OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.02.2017 - 14 A 2316/16.A - asyl.net: M24789
https://www.asyl.net/rsdb/M24789
Leitsatz:

Keine Flüchtlingseigenschaft für Schutzsuchenden aus Syrien:

1. Das OVG NRW ändert seine Auffassung: Nach Syrien zurückkehrenden Asylsuchenden droht keine Rückkehrbefragung mehr, die unter Anwendung von Folter erfolgt, um mögliche Kenntnisse über sie Exilszene auszuforschen.

2. Asylsuchende aus Syrien haben einen "Anspruch auf subsidiären Schutz" wegen ernsthafter individueller Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).

3. Nach Syrien zurückkehrenden Asylsuchenden droht keine Verfolgung aus politischen Gründen wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt im westlichen Ausland.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Asylantrag, Auslandsaufenthalt, subsidiärer Schutz, illegale Ausreise, unerlaubte Ausreise, Folter, Flüchtlingseigenschaft, Vernehmung, Rückkehrbefragung, ernsthafte individuelle Bedrohung, ernsthafter Schaden, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 5, AsylG § 28, AsylG § 28 Abs. 1a
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht kein Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 1 AsylG zu. [...]

Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung kann nicht festgestellt werden. In Betracht kommt alleine eine Verfolgung durch den syrischen Staat, da eine - hypothetische - Abschiebung alleine über eine Flugverbindung denkbar ist. Insoweit kommt hier ernsthaft nur Damaskus in Betracht (vgl. Auswärtiges Amts, Stellungnahme vom 12.10.2016 gegenüber dem Verwaltungsgericht Trier, Az. 313-516.00 SYR, zu den beiden allein geöffneten Flughäfen Damaskus und dem im Kurdengebiet gelegenen Qamishly).

Der erkennende Senat hat am 14.2.2012 die seinerzeit vorhandenen Erkenntnismittel dahingehend gewürdigt, dass nicht nur politisch Verdächtigen, sondern allen rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Vernehmung unter Anwendung der Folter zu möglichen Kenntnissen von Aktivitäten der Exilszene droht (OVG NRW, Urteil vom 14.2.2012 - 14 A 2708/10.A -, NRWE, Rn. 38, 43). [...]

Unter den heutigen Bedingungen kann die genannte Gefahr von Verfolgungshandlungen für jeden rückkehrenden Asylbewerber nicht mehr festgestellt werden. Heute stellt sich nicht mehr die Frage, ob der Bürgerkrieg (auch) von außen gesteuert wird, denn dies steht fest und ist zwischenzeitlich Gegenstand internationaler Verhandlungen (vgl. zu Iran und Russland als Intervenienten auf syrischer Seite, zu den von Saudi-Arabien, Katar und der Türkei sowie beschränkt den USA auf der Oppositionsseite unterstützen Gruppen und zu den Genfer Friedensgesprächen des Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen sowie dem Oppositionsgipfel in Saudi-Arabien Gerlach, Was in Syrien geschieht, in: Bundeszentrale für politische Bildung, Aus Politik und Zeitgeschichte 8/2016, S. 7 f.; zur neuesten Entwicklung der von Russland, Iran und der Türkei in Kasachstan betriebenen Gespräche zwischen den Oppositionsgruppen und dem syrischen Staat vgl. FAZ vom 24.1.2017, S. 2). [...]

Angesichts dessen kann ein überragendes Interesse des syrischen Staates an der Aufklärung für jedermann erkennbarer Exilaktivitäten durch rücksichtslose Abschöpfung jedes rückkehrenden Asylbewerbers nicht mehr unterstellt werden (so auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -. juris, Rn. 78). [...]

Vielmehr dürfte sich das Interesse nunmehr auf die Aufklärung interner Willensbildungsvorgänge und Aktivitäten konzentrieren, die nicht Gegenstand von Kenntnissen jedwedes Asylbewerbers sind. Daher ist die Gegnerausforschung im Ausland auch nach wie vor das Hauptbetätigungsfeld syrischer Nachrichtendienstoperationen im Bundesgebiet (vgl. dazu Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263 f.), ohne dass daraus Erkenntnisse für Verfolgungshandlungen gegen jeden rückkehrenden Asylbewerber gewonnen werden könnten. Dem Auswärtigen Amt liegen noch nicht einmal Erkenntnisse darüber vor, dass unverfolgt ausgereiste Asylbewerber nach Rückkehr überhaupt systematisch befragt werden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 7.11.2016 an das Schleswig-Holsteinische OVG, Az. 508-9-516.80/48931; speziell Erkenntnisse zur Gefährdung als mögliche Informationsquelle zur Exilszene verneinend Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2.1.2017 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf, Az. 508-9-516.80/48840, zu Frage 1 a) bb) bbb)).

