VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 14.03.2017 - A 11 K 7407/16 - asyl.net: M24983
https://www.asyl.net/rsdb/M24983
Leitsatz:

1. Wird ein Asylfolgeantrag auf eine Konversion gestützt, so kommt es für die Einhaltung der Drei-Monats- Frist des § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG auf die förmliche Aufnahme (Taufe) als der nach außen erkennbaren Manifes­tation der Konversion an.

2. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK schützt lediglich das religiöse Existenzminimum.

3. Für eine sichere Diagnose der posttraumatische Belastungsstörung ist eine umfangreiche klinische Erfahrung einschließlich spezieller Kenntnisse in Psychotraumatologie erforderlich. Diese klinische Erfahrung dürfte bei Psychologischen Psychotherapeuten nicht vorliegen.

4. Der Stellungnahme eines Therapeuten des Ausländers fehlt regelmäßig die für eine Begutachtung notwendige Distanz zum Patienten.

5. Für die Diagnose einer posttraumatische Belastungsstörung ist der Nachweis eines traumatischen Ereignisses Voraussetzung.

6. Die Feststellung eines behaupteten traumatisierenden Ereignisses ist Gegenstand der gerichtlichen Sach­verhaltswürdigung und unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung.

7. Sind die Schilderungen des Ausländers zu den behaupteten traumatisierenden Ereignissen als unglaubhaft anzusehen, so entfällt die Grundlage für die attestierte posttraumatische Belastungsstörung.

8. Erfüllen vorgelegte ärztliche oder psychologische Stellungnahmen nicht die Mindestanforderungen, denen ein Attest genügen muss, sind sie nicht geeignet, eine gerichtliche Beweiserhebung zu veranlassen und erst recht nicht, das Bestehen der Erkrankung sowie daraus resultierende Folgen zu belegen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Iran, Konversion, Taufe, Konvertiten, Asylfolgeantrag, Drei-Monats-Frist, Posttraumatische Belastungsstörung, Diagnose, Psychologische Psychotherapeuten, Attest, Trauma, Glaubhaftmachung, religiöses Existenzminimum, Sachverständigengutachten, Facharzt, Therapeut, Stellungnahme,
Normen: AsylG § 71, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 9, VwVfG § 51 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

[...]

Bei einer Konversion handelt es sich im Regelfall um einen sich prozesshaft entwickelnden Sachverhalt. In diesem Fall ist maßgeblich auf die förmliche Aufnahme als der nach außen erkennbaren Manifestation der Konversion abzustellen. Die Taufe des Klägers erfolgte am 28.07.2012. Ab diesem Zeitpunkt hatte der Kläger im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Er hätte ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag aber erst am 22.07.2014 gestellt worden. [...]

Ein Abschiebungsverbot besteht dann, wenn grundlegend anerkannte Menschenrechtsgarantien im Falle einer Abschiebung in ihrem Kern bedroht sind, ein äußerster menschenrechtlicher Mindeststandard muss unterschritten sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.05.2000 - 9 C 34/99 - BVerwGE 111, 223).

Dazu gehört auch ein unveräußerlicher Kern der Religionsfreiheit, der für die personale Würde und Entfaltung eines religiösen Menschen unverzichtbar ist. Demgemäß schützt § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK lediglich das religiöse Existenzminimum (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.05.2000 - 9 C 34/99 - BVerwGE 111, 223; Urt. v. 20.01.2004 - 1 C 9/03 - BVerwGE 120, 16 und Urt. v. 07.12.2004 - 1 C 14/04 - BVerwGE 122, 271; OVG Münster, Urt. v. 09.06.2011 - 13 A 947/10.A - DVBl 2011, 1166).

Das religiöse Existenzminimum umfasst den unverzichtbaren und unentziehbaren Kern der Privatsphäre des glaubenden Menschen und damit seine religiöse Überzeugung als solche und die Religionsausübung abseits der Öffentlichkeit und in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf. Ein Eingriff in dieses religiöse Existenzminimum ist etwa dann gegeben, wenn den Angehörigen einer religiösen Gruppe unter Androhung von Strafen an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit eine Verleugnung oder gar Preisgabe ihres Glaubens zugemutet wird oder sie daran gehindert werden, ihren eigenen Glauben, so wie sie ihn verstehen, im privaten Bereich und unter sich zu bekennen. Öffentlichkeitswirksame Betätigungen der Religionsausübung sind hingegen nicht geschützt, unabhängig davon, wie stark der Ausländer sich selbst hierzu innerlich verpflichtet fühlt (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.01.2004 - 1 C 9/03 - a.a.O.). [...]

