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VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 21.12.2016 - 17 A 3564/16 - asyl.net: M24986
https://www.asyl.net/rsdb/M24986
Leitsatz:

Begehrt der Kläger gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach Rücknahme seines Asylantrags nur noch die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 VwGO, so ist das Gericht im Falle der Untätigkeit des Bundesamts verpflichtet, durchzuentscheiden.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Durchentscheiden, Untätigkeitsklage, nationales Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Russische Föderation, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Zwar spricht viel dafür, dass Gerichte bei einer Untätigkeitsklage, die auf die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung internationalen Schutzes gerichtet ist, nicht durchentscheiden dürfen (so VG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 23.09.2016, A 1 K 2611/16, juris, Rn. 15; VG Aachen, Urt. v. 13.09.2016, 4 K 820/16.A, juris, Rn. 13; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 01.09.2016, 8a K 5354/15.A, juris, Rn. 29 ff.; VG Osnabrück, Urt. v.14.10.2015, 5 A 390/15, juris, Rn. 43 ff.; a.A. BayVGH, Beschl. v. 07.07.2016, 20 ZB 16.30003, juris, Rn. 12). Dies gilt nach Auffassung des erkennenden Gerichts jedoch nicht für Fälle, in denen lediglich noch das Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten zu prüfen ist. Die Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU), die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz durch die nationalen Behörden besondere Verfahrensvorschriften bereithält, ist auf die Prüfung von nationalen Abschiebungsverboten nicht anwendbar (vgl. Art. 1 der Richtlinie). Auch das deutsche Recht sieht keine besonderen Verfahrensvorschriften für das Bundesamt für die Prüfung von nationalen Abschiebungsverboten vor. Gegen ein Durchentscheiden lässt sich auch nicht die vom Gesetzgeber in § 72 Abs. 2 AufenthG vorausgesetzte besondere Sachkompetenz des Bundesamts für die Prüfung von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG anführen. Bereits der Umstand, dass die Ausländerbehörde das Bundesamt bei der Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote lediglich beteiligen muss, ohne aber an die Beurteilung durch das Bundesamt gebunden zu sein (vgl. BayVGH, Beschl. v. 27.04.2016, 10 CS 16.485, juris, Rn. 18), spricht dagegen, dass der Gesetzgeber der Sachkompetenz des Bundesamts eine so wesentliche Bedeutung beimisst, dass Gerichte - in den Grenzen des § 75 VwGO - nicht ohne eine vorherige Entscheidung des Bundesamts über das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote entscheiden dürfen (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 30.08.2012, 17 B 751/12, juris, Rn. 8, sowie VGH Baden-Württemberg, Urt. v.22.07.2009, 11 S 1622/07, juris, Rn. 65: Im Falle der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis kann sich der betroffene Ausländer nicht auf eine zu Unrecht unterbliebene Beteiligung des Bundesamts berufen). Schließlich wird durch ein Durchentscheiden auch nicht in unzulässiger Weise in das Entscheidungsprogramm des Bundesamts eingegriffen. Einen solchen unzulässigen Eingriff hat das erkennende Gericht zwar für den Fall eines Durchentscheidens im Falle eines vom Bundesamt zu Unrecht angenommen Zweitantrags nach § 71a AsylG angenommen (VG Hamburg, Urt. v. 10.08.2016, 17 A 3005/15, n.v.). Dies beruhte allerdings wesentlich auf dem Umstand, dass das Bundesamt sich für den Fall, dass es einen Asylantrag abzulehnen beabsichtigt, entscheiden muss, ob es den Asylantrag als "einfach" unbegründet oder aber nach § 30 AsylG als offensichtlich unbegründet ablehnt. Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag dabei nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 bis 6 AsylG als offensichtlich unbegründet ab, hat dies für den Asylantragsteller gravierende rechtliche Konsequenzen: Gemäß § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG darf ihm - vorbehaltlich der Ausnahmen in § 10 Abs. 3 S. 3 AufenthG und weiterer Bereichsausnahmen (vgl. §§ 25a Abs. 4, 25b Abs. 5 S. 2 AufenthG) - vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Das Gericht kann im Falle eines Durchentscheidens einen Asylantrag hingegen nicht als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 30 Abs. 3 Nr. 1 bis 6 AsylG abweisen und damit die Rechtsfolgen des § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG auslösen. Das Gericht könnte im Falle eines Durchentscheidens über einen Asylantrag mithin das vom Gesetzgeber vorgesehene Entscheidungsprogramm nicht einhalten. Diese Problematik stellt sich im Falle des Durchentscheidens über das Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbots jedoch nicht. Denn das Bundesamt stellt lediglich fest, ob ein Abschiebungsverbot vorliegt oder nicht (vgl. § 24 Abs. 2 AsylG); die Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot "offensichtlich" nicht vorliegt, sieht das Gesetz nicht vor.

bb) Für den Kläger liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. [...]