Heute besteht daher keine beachtliche Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung wegen möglicher gewaltsamer Verhöre zu Kenntnissen über die Exilszene (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG), sondern eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Deshalb ist dem Kläger zu Recht subsidiärer Schutz zuerkannt worden (vgl. auch EGMR (I. Sektion), Urteil vom 15.10.2015 - 40081/14, 40088/14, 40127/14 (L.M. u.a. vs. Russland) - NVwZ, 2016, 1779, Rn. 119 ff., der die allgemeine Gewaltlage in Syrien als Gefahr für Leib und Leben einstuft).

Selbst wenn eine beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungshandlungen gegen jedweden rückkehrenden Asylbewerber unter dem Gesichtspunkt der Abschöpfung von Kenntnissen über die Exilszene bestünde, fehlte es an der nach § 3a Abs. 3 AsylG notwendigen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgründen. [...]

Es lagen und liegen keinerlei Erkenntnisse dafür vor, dass allein der Umstand, dass ein syrischer Asylbewerber infolge seines Auslandsaufenthalts Kenntnis von allgemein zugänglichen Aktivitäten der Exilszene hat, den syrischen Staat dazu veranlasst, solche Personen als politische Gegner einzustufen und sie mit Rücksicht darauf Verfolgungshandlungen zu unterziehen. [...]

Belastbare Gründe für eine solche Annahme nennt das Verwaltungsgericht nicht. Solche sind auch nicht erkennbar. Es gibt keinerlei Erkenntnisse, dass der syrische Staat jedem rückkehrenden Asylbewerber wegen seines Asylantrags und Aufenthaltes hier oder auch wegen illegalen Verlassens des Landes eine gegnerische politische Überzeugung zuschreibt. [...]

Dass nicht alle geflüchteten Rückkehrer vom syrischen Staat als Gegner eingeschätzt werden, ergibt sich aus der genannten Stellungnahme des Immigration and Refugee Board of Canada unter Nr. 1 Overwiew, wo unter Bezugnahme auf Berichte Dritter davon die Rede ist, dass Hunderttausende Flüchtlinge jedes Jahr nach Syrien einreisen, um dort persönliche Angelegenheiten zu regeln, bevor sie wieder in die Nachbarländer zurückreisen. [...]

Die zugrunde liegende Sachlage hat sich geändert. Angesichts des zwischenzeitlich eskalierten Bürgerkriegs mit der Folge eines Massenexodus kann jedenfalls heute ein Interesse des syrischen Staates nicht mehr darin gesehen werden, Personen zu bekämpfen, die einen Asylantrag gestellt haben, weil dies als Anzeichen von Widerstand ("sign of resistance") gewertet würde. Es hieße, dem syrischen Regime ohne greifbaren Anhalt Realitätsblindheit zu unterstellen, wenn angenommen wird, es könne nicht erkennen, dass die Masse der Flüchtlinge vor dem Bürgerkrieg flieht. Mag es bei einer überschaubaren Anzahl von Flüchtlingen noch nachvollziehbar sein, dass diese vom Regime durchweg als potentielle Gegner angesehen werden könnten, nicht mehr aber bei Millionen Flüchtlingen. Im Gegensatz zur damaligen Lage ist die Zahl derer, die Syrien verlassen haben, heute nicht mehr relativ gering (Gesamtzahl der Flüchtlinge aus Syrien weltweit Ende 2011: 19.900 (UNHCR Statistical Yearbook 2011, Annex Table 2, S. 67), Gesamtzahl der Flüchtlinge aus Syrien weltweit Ende 2012: 728.698 (UNHCR Statistical Yearbook 2012, Annex Table 2, S. 76); Gesamtzahl der Flüchtlinge aus Syrien weltweit Ende 2015: 4.850.792 (UNHCR Gobal Trends Forced Displacement in 2015, Annex Table 2, S. 65)). [...]

Diese in letzter Zeit zu konstatierende Massenflucht, die mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung betrifft (vgl. Auswärtiges Amt, Länderinformation Syrien (Stand: August 2016), www.auswaertigesamt. de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Syrien_node.html: nach Stand 2011 22 Mio. Einwohner), schließt es aus, dem syrischen Staat zu unterstellen, er sehe in jedem Asylbewerber einen politischen Gegner. Dass der syrische Staatspräsident selbst eine solche Ansicht nicht vertritt, ergibt sich explizit aus seinen öffentlichen Erklärungen. So äußerte er in einem Interview mit dem tschechischen Fernsehen die Auffassung, dass es sich bei der Mehrheit der Flüchtlinge um "gute Syrer" und Patrioten handele. Er bot sogar Angehörigen von Extremistengruppen, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hätten und ihre Waffen niederlegten, an, in ihr ziviles Leben zurückzukehren (n-tv vom 1.12.2015, Internet: www.ntv. de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html). [...]

