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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 02.03.2017 - V ZB 122/15 - asyl.net: M24914
https://www.asyl.net/rsdb/M24914
Leitsatz:

a) Für die Entscheidung über die Verlängerung von Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft ist das Gericht am Haftort nach § 416 Satz 2, § 425 Abs. 3 FamFG originär zuständig, ohne dass es einer Abgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bedarf.

b) Die Vorschrift des § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt nur für Entscheidungen nach §§ 424, 426 FamFG.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, örtliche Zuständigkeit, Haftverlängerungsantrag, rechtliches Gehör,
Normen: FamFG § 425 Abs. 3, AufenthG § 106 Abs. 2
Auszüge:

[...]

aa) Die Frage, welches Gericht für die Verlängerung von Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft zuständig ist, wenn die ursprünglich angeordnete Haft in dem Bezirk eines anderen Amtsgerichts vollzogen wird, ist allerdings umstritten. In Rechtsprechung und Literatur wird wohl überwiegend die Ansicht vertreten, in einem solchen Fall bleibe das ursprünglich angerufene Amtsgericht gemäß § 2 Abs. 2 FamFG weiterhin zuständig. Die Zuständigkeit für die Verlängerung könne auf das Gericht am Haftort nur auf Grund eines förmlichen Abgabebeschlusses gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG übergehen (OLG Köln, FGPrax 2010, 318, 319; Bahrenfuss/Grotkopp, FamFG, 3. Aufl., § 425 Rn. 14; Bergmann/Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 106 AufenthG Rn. 4; Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 11. Aufl., § 425 Rn. 20; Keidel/Budde, FamFG, 19. Aufl., § 425 Rn. 12; wohl auch Kluth/Heusch/Brinktrine, Ausländerrecht, § 106 AufenthG Rn. 8 und NK-AuslR/Stahmann, 2. Aufl., § 106 AufenthG Rn. 10 f.). Nach anderer Auffassung hat sich die Rechtslage mit dem Inkrafttreten des FGG-Reformgesetzes am 1. September 2009 in diesem Punkt grundlegend verändert. Das Gericht am Haftort sei seitdem nach § 425 Abs. 3, § 416 Satz 2 FamFG originär für die Verlängerung von Abschiebungs- (und Rücküberstellungs-) Haft zuständig, ohne dass es einer Abgabeentscheidung gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bedürfte (LG Frankfurt [Oder], Beschluss vom 13. März 2014 - 15 T 35/14, juris Rn. 14; Bork/Jacoby/Schwab/Heinze, FamFG, 2. Aufl., § 416 Rn. 6 aE; MüKoFamFG/Wendtland, 2. Aufl., § 416 Rn. 8; wohl auch Prütting/Helms/Jenissen, FamFG, 3. Aufl., § 425 Rn. 17 und § 416 Rn. 3 unklar allerdings das Verhältnis zu den Ausführungen in ibid. Rn. 4).

bb) Die zweite Auffassung ist richtig. § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt nach der Einführung von § 425 Abs. 3, § 416 Satz 2 FamFG nur noch für die Entscheidung über die Aussetzung oder Aufhebung der angeordneten Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft nach §§ 424 oder 426 FamFG, aber nicht mehr für die Verlängerung der Haft.

