VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 22.02.2017 - 1 K 21227/16 Me - asyl.net: M24931
https://www.asyl.net/rsdb/M24931
Leitsatz:

Änderung der Rechtsprechung:

Die Kammer geht nicht mehr davon aus, dass allein aufgrund der illegalen Ausreise und Asylantragstellung eine asylrelevante Verfolgung bei Rückkehr nach Syrien droht, da der syrische Staat diese Handlungen nicht als Ausdruck regeimefeindlicher Gesinnung auffasst. Daher droht Rückkehrenden keine Verfolgung wegen politischer Einstellungen.

(Leitsätze der Redaktion, zur bisherigen Rechtsprechung, vgl. VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me - asyl.net: M24163)

Schlagwörter: Syrien, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, Asylantrag, Auslandsaufenthalt, subsidiärer Schutz, illegale Ausreise, unerlaubte Ausreise, Folter, politische Verfolgung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 4, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

1. Davon ausgehend hat die Klägerin weder bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt noch bei ihrer informatorischen Befragung durch die Kammer in der mündlichen Verhandlung Umstände vorgetragen, die die Annahme rechtfertigten, sie habe ihre Heimat Syrien aus begründeter Furcht vor einer Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen. Das gilt zunächst für ihre Schilderung der wirtschaftlich und politisch sehr schlechten Situation in ihrer Heimat Syrien. Diese Umstände stellen kein besonderes, die Klägerin treffendes, individuelles Verfolgungsschicksal dar, sondern betreffen alle Syrer gleichermaßen. Sie rechtfertigen daher nicht die Zuerkennung des Flüchtlings-, sondern allein des subsidiären Schutzstatus. Dass die Klägerin wegen der behaupteten Tätigkeit des Bruders ihres Mannes als Mitarbeiter einer Behörde des Assad-Regimes (individuell) verfolgt worden wäre, hat sie bereits nicht vorgetragen.

2. Die Klägerin kann sich ebenso wenig mit Erfolg darauf berufen, ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergebe sich aus ihrer Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruht, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen hat. Ein solcher Nachfluchtgrund besteht nicht schon allein deswegen, weil die Klägerin illegal aus Syrien ausgereist ist, in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat und sich seit dem hier aufhält.

Die Kammer hält an ihrer bisherigen Rechtsauffassung (VG Meiningen, Urte. v. 27.03.2014 - 1 K 20092/12 Me und 1 K 20005/13 Me -, juris; U. v. 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, juris) der syrische Staat fasse die illegale Ausreise aus Syrien, die Beantragung von Asyl in Deutschland und den Aufenthalt hier, als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung auf, weshalb zurückkehrende syrische Flüchtlinge mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen hätten, wegen einer ihnen deswegen unterstellten politischen Einstellung mit Verfolgungshandlungen überzogen zu werden, nicht mehr fest. [...]

2.2.2. Obwohl diese Erkenntnisse zwar den Schluss zulassen, dass die Machthaber in Syrien zur Erhaltung ihrer Herrschaft mit äußerster Härte gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist die Kammer aufgrund einer neuen Prognose unter Einbeziehung bisher nicht vorliegender Erkenntnisse nicht - mehr - davon überzeugt, dass allein die illegale Ausreise aus Syrien, der Asylantrag und Aufenthalt in Deutschland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und Flüchtlinge aus Syrien bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssen, wegen einer ihnen schon deswegen unterstellten politischen Einstellung als Oppositionelle betrachtet und mit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG überzogen zu werden (vgl. hierzu auch: OVG NRW, B.v. 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, juris; OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris, mit einem allerdings anderen rechtlichen Ansatz; BayVGH, U. v. 12.12.2016, a.a.O.; OVG Schleswig-Holstein, U.v. 23.11.2016 - 3 LB 17.16 -, juris; a.A. OVG Sachsen-Anhalt, U.v. 18.07.2012 - 3 L 147.12 -, juris).

2.2.2.1. Dabei geht die Kammer (nachwievor) auf der Grundlage der ihr vorliegenden Erkenntnisse davon aus, dass nach Syrien zurückkehrende abgelehnte Asylbewerber bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle aufgrund der dort herrschenden strengen Einreisekontrollen durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt werden (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsausschuss von Kanada, "Antworten auf Informationsanfragen" vom 19.01.2016, a.a.O.). Das Sicherheitspersonal wird aus Anlass der Einreise auch eine Recherche in den ihm zur Verfügung stehenden Computerdatenbanken durchführen, um zu überprüfen, ob der zurückkehrende Flüchtling von den syrischen Behörden gesucht wird. Den Sicherheitskräften in den Flughäfen stehen dabei insbesondere Listen gesuchter Personen - wie etwa Mitglieder und Sympathisanten bewaffneter regimefeindlicher Gruppierungen, Kriminelle, politisch Verfolgte und Wehrdienstverweigerer - zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Auskunft zur Ausreisekontrolle vom 12.10.2016 an das Verwaltungsgericht Trier). Weiterhin kann in diesem Zusammenhang davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitskräfte eine "carte blanche" haben, um zu tun, was immer sie tun wollen, wenn sie jemanden aus irgendeinem Grund verdächtigen, sie also wegen ihres Verhaltens und Handelns keine, wie auch immer geartete, Verfolgung von Seiten staatlicher Behörden zu befürchten haben (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsausschuss von Kanada, "Antworten auf Informationsanfragen" vom 19.01.2016, a.a.O.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf).

2.2.2.2. Über die Konsequenzen, die ein abgelehnter Asylbewerber aus Anlass einer solchen Einreisekontrolle zu gegenwärtigen hat, geben die der Kammer vorliegenden Erkenntnisse kein einheitliches Bild wieder. [...]