Dabei kommt dem Umstand, dass ein Asylantrag - jedenfalls wenn mit ihm auch der Flüchtlingsstatus begehrt wird - notwendigerweise die Behauptung enthält, asylrechtlich relevant verfolgt zu werden (§ 13 Abs. 1 AsylG), keine Bedeutung zu. Jedermann und auch dem syrischen Regime ist bekannt, dass der Asylantrag der Weg ist, um bei Fehlen sonstiger ausländerrechtlicher Aufenthaltsberechtigungen einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erlangen, ohne dass dem Asylantragsteller wegen des Asylantrags eine bestimmte politische Haltung zugeschrieben werden könnte. [...]

Selbst der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, der in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf anhand von weitreichenden Risikoprofilen praktisch die gesamte syrische Bevölkerung als schutzbedürftig im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst, vertritt nicht die Auffassung, dass allein schon Asylantrag und Auslandsaufenthalt ein Risikoprofil erfüllen (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen. 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Rn. 36, 38). [...]

Die so zu treffende Risikobewertung deckt sich mit der Auskunft des Auswärtigen Amtes, das über keine Erkenntnisse dazu verfügt, wonach allein illegale Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt im Ausland Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 2.1.2017, Az. 508-9-516.80/).

Die in jüngerer Zeit mit dieser Frage befassten Obergerichte bewerten die Lage zutreffend ebenfalls dahin, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung für jedweden Asylbewerber, insbesondere alleine wegen illegalen Verlassens des Landes, Stellung eines Asylantrags und Aufenthalts im Ausland, nicht besteht (Schleswig-Holsteinisches OVG, Urteil vom 23.11.2016 - 3 LB 17/16 -, juris, Rn. 40 f.; Bayerischer VGH, Urteile vom 12.12.2016 - 21 B 16.30338 -, juris, Leitsatz und Rn. 30, - 21 B 16.30364 -, juris, Leitsatz und Rn. 32, - 21 B 16.30371 -, Leitsatz und Rn. 20; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -. juris, Rn. 45 ff.; OVG Saarland, Urteil vom 2.2.2017 - 2 A 515/16 -, juris, Leitsatz und Rn. 21). [...]

Soweit der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen in seinen Schutzbedarfserwägungen der Auffassung ist, Mitglieder religiöser Gruppen wie der Sunniten erfüllten ein Risikoprofil (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen. 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Rn. 38), folgt daraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit asylrechtlich relevanter Verfolgung durch den syrischen Staat. Der UNHCR erfasst mit seinem religiösen Risikoprofil (Sunniten, Alawiten, Ismailis, Zwölfer-Schiiten, Drusen, Christen, Jesiden) praktisch die gesamte Bevölkerung. Erkennbar ist dies allein darauf bezogen, dass einzelne religiös-fundamentalistische Rebellengruppen in ihrem Herrschaftsgebiet Angehörige bestimmter anderer Religionen verfolgen. Erkenntnisse darüber, dass der syrische Staat Sunniten, also die Anhänger der Mehrheitsreligion, verfolgt, gibt es nicht. Zwar gehört der Staatspräsident der Religionsgemeinschaft der Alawiten an, jedoch sind Sunniten sowohl im Regime als auch in den Streitkräften vertreten (Gerlach, Was in Syrien geschieht, in: Bundeszentrale für politische Bildung, Aus Politik und Zeitgeschichte 8/2016, S. 10, 13). [...]

Auch aus der Tatsache, dass der Kläger aus einer bis vor kurzem teilweise umkämpften Stadt stammt und Opfer der Bürgerkriegs geworden ist, lässt sich nichts Relevantes ableiten. Dieses Schicksal teilt er mit einer unüberschaubaren Zahl anderer Bürgerkriegsopfer, ohne dass Erkenntnisse für eine politische Verfolgung dieser Gruppe vorlägen oder es auch nur naheläge, dass der syrische Staat diese als politische Gegner verfolgte. Es mag zwar vorkommen, dass die Konfliktparteien Personen aus Regionen, aus denen sich Gegner rekrutieren, eine entsprechende politische Meinung zuschreiben (vgl. dazu UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen. 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Rn. 17). [...]

Für Aleppo liegen jedoch insoweit keine Erkenntnisse vor. Das wäre auch überraschend, da es sich um eine bis vor kurzem umkämpfte und jeweils teilweise von beiden Konfliktparteien gehaltene Stadt handelte (der Westen durch die Regierungsseite, der Osten durch die Aufständischen). [...]