiner elterlichen Verantwortung für sein Kind ernsthaft um Umgang mit diesem bemüht und dem Umgang Gründe des Kindeswohls nicht entgegenstehen. Umgekehrt kann sich auf die Schutzwirkungen des Art. 6 GG derjenige ausländische Elternteil nicht berufen, der sich nicht um Umgang bemüht und sich nicht bereit zeigt, seiner elterlichen Verantwortung gerecht zu werden. Ohne Erstreckung der Schutzwirkungen auf die Phase des Aufbaus der elterlichen Beziehung zum Kind liefen das Umgangsrecht und die Umgangspflicht, die Ausdruck und Folge der natürlichen Elternverantwortung sind, entgegen den zu beachtenden Belangen des Kindeswohls leer und könnte das Entstehen einer sonst schutzwürdigen emotionalen Beziehung zwischen dem Elternteil und seinem Kind folgenlos vereitelt werden. In dieser Aufbauphase ist dem Elternteil und seinem Kind die Chance zu geben, emotionale Bindungen aufzubauen und die Grundlage dafür zu legen, dass der Elternteil am Leben und Aufwachsen des Kindes tatsächlich Anteil nehmen und seiner Elternverantwortung gerecht werden kann, damit sich die familiären Beziehungen entwickeln können (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Oktober 2016, a.a.O.).

Hiervon ausgehend fällt die Abwägung zu Gunsten des Antragstellers aus. Der Antragsteller hat ausweislich der von ihm vorgelegten eidesstattlichen Versicherung zunächst glaubhaft gemacht, dass er jedenfalls für die Zeit kurz nach der Geburt des Kindes … (geb. am … Januar 2016) tatsächlich Umgang zu dem Kind gepflegt hat, obwohl der Antragsteller und die Mutter des Kindes auch seinerzeit nicht zusammen gewohnt haben. [...]

Ferner ist in die Gewichtung einzustellen, dass der Antragsteller bei dem Familiengericht ein Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft anhängig gemacht und er auch ein Verfahren zur Regelung des Umgangs mit dem Kind angestrengt hat. [...]

Die danach vor Art 6 GG und Art 8 EMRK grundsätzlich schutzwürdige Vater- Kind-Beziehung, die - wie ausgeführt - auch schon in der Phase des Aufbaus der elterlichen Beziehung zum Kind Schutz genießt, begründet einen Duldungsanspruch vorliegend jedenfalls für die Zeit, solange erwartet werden kann, dass dem Antragsteller ein Umgangsrecht durch das Familiengericht - nach vorheriger Vaterschaftsfeststellung - eingeräumt wird, seine persönliche Anwesenheit im Bundesgebiet auch zu diesem Zwecke erforderlich ist und ihm ein Aufbau der Eltern-Kind-Beziehung dann möglich und von ihm auch tatsächlich wahrgenommen wird. [...]

Aufgrund der Unentbehrlichkeit des Antragstellers nach dem derzeitigen Stand des Vaterschaftsfeststellungsverfahrens, kann der Antragsteller nach dem jetzigen Erkenntnisstand auch nicht darauf verwiesen werden, das familiengerichtliche Verfahren vom Ausland weiter zu betreiben bzw. zunächst auszureisen und nach Durchlaufen des Visumsverfahrens zum Zwecke der Weiterführung der familiengerichtlichen Verfahren wieder einzureisen. Ausweislich der Auskunft der zuständigen Richterin am Amtsgericht … ist für den 10. Januar 2017 ein Termin anberaumt worden, dessen Gegenstand die Beschwerde der Kindesmutter gegen den Beweisbeschluss vom 05. Oktober 2016 ist. Dass dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung eine Einreise bis zum 10. Januar 2017 wieder möglich sein soll, erachtet die Kammer aufgrund der Kürze der bis dahin zur Verfügung stehenden Zeit als ausgeschlossen, zumal das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach dem Bescheid des Bundesamtes auf 30 Monate befristet ist, so dass der Antragsteller neben dem Visumverfahren, welches schon eine gewisse Zeit beanspruchen dürfte, voraussichtlich auch noch ein Verfahren auf Entfristung bzw. Verkürzung der Frist nach § 11 Abs. 4 AufenthG führen bzw. eine kurzfristige Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG beantragen müsste, vor dessen Entscheidung schwerlich mit Erfolg ein Visum zu beantragen sein wird. Zudem meint der Antragsgegner offensichtlich, dass der erfolgreiche Abschluss des Verfahrens auf Vaterschaftsfeststellung das Wohl des Kindes gefährden würde; angesichts dessen ist derzeit auch nicht zu erwarten, dass der Antragsgegner von seinem nach § 11 Abs. 4 und 8 AufenthG eingeräumten Ermessen (zeitnah) zugunsten des Antragstellers Gebrauch machen wird. Damit droht aber, dass das Vaterschaftsfeststellungsverfahren - etwa mangels verwertbarer DNA-Proben - zu Lasten des Antragstellers abgeschlossen wird und es ihm in der Folge dann mangels rechtlicher Vaterschaft auch unmöglich sein wird, ein Verfahren auf Einräumung eines Umgangs mit dem Kind mit Erfolg führen zu können. Maßnahmen der Ausländerbehörde dürfen aber nicht zu einer de facto Entscheidung in einem Verfahren wegen des Umgangsrecht führen, es also nicht präjudizieren (vgl. EGMR, Urteil vom 11. Juli 2000, a.a.O.), was aber der Fall wäre, würde dem Antragsteller die Möglichkeit einer Vaterschaftsfeststellung genommen.

Der Antrag auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung scheitert auch nicht daran, dass das Kind des Antragstellers nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und der Antragsteller darauf zu verweisen ist, die (aufzubauende) Eltern-Kind-Beziehung im Ausland zu leben. Die Kindesmutter ist im Besitz einer bis September 2023 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG (ausländisches Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge). Ihr kann, da dies die Trennung zu einem weiteren Kind deutscher Staatsangehörigkeit bedeuten würde, und damit auch zu dem Kind … insoweit nicht zugemutet werden, nach Algerien auszureisen, so dass alles dafür spricht, dass eine Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und dem Kind … derzeit nur im Bundesgebiet gelebt werden kann.

Gegen eine Anwesenheit des Antragstellers zum Zwecke der Vaterschaftsfeststellung in dem familiengerichtlichen Verfahren spricht auch nicht das Kindeswohl. [...]