(1) Die Regelung in dem heutigen § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geht auf die wortgleiche Regelung in § 103 Abs. 2 Satz 2 des durch das Aufenthaltsgesetz abgelösten früheren Ausländergesetzes zurück. Diese Vorschrift ist mit dem Gesetz vom 30. Juni 1993 (BGBl. I S. 1062) in das damalige Ausländergesetz eingefügt worden, um zu einer Vereinfachung des gerichtlichen Verfahrens vor allem bei der Behandlung von Anträgen auf Verlängerung einer Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft beizutragen (Beschlussempfehlung zu dem genannten Gesetz in BT-Drucks. 12/4984 S. 37). Das gerichtliche Verfahren in Abschiebungshaftsachen bestimmte sich damals nach dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (FEVG). Nach § 12 FEVG galten zwar für Anträge auf Verlängerung einer angeordneten Abschiebungs- oder Rücküberstellungshaft zum großen Teil die Vorschriften über den Erstantrag. Ausgenommen hiervon war aber unter anderem § 4 FEVG über die örtliche Zuständigkeit. Folge dessen war, dass das zunächst mit der Anordnung von Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft befasste Gericht auch dann für Verlängerungsanträge zuständig blieb, wenn die angeordnete Haft in einer unter Umständen weit entfernt liegenden - Sicherungseinrichtung vollzogen wurde. Dem Gesetzgeber erschien es deshalb zweckmäßig, für die Entscheidung über die Fortdauer von Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft die in dem Gesetz über das Verfahren bei Freiheitsentziehungen nicht vorgesehene Abgabemöglichkeit zu schaffen. Die Regelung wurde bei der Ablösung des Ausländergesetzes durch das Aufenthaltsgesetz unverändert übernommen (Entwurfsbegründung in BT-Drucks. 15/420 S. 101).

(2) Mit dem Inkrafttreten des FGG-Reformgesetzes am 1. September 2009 hat sich die Rechtslage allerdings in einem für die Frage der örtlichen Zuständigkeit für Verlängerungsanträge entscheidenden Aspekt verändert. Vordergründig ist mit Art. 19 des FGG-Reformgesetzes zwar nur die Verweisung auf das Gesetz über das Verfahren in Freiheitsentziehungssachen in dem bisherigen § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG durch eine Verweisung auf Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ersetzt worden, weshalb die Entwurfsbegründung insofern auch von einer redaktionellen Folgeänderung spricht (BT-Drucks. 16/6308 S. 317). Die Änderung der Verweisung führt aber gerade bei der hier interessierenden Frage nach der Zuständigkeit für die Entscheidung über Anträge auf Verlängerung einer angeordneten Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft zu einer praktisch wichtigen inhaltlichen Änderung. Für solche Anträge gelten nämlich nach § 425 Abs. 3 FamFG die Vorschriften über den Erstantrag, jedoch in bewusster Abweichung von dem früheren § 12 FEVG nicht mit Einschränkungen, insbesondere bei der örtlichen Zuständigkeit, sondern uneingeschränkt (Begründung des FGG-Reformgesetzes in BT-Drucks. 16/6308 S. 293). Das hat zur Folge, dass für den Verlängerungsantrag jetzt auch - bewusst anders als früher - die Regelungen über die örtliche Zuständigkeit anzuwenden sind. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich deshalb nicht mehr entsprechend § 2 Abs. 2 FamFG danach, welches Gericht für die Entscheidung über den Erstantrag zuständig war. Sie wird vielmehr durch § 425 Abs. 3 FamFG, § 416 FamFG eigenständig bestimmt. Nach § 416 FamFG kommt es für die Zuständigkeit über den Verlängerungsantrag entscheidend darauf an, ob die ursprünglich angeordnete Sicherungshaft in dem Bezirk des Gerichts vollzogen wird, das diese Haft angeordnet hatte oder in einem anderen. In dem zweiten Fall ist das Gericht am Haftort nach § 416 Satz 2 FamFG originär für die Entscheidung über den Verlängerungsantrag zuständig, ohne dass es wie früher einer förmlichen Abgabeentscheidung nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bedürfte.