Allein die Tatsache, dass der Kläger in Deutschland Asyl beantragt hat, löst noch keine staatlichen Repressionen nach einer Rückkehr in den Iran aus (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 08.12.2016). Denn den iranischen Sicherheitsbehörden ist bekannt, dass Asylbewerber aus dem Iran überwiegend aus anderen als politischen Gründen versuchen, in Deutschland einen dauernden Aufenthalt zu erreichen (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 15.04.2015 - A 2 S 1923/14). [...]

Die von Dr. F. und der Psychotherapeutin B. diagnostizierten mittelschwere bis schwere Depression, rezidivierende depressive Störung und schwere Episode begründen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Denn diese Krankheiten können im Iran behandelt werden und eventuell erforderliche Medikamente sind im Iran erhältlich (vgl. Deutsche Botschaft, Auskunft vom 09.06.2001 an VG Leipzig, vom 13.02.2003 an BAMF, vom 19.08.2004 an VG Hannover und vom 24.05.2005 an VG Regensburg; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 31.03.2005 und vom 26.07.2005 an BAMF). [...]

Soweit Dr. F. in ihrer ärztlichen Stellungnahme vom 08.11.2014 und die Psychologische Psychotherapeutin B. in ihrer psychologischen Stellungnahme vom 29.11.2016 zudem eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert haben, ist das Gericht nicht davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass diese Erkrankung beim Kläger vorliegt.

Fraglich ist bereits, ob die Psychologische Psychotherapeutin B. befähigt ist, eine posttraumatische Belastungsstörung zu diagnostizieren. Denn für eine sichere Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung ist eine umfangreiche klinische Erfahrung einschließlich spezieller Kenntnisse in Psychotraumatologie erforderlich (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. S. 748; Gierlichs, Deutsches Ärzteblatt 2002, 403). Zwar müssen Psychologische Psychotherapeuten auf der Grundlage eines abgeschlossenen Studiums der Psychologie, das das Fach Klinische Psychologie einschließt, die mindestens dreijährige Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten gemäß § 5 PsychThG abgeleistet und die entsprechende Approbation (§ 2 PsychThG) erhalten haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie hierdurch regelmäßig die erforderliche klinische Erfahrung vermittelt erhalten haben. Selbst wenn aber Psychologischen Psychotherapeuten zugestanden wird, eine posttraumatische Belastungsstörung zu diagnostizieren (so VGH München, Beschl. v. 28.07.2015 - 13a ZB 15.30073 - juris - und Beschl. v. 11.08.2016 - 20 ZB 16.30110 - NVwZ-RR 2017, 75; OVG Münster, Beschl. v. 19.12.2008 - 8 A 3053/08.A - InfAuslR 2009, 173; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.09.2016 - OVG 3 N 24.15 - juris -), so kann der psychologischen Stellungnahme der Psychotherapeutin B vom 29.11.2016 keine wesentliche Bedeutung zukommen, weil es sich um Äußerungen der Therapeutin des Klägers handelt. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung auf Frage des Gerichts vorgetragen, er sei seit über einem Jahr in einer Gesprächstherapie bei der Psychotherapeutin B. (Refugio Stuttgart). Ein Therapeut muss aber grundsätzlich von dem vom Patienten geklagten Leiden nebst der Vorgeschichte als wahr ausgehen und will diesem auftragsgemäß helfen, möglichst ihn heilen. Demgemäß fehlt ihm die für eine Begutachtung notwendige Distanz zum Patienten; er tritt diesem nicht mit der erforderlichen notwendigen kritischen Betrachtung gegenüber (vgl. OVG Münster, Urt. v. 20.09.2006 - 13 A 1740/05.A - juris - und Beschl. v. 10.01.2007 - 13 A 1138/04.A - juris -). Im Übrigen muss die psychologische Stellungnahme der Psychotherapeutin B vom 29.11.2016 im Hinblick auf die diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung wegen schwerer Qualitätsmängel außer Betracht bleiben.

Bei der PTBS handelt es sich um ein innerpsychisches Erlebnis, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht. Es kommt deshalb in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese, einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Betreffenden hinsichtlich des das Trauma auslösenden Ereignisses, einer alternativen Hypothesenbildung sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282 ff; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff). [...]

Angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes der PTBS sowie seiner vielfältigen Symptome muss ein fachärztliches Attest gewissen Mindestanforderungen genügen. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251 und Beschl. v. 26.07.2012 - 10 B 21/12 - juris -). Genügen vorgelegte ärztliche oder psychologische Stellungnahmen den dargelegten Anforderungen nicht, sind sie nicht geeignet, eine gerichtliche Beweiserhebung zu veranlassen und erst recht nicht, das Bestehen der Erkrankung sowie daraus resultierende Folgen zu belegen (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 18.11.2014 - A 3 S 264/14, n.v.). [...]