2.2.2.3. Die Kammer gelangt - ausgehend von dem vorstehenden Überblick - im Rahmen der durchzuführenden zusammenfassenden Bewertung aller Aspekte zu dem Ergebnis, dass die gegen eine Verfolgung von nach Syrien zurückkehrender Flüchtlinge sprechenden Umstände gewichtiger sind und daher die für eine Verfolgung sprechenden überwiegen. Nach der Summe der Erkenntnisse geht die Kammer nicht - mehr - davon aus, dass für jeden nach Syrien zurückkehrenden Flüchtling gleichermaßen die Gefahr besteht von Misshandlung und Folter betroffen zu werden. Vielmehr ist sie davon überzeugt, dass den Rückkehrern im Falle ihrer Einreise über solche, von der syrischen Regierung kontrollierte Einreisepunkte, zwar intensive Befragungen drohen, hinsichtlich der daran anknüpfenden Folgen indes von den Behörden differenziert wird. Die syrischen Sicherheitskräfte werden bei diesen Kontrollen nicht ohne Ansehen der Person zurückkehrende erfolglose Asylbewerber pauschal alle gleich behandeln. Vielmehr werden sie ihr Augenmerk auf solche Personen richten, die aus ihrer Sicht eine ernstzunehmende Bedrohung für die Politik des Assad-Regimes sowie die innere Sicherheit des Landes darstellen (können), so dass erst zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmale oder Umstände (Risikofaktoren) die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung begründen. [...]

Dazu, dass Verfolgungsmaßnahmen syrischer Sicherheitskräfte nicht allein durch die oben genannten Umstände, sondern erst durch hinzutretende Faktoren ausgelöst wurden hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinen Entscheidungen vom 12.12.2016 (a.a.O.) ausgeführt: [...]

Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer an. Sie verdeutlichen - jedenfalls bezogen auf den Zeitpunkt des Urteils des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt -, dass für die geschilderten Maßnahmen syrischer Sicherheitskräfte stets weitere Umstände - Risikofaktoren - ausschlaggebend waren.

Dafür, dass nicht - grundsätzlich - alle zurückkehrenden Flüchtlinge von syrischen Sicherheitskräften ausgesondert und festgehalten werden, spricht auch der Fall von 35 Palästinensern, auf die HRW in einem Bericht vom November 2013 hinweist (vgl. die von dem Einwanderungs- und Flüchtlingsausschuss von Kanada durchgeführte Befragung, "Antworten auf Informationsanfragen vom 19.01.2016", a.a.O., S. 6). Demzufolge soll diese Gruppe von Syrien nach Ägypten geflohen und von dort wieder zurückgeschickt worden sein. Nach dem UNHCR wären "einige" bei ihrer Ankunft festgenommen worden.

Weiterhin berichtet der Einwanderungs- und Flüchtlingsausschuss von Kanada (Bericht vom 19.01.2016, a.a.O., S. 6) unter Bezugnahme auf ein Interview des Nachrichtensenders ABC aus dem Jahr 2015, von einem Syrer, der 2013 in Australien zunächst um Asyl nachgesucht hatte, dann aber im August 2015 nach Syrien zurückkehrte. Der Quelle zu Folge hätten ihn die Regierungsbeamten "ausgesondert", als er in Damaskus landete, weil er aus Al-Harra in der Provinz Daraa stammte, in welcher der Krieg angefangen und ihn daher seine Herkunft als "Dissidenten" gekennzeichnet habe. Syrische Beamte hätten ihm vorgeworfen, ein "Finanzier der Revolution" zu sein, als sie Bargeld bei ihm gefunden hätten, das ihm von der australischen Regierung für seine Rückkehr gegeben worden sei. Sie hätten ihn 20 Tage lang u. a. mit Schlägen ins Gesicht, auf den Rücken und die Brust "gefoltert".

2.2.2.3.2. Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen aktuell nicht die Prognose, der syrische Staat werde das aus den vorstehenden Ausführungen zu folgernde Verhalten gegenüber zurückkehrenden abgelehnten Asylbewerbern ändern und diese ohne Hinzutreten von Risikofaktoren in einer die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus rechtfertigenden Weise verfolgen. [...]

Weiterhin spricht gegen die Annahme einer allgemeinen Verfolgung zurückkehrender abgelehnter Asylbewerber, dass in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Flüchtlingen wiederholt aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt ist, ohne dass es Anhaltspunkte dafür gäbe, dass sie allgemein Repressalien syrischer Sicherheitskräfte ausgesetzt gewesen wäre. [...]

Diese Vielzahl an Ein- und Ausreisen von und nach Syrien veranschaulicht, dass syrische Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten Syriens, auch angesichts der allgemein strengen Einreisekontrollen an den Grenzübergängen, offenbar nicht befürchten, einer - besonderen - Gefährdung durch die syrischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt zu sein. Die Annahme, zurückkehrende Asylbewerber aus dem westlichen Ausland würden - im Gegensatz zu diesen - ausnahmslos allein deswegen als Regimegegner eingestuft, weil ihre Ausreise, die Asylantragstellung und ihr Aufenthalt dort als oppositionelle, regierungsfeindliche Handlung angesehen würde, stellt - vor allem angesichts der großen Zahl syrischer Flüchtlinge im westlichen Ausland - eine bloße Vermutung dar (BayVGH, U. v. 12.12.2016, a.a.O.). [...]

Als Ergebnis der zu treffenden Prognoseentscheidung gelangt die Kammer nach den vorstehenden Ausführungen zu der Einschätzung, dass eine besondere Gefährdung nach Syrien zurückkehrender abgelehnter Asylbewerber schon allein wegen deren (illegaler) Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt in Deutschland derzeit nicht beachtlich wahrscheinlich ist. [...]