(3) Die dargestellte Änderung konterkariert auch nicht den Vereinfachungseffekt, um den es dem Gesetzgeber 1993 bei der Einführung der Abgabemöglichkeit nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ging. Sie führt vielmehr dazu, dass die damals angestrebte Vereinfachung noch konsequenter verwirklicht wird. Der Gesetzgeber wollte damals erreichen, dass über den Verlängerungsantrag nach Möglichkeit das Gericht am Haftort entscheidet, weil dieses insbesondere die persönliche Anhörung des Betroffenen zu dem Verlängerungsantrag schneller und unkomplizierter würde durchführen können als das mit dem ursprünglichen Haftantrag befasste - unter Umständen weit entfernte - Gericht (BT-Drucks. 12/4984 S. 38). Zu diesem Ziel führt die generelle Änderung der Regelung über die örtliche Zuständigkeit für den Verlängerungsantrag nach heutiger Rechtslage einfacher und rechtlich sicherer als die Abgaberegelung in § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Danach setzt die an sich sachgerechte Befassung des Gerichts am Haftort mit dem Verlängerungsantrag eine vorherige Abgabeentscheidung des Erstgerichts voraus. Ob diesem dabei im Hinblick auf den gesetzlichen Richter überhaupt ein Ermessen eingeräumt werden darf, wie es in der Vorschrift vorgesehen ist, erscheint zweifelhaft (BVerfGK 15, 180, 185). Jedenfalls würde dieses Ermessen in aller Regel im Sinne einer Abgabe an das Gericht am Haftort ausgeübt werden müssen, weil das in aller Regel sachgerecht ist. Die Zuständigkeit dieses Gerichts entspricht nämlich der Regelzuständigkeit nach § 416 Satz 2 FamFG, die jetzt kraft Gesetzes für den Verlängerungsantrag gilt.

(4) Die Vorschrift des § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG verliert durch die Änderung der Zuständigkeitsregelung in § 425 Abs. 3 i.V.m. § 416 Satz 2 FamFG auch nicht vollständig ihre Bedeutung. Das Gericht, das die ursprüngliche Haftanordnung erlassen hat, bleibt nämlich für die Entscheidung über die Aussetzung oder Aufhebung dieser Haft gemäß §§ 424 oder 426 FamFG zuständig, weil § 425 Abs. 3 FamFG eine gesonderte Zuständigkeitsregelung nur für die Verlängerung, nicht aber schlechthin für die Fortdauer der Haft bestimmt. Für die Entscheidungen über die Aussetzung oder Aufhebung der ursprünglich angeordneten Haft bleibt deshalb das Gericht, das diese Haft angeordnet hat, gemäß § 416 Satz 1, § 2 Abs. 2 FamFG zuständig. Es wird aber in aller Regel zweckmäßiger sein, wenn auch diese Entscheidungen nicht durch das für den Erstantrag zuständige Gericht, sondern durch das Gericht am Haftort getroffen werden. Ohne die Regelung in § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG könnte eine Abgabe an dieses Gericht nur unter den Voraussetzungen der - auch auf die Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft anwendbaren - Regelung in § 4 FamFG erreicht werden. Eine Abgabe durch unanfechtbaren Beschluss nach Maßgabe von § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, der diese Fälle auch erfasst, ist aber regelmäßig der einfachere Weg. Für diese Fälle behält die Vorschrift ihren Sinn. Auf sie beschränkt sich ihr Anwendungsbereich.

(5) Die von dem Betroffenen zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGK 15, 180) steht dem nicht entgegen. Sie betrifft nämlich die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des FGG-Reformgesetzes. Seit dessen Inkrafttreten am 1. September 2009 bestimmt sich die Zuständigkeit für den Verlängerungsantrag aber unmittelbar nach § 425 Abs. 3, § 416 Satz 2 FamFG. An diese Vorschrift hat sich das Amtsgericht gehalten.

2. Entgegen der Auffassung des Betroffenen ist es auch nicht zu beanstanden, dass sowohl das Amtsgericht als auch das Beschwerdegericht den Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG angenommen haben. Auf diesen Haftgrund konnte die Anordnung von Abschiebungshaft, um die es hier geht, auch nach dem Ablauf der Frist zur Umsetzung von Art. 3 und 15 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) am 24. Dezember 2010 und vor der Einführung von § 2 Abs. 14 und 15 AufenthG am 1. August 2015 gestützt werden (Senat, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 10). [...]