VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 24.01.2017 - 14 L 4382/16.A - asyl.net: M24765
https://www.asyl.net/rsdb/M24765
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen die Ablehnung des BAMF, ein Zweitantragsverfahren durchzuführen:

1. Im Eilrechtsschutzverfahren gegen die Ablehnung eines Zweitantrags als unzulässig ist nach § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylG die Abschiebung nur bei "ernstlichen Zweifeln" am Bescheid des BAMF auszusetzen.

2. Die Annahme des BAMF, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen, muss im Hauptsacheverfahren überprüft werden. Nach dem bisherigen Vortrag liegt für die alleinstehende Antragstellerin eine erhebliche Gefährdungssituation in Indien vor.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt, sichere Drittstaaten, Dublinverfahren, Unzulässigkeit, Ablehnungsbescheid, unzulässig, Abschiebungsverbot, Indien, alleinstehende Frauen, geschiedene Frauen, Existenzminimum, ernstliche Zweifel,
Normen: AsylG § 71a, AsylG § 71a Abs. 4, AsylG § 36 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen.

Solche ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes liegen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtliche Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) vor. Denn die Antragsgegnerin hat unter anderem angenommen, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen, weil bei der Rückkehr der Antragstellerin nach Indien im Allgemeinen von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausgegangen werden könne.

Dies deckt sich nicht mit der Rechtsprechung der Kammer, wonach unter bestimmten Voraussetzungen alleinstehenden Frauen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zu gewähren ist (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 20. November 2012 – 14 K 5694/11.A).

Denn nach der dem Gericht vorliegenden Auskunft von Terre des Femmes zu der Rückkehrsituation einer alleinstehenden Frau vom 10. Februar 2012 werden alleinstehende Frauen (unverheiratete, geschiedene, verwitwete, außerhalb ihres ehelichen Wohnsitzes lebende) Frauen von ihrem gesellschaftlichen Umfeld stigmatisiert. Sie werden häufig eines unmoralischen Verhaltens bezichtigt, oft wird ihnen sexuelle Freizügigkeit unterstellt, so dass sie als "sexuelle Beute" betrachtet werden. Wörtlich führt das Gutachten aus (S. 10 – 12, 14 und 20):

"Geschiedene Frauen werden für das Scheitern ihrer Ehe verantwortlich gemacht. Eine Scheidung wird immer noch als schändlich betrachtet. Auch Witwen werden stark stigmatisiert, häufig für den Tod ihrer Ehemänner schuldig erklärt und von der Familie des Ehemannes und auch von der eigenen Familie verstoßen. Aufgrund der Stigmatisierung geschiedener und verwitweter Frauen ist eine erneute Heirat meistens ausgeschlossen. Die fehlende Akzeptanz der indischen Gesellschaft gegenüber alleinstehenden Frauen ist in ganz Indien verbreitet und findet sich sowohl in ländlichen als auch urbanen Gegenden sowie in unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. ... Alleinstehende Frauen erhalten in der Regel von Seiten des Staates keine finanzielle Unterstützung. ... So stellt aufgrund fehlender Sozialleistungen vom Staat die eigene Familie für alleinstehende Frauen, vorausgesetzt, dass die Frauen nicht von ihrer Familie verstoßen werden, die einzige soziale sowie finanzielle Unterstützung dar. ... Die Wohnsituation alleinstehender Frauen ohne sowie mit niedrigen Einkommen ist besonders kritisch. Häufig lehnen es Vermieter ab, ihre Wohnungen an alleinstehende Frauen zu vermieten. ... Die Vorurteile gegenüber alleinstehenden Frauen und ihre soziale Stigmatisierung tragen maßgeblich dazu bei, dass alleinstehende Frauen einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, Opfer sexueller Gewalt und Ausbeutung zu werden, insbesondere wenn Schutzmechanismen, wie die eigene Familie, fehlen."

Ein Polizeischutz ist nach dem Gutachten von Terre des Femmes (S. 20) nicht realistisch zu erlangen, da die Opfer dieser Gewalt, die sich an die Polizei wenden, als alleinstehende Frauen einem höheren Risiko

ausgesetzt sind, wiederum Opfer sexueller Gewalt durch Polizeibeamte zu werden.

Nach dem bisherigen Vortrag der Antragstellerin liegt eine solche erhebliche Gefährdungssituation vor, so dass die aufschiebende Wirkung der Klage bis zur mündlichen Verhandlung, in der weitere Sachaufklärung zu erfolgen hat, anzuordnen war